Sofia heiratet Wladimir, und der Zar wünscht der Tochter seines Generals Glück. Aber das junge Mädchen liebt ihren Mann nicht: Mariage blanc, einziges Mittel, um im Ausland studieren zu können. Denn ohne Ehemann keinen Paß, ohne Paß keine Reisemöglichkeit.Sofia Kowalewskaja ist jedoch nur eine aus einer ganzen Schar junger Frauen, die Rußland ab Mitte des 19. Jahrhunderts verlassen, sich an Schweizer Universitäten oder in Paris einschreiben, sich politisch engagieren und von den alten gesellschaftlichen Strukturen emanzipieren. Ihr Ziel ist die radikale Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse Rußlands. "Der Wunsch, über die russischen Frauen zu schreiben entstand während meiner Arbeit an dem Roman über Sabina Spielrein", sagt Bärbel Reetz. Präzise recherchiert hat Bärbel Reetz auch die Lebensgeschichten der Frauen, die sie als "Lenins Schwestern" an die Seite des Mannes stellt, dessen Name wie kein anderer mit dem Umsturz in Rußland verbunden ist. Es sind Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen, Abenteurerinnen wie Marianne von Werefkin, Sofia Kowalewskaja, Alexandra Kollontai und Isabelle Eberhardt, Revolutionärinnen wie Vera Figner und Raissa Adler, Psychoanalytikerinnen wie Mira Gincburg. Lenins Schwestern erzählt von Frauen im Aufbruch, die sich für die großen utopischen Entwürfe ihrer Zeit - Sozialismus, Marxismus und Psychoanalyse - leidenschaftlich engagierten, von ihrem Gelingen und Scheitern in Zeiten dramatischer gesellschaftlicher Umbrüche.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2008Alle Macht den Mädels
Er ist ein Zar, jagt ihn hier raus: Bärbel Reetz hat die Geschichten revolutionärer Russinnen zu einem Roman verknüpft. Besser wurde es unter Pascha Lenin nicht.
Dass jemand ein Nachschlagewerk in einen Roman verwandelt, kommt gewiss nicht oft vor. Schon deshalb nicht, weil es eine mühselige Aufgabe ist, unendlich viele Mitteilungen in einer Fabel unterzubringen. Die Schriftstellerin Bärbel Reetz hat es riskiert. Und prompt hat der Leser das Gefühl, im Strudel der Informationen zu versinken: Sehr überschaubar jedenfalls ist der Roman "Lenins Schwestern" nicht geraten.
Der Titel zielt nicht auf wirkliche Verwandte des Sowjetführers, sondern auf diverse Frauen, vornehmlich russischer Herkunft, die im neunzehnten und im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert Ähnliches anstrebten wie Lenin. Das heißt, Ähnliches wie das, was er verlautbarte, denn Lenins Hang zur Diktatur kann man wohl keiner der Damen unterstellen. Schon auf den ersten Seiten wittert der Geschichtskundige das Verhängnis, das auf die humanitären Absichten der Protagonistinnen wartet, sobald Lenins Sache gesiegt hat: Sie werden erstickt von einer weitaus schlimmeren Gesellschaftsform, als es jene war, gegen die Lenins Schwestern sich aufgelehnt hatten.
So kommt es nun auch im Buch. Im Jahre 1873, in dem die Handlung einsetzt, scheint noch alles übersichtlich: ein böser Zar, ein unterdrücktes Volk, das besser leben wird, wenn es den Zaren abgeschafft hat. In den folgenden beiden Teilen des Romans, die mit den Jahreszahlen 1894 und 1906 datiert sind, ist das Leben zwar kaum anders als zuvor, aber die Hoffnung groß. Dann, im Jahre 1918, gibt es keinen Zaren mehr, aber immer noch ein bisschen Hoffnung. Im Jahre 1927 gibt es dann auch keinen Lenin mehr, dafür einen Stalin, und an Hoffnung erinnert nichts mehr, wenn die beiden letzten Kapitel die Zustände von 1939 und 1944 schildern.
Manch einem mag die Autorin damit vor allem als gestrenge Geschichtslehrerin erscheinen, die ständig wiederholt, was braven Schülern längst bekannt ist. Und doch erzählt Bärbel Reetz in erster Linie Frauenschicksale, und das sehr anmutig und einfühlsam. Sie weiß über jede der vorgestellten Personen genau Bescheid. Die benutzten Lehrbücher und Aufzeichnungen sind im Anhang genannt. Das ist nicht nur für jene Leser vorteilhaft, die möglichst viel über die Personnage und deren historische Wirklichkeiten erfahren wollen. Es rettet auch den Durchschnittsleser, wenn er unter der Überfülle von Namen zusammenbricht.
Denn dieses Buch entwickelt nicht nur eine Fabel, sondern bietet deren sieben, die zwar im Hinblick auf Lenin in gewisser Weise zusammenhängen, aber im Einzelnen doch stark divergieren. Und bei vielen der Damen versagt wohl auch das Allgemeinwissen. Gewiss, von Alexandra Kollontai haben wir schon gehört; von der Prinzessin Sayn-Wittgenstein, verheiratete Gräfin Razumowsky; von Rosa Luxemburg natürlich, auch von Nadeshda Krupskaja und einigen anderen. Nicht zu vergessen die Psychoanalytikerin Sabina Spielrein, die schon in einem früheren Buch der Autorin, im Roman "Die russische Patientin", eine Hauptrolle spielte.
Aber es gibt noch weit mehr Handlungsträgerinnen. Und eine jede muss wichtig genommen werden, schon deshalb, weil so verschiedene Facetten - die geschichtliche, die politische, die wissenschaftliche - einer Vergangenheit symbolisiert werden, die auch die unsere ist. Denn Russland hin oder her: Die tapferen Rebellinnen in diesem Buch agieren vorwiegend in Westeuropa, vor allem in der Schweiz und in Deutschland.
Die Autorin zieht uns immer wieder anmutig plaudernd in diese Leben hinein. Das fördert die Bereitschaft, sie trotz großen Gedächtnisaufwands zu begleiten. Leider stellt sie diese Bereitschaft oft auf die Probe durch zahlreiche sprachliche Modesünden, durch Ausdrücke wie "nachvollziehen", "anmieten", "zögerlich". Man kann vielleicht darüber streiten, ob "erinnern" ohne reflexives "sich" nach dem Vorbild des englischen "remember" in unserer Sprache ein Daseinsrecht hat, ob "stattgefundene Ereignisse" erlaubt sind oder Satzkonstruktionen wie: "Sie haben ihn geöffnet, war Emil sicher." Aber die vielen Schwestern Lenins, allesamt hochgebildete Absolventinnen renommierter Universitäten Westeuropas, haben gewiss nicht so lasch geredet.
SABINE BRANDT
Bärbel Reetz: "Lenins Schwestern". Roman.
Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2008. 271 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er ist ein Zar, jagt ihn hier raus: Bärbel Reetz hat die Geschichten revolutionärer Russinnen zu einem Roman verknüpft. Besser wurde es unter Pascha Lenin nicht.
Dass jemand ein Nachschlagewerk in einen Roman verwandelt, kommt gewiss nicht oft vor. Schon deshalb nicht, weil es eine mühselige Aufgabe ist, unendlich viele Mitteilungen in einer Fabel unterzubringen. Die Schriftstellerin Bärbel Reetz hat es riskiert. Und prompt hat der Leser das Gefühl, im Strudel der Informationen zu versinken: Sehr überschaubar jedenfalls ist der Roman "Lenins Schwestern" nicht geraten.
Der Titel zielt nicht auf wirkliche Verwandte des Sowjetführers, sondern auf diverse Frauen, vornehmlich russischer Herkunft, die im neunzehnten und im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert Ähnliches anstrebten wie Lenin. Das heißt, Ähnliches wie das, was er verlautbarte, denn Lenins Hang zur Diktatur kann man wohl keiner der Damen unterstellen. Schon auf den ersten Seiten wittert der Geschichtskundige das Verhängnis, das auf die humanitären Absichten der Protagonistinnen wartet, sobald Lenins Sache gesiegt hat: Sie werden erstickt von einer weitaus schlimmeren Gesellschaftsform, als es jene war, gegen die Lenins Schwestern sich aufgelehnt hatten.
So kommt es nun auch im Buch. Im Jahre 1873, in dem die Handlung einsetzt, scheint noch alles übersichtlich: ein böser Zar, ein unterdrücktes Volk, das besser leben wird, wenn es den Zaren abgeschafft hat. In den folgenden beiden Teilen des Romans, die mit den Jahreszahlen 1894 und 1906 datiert sind, ist das Leben zwar kaum anders als zuvor, aber die Hoffnung groß. Dann, im Jahre 1918, gibt es keinen Zaren mehr, aber immer noch ein bisschen Hoffnung. Im Jahre 1927 gibt es dann auch keinen Lenin mehr, dafür einen Stalin, und an Hoffnung erinnert nichts mehr, wenn die beiden letzten Kapitel die Zustände von 1939 und 1944 schildern.
Manch einem mag die Autorin damit vor allem als gestrenge Geschichtslehrerin erscheinen, die ständig wiederholt, was braven Schülern längst bekannt ist. Und doch erzählt Bärbel Reetz in erster Linie Frauenschicksale, und das sehr anmutig und einfühlsam. Sie weiß über jede der vorgestellten Personen genau Bescheid. Die benutzten Lehrbücher und Aufzeichnungen sind im Anhang genannt. Das ist nicht nur für jene Leser vorteilhaft, die möglichst viel über die Personnage und deren historische Wirklichkeiten erfahren wollen. Es rettet auch den Durchschnittsleser, wenn er unter der Überfülle von Namen zusammenbricht.
Denn dieses Buch entwickelt nicht nur eine Fabel, sondern bietet deren sieben, die zwar im Hinblick auf Lenin in gewisser Weise zusammenhängen, aber im Einzelnen doch stark divergieren. Und bei vielen der Damen versagt wohl auch das Allgemeinwissen. Gewiss, von Alexandra Kollontai haben wir schon gehört; von der Prinzessin Sayn-Wittgenstein, verheiratete Gräfin Razumowsky; von Rosa Luxemburg natürlich, auch von Nadeshda Krupskaja und einigen anderen. Nicht zu vergessen die Psychoanalytikerin Sabina Spielrein, die schon in einem früheren Buch der Autorin, im Roman "Die russische Patientin", eine Hauptrolle spielte.
Aber es gibt noch weit mehr Handlungsträgerinnen. Und eine jede muss wichtig genommen werden, schon deshalb, weil so verschiedene Facetten - die geschichtliche, die politische, die wissenschaftliche - einer Vergangenheit symbolisiert werden, die auch die unsere ist. Denn Russland hin oder her: Die tapferen Rebellinnen in diesem Buch agieren vorwiegend in Westeuropa, vor allem in der Schweiz und in Deutschland.
Die Autorin zieht uns immer wieder anmutig plaudernd in diese Leben hinein. Das fördert die Bereitschaft, sie trotz großen Gedächtnisaufwands zu begleiten. Leider stellt sie diese Bereitschaft oft auf die Probe durch zahlreiche sprachliche Modesünden, durch Ausdrücke wie "nachvollziehen", "anmieten", "zögerlich". Man kann vielleicht darüber streiten, ob "erinnern" ohne reflexives "sich" nach dem Vorbild des englischen "remember" in unserer Sprache ein Daseinsrecht hat, ob "stattgefundene Ereignisse" erlaubt sind oder Satzkonstruktionen wie: "Sie haben ihn geöffnet, war Emil sicher." Aber die vielen Schwestern Lenins, allesamt hochgebildete Absolventinnen renommierter Universitäten Westeuropas, haben gewiss nicht so lasch geredet.
SABINE BRANDT
Bärbel Reetz: "Lenins Schwestern". Roman.
Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2008. 271 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Alle Achtung! Aus einem Nachschlagewerk einen Roman zu zaubern, das verdient immerhin Respekt, findet Sabine Brandt. Zumal Bärbel Reetz, wie die Rezensentin erklärt, ihre Sache "sehr anmutig" angeht. Dass sich das Buch nicht als Geschichtswerk, sondern als in mehreren Fabeln ausgebreitete Sammlung von Frauenschicksalen mit historischer Grundierung (und entsprechendem Anhang) erleben lässt, nimmt die Rezensentin mit Erleichterung zur Kenntnis. Der für die Lektüre noch immer nötige "Gedächtnisaufwand" scheint ihr der Sache wert, zumal es nicht bloß um Russland geht, um rebellische Frauen wie Rosa Luxemburg und die Gräfin Razumowsky, sondern um eine Vergangenheit, die "auch die unsere" ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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