In »Lenins Zug. Die Reise in die Revolution« erzählt die große britische Historikerin Catherine Merridale fulminant die Geschichte der berühmtesten Zugfahrt der Weltgeschichte, an deren Ende das Zarenreich unterging und die Sowjetunion entstand.
Als 1917 der Erste Weltkrieg endlos zu werden drohte, beschloss die deutsche Regierung, den Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin nach Russland zu schmuggeln - nicht ahnend, dass Lenins Fahrt im plombierten Waggon in die weltstürzende Oktoberrevolution münden würde. Spannend schildert sie eine Welt, die wir sonst nur aus Spionageromanen kennen: Agenten in teuren Hotels, Diplomaten auf glattem Parkett, debattierende Exil-Revolutionäre in verrauchten Cafés - und draußen auf den Straßen St. Petersburgs marschieren die streikenden Fabrikarbeiter. Sie sind es, die Lenin schließlich jubelnd in einem Meer roter Fahnen in St. Petersburg empfangen. Tag für Tag beschreibt Catherine Merridale den Sog der Ereignisse und die Träume und Taten der Menschen, die sie in Gang setzten oder von ihnen mitgerissen wurden. Eine grandiose Erzählung, die den Moment einfängt, als Lenin triumphierte - und eine neue, blutige Ära begann, die für Europa und die Welt bis heute nicht ganz vergangen ist.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Als 1917 der Erste Weltkrieg endlos zu werden drohte, beschloss die deutsche Regierung, den Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin nach Russland zu schmuggeln - nicht ahnend, dass Lenins Fahrt im plombierten Waggon in die weltstürzende Oktoberrevolution münden würde. Spannend schildert sie eine Welt, die wir sonst nur aus Spionageromanen kennen: Agenten in teuren Hotels, Diplomaten auf glattem Parkett, debattierende Exil-Revolutionäre in verrauchten Cafés - und draußen auf den Straßen St. Petersburgs marschieren die streikenden Fabrikarbeiter. Sie sind es, die Lenin schließlich jubelnd in einem Meer roter Fahnen in St. Petersburg empfangen. Tag für Tag beschreibt Catherine Merridale den Sog der Ereignisse und die Träume und Taten der Menschen, die sie in Gang setzten oder von ihnen mitgerissen wurden. Eine grandiose Erzählung, die den Moment einfängt, als Lenin triumphierte - und eine neue, blutige Ära begann, die für Europa und die Welt bis heute nicht ganz vergangen ist.
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Ein wichtiger Beitrag zur Klärung der historischen Ereignisse um die russische Revolution. Swen Neumann Lesart 20170701
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.04.2017Der Revolutionär fuhr zweiter Klasse
Wie war das mit der Lokomotive der Geschichte? Catherine Merridale beschreibt noch einmal Lenins Zugfahrt nach Russland vor hundert Jahren
Ein "einzigartiges Projektil" nannte Stefan Zweig in seinen "Sternstunden der Menschheit" den Zug, der am deutsch-schweizerischen Grenzort Gottmadingen auf Lenin und seine einunddreißig Mitreisenden wartete. Man schrieb den 9. April 1917. Eine Woche später trafen die Revolutionäre im berühmt gewordenen plombierten Waggon am Finnischen Bahnhof in Petrograd - so hieß St. Petersburg seit Kriegsbeginn 1914 - ein. Eine Blaskapelle, eine zu Tausenden zählende jubelnde Menge, viele rote Fahnen und die Vertreter der lokalen Bolschewiki erwarteten sie. Zur Begrüßung verkündete Lenin seine "Aprilthesen", die jeden Kompromiss mit den alten Mächten verwarfen und alles auf die Karte der radikalisierten Revolution setzten. Das Projektil begann in Russland die Ordnung der Zeit zu zersprengen.
Die vielleicht berühmteste Eisenbahnfahrt des zwanzigsten Jahrhunderts steht im Zentrum der Erzählung der britischen Historikerin Catherine Merridale. Gerüchte und Legenden ranken sich um sie. Wurde Lenin von den Deutschen bezahlt? War er ein deutscher Spion? Ein Schwarm undurchsichtiger Persönlichkeiten flatterte um die Lichtgestalt der Revolution. Die schillerndste: Alexander Parvus-Helphand, der Sozialist und zeitweise steinreiche Spekulant, der für sich in Anspruch nahm, die Deutschen überredet zu haben, den radikalsten Revolutionär unter den europäischen Sozialisten aus dem Schweizer Exil nach Russland zu befördern, um den deutschen Kriegsgegner zu destabilisieren. All das ist schon viele Male erzählt und erforscht worden. Merridale macht trotzdem eine spannende Geschichte daraus. Sie zeigt, wie in der Historie - mit ihrem ungenannten Vorbild Zweig gesprochen - "unermesslich viel Gleichgültiges und Alltägliches" geschieht und trotzdem am Ende die Welt kopfsteht.
Die Leser lesen erneut: der plombierte Waggon war nicht plombiert und der für die Revolutionäre bestimmte Waggonteil exterritoriales Gebiet. Unter den Exilsozialisten herrschte eine hierarchische Sitzordnung. Lenin und seine Frau Nadjeschda Krupskaja reisten zweiter Klasse (die erste gab es im Waggon nicht), die meisten anderen auf den harten Holzbänken der dritten. Die Reise ging weiter bis zur schwedisch-russischen Grenze am nördlichen Ende des Bottnischen Meerbusens.
Es ist schon erstaunlich, was alles so passierte im Kleinen, ohne das große Ganze auch nur im Entferntesten zu beschädigen. Da beschlagnahmten die verärgerten Schweizer Zöllner fast den gesamten Proviant für die lange Reise. Ungewaschen und hungrig durchquerten die Revolutionäre Deutschland. Den Sowjetbürgern sollte es später auf ihrer Reise zum Sozialismus nicht besser ergehen, aber das schreibt Merridale nicht. Weil sich der revolutionäre Dauerdenker und -diskutierer von den plappernden Wartenden vor der Zugtoilette gestört fühlte, gab er Passierscheine aus, getrennt nach Rauchern und dringlicherer Bedürftigkeit. Kamen hier der bürokratische Sozialismus und der bolschewistische Kontrollzwang bis hin zur Physiologie zum ersten Höhepunkt?
Die Autorin verwebt in ihrer collageartig komponierten Erzählung die Reise mit den Überlegungen und Aktionen der Großmächte. Während auf deutscher Seite die Idee mit dem Revolutionstransport Gestalt annahm, wussten die Briten und Franzosen sehr wohl Bescheid, was da im Gange war, schließlich wimmelte es in der Schweiz von Spionen. In Petrograd saßen ihre vorzüglich informierten Botschafter Sir George William Buchanan und besonders der hellhörige Maurice Paléologue. Ihre Regierungen hatten keinerlei Interesse daran, den russischen Alliierten geschwächt zu sehen oder ihn gar zu verlieren. Merridale beschreibt auch die unfassbare Unfähigkeit der letzten zarischen Regierung, die miserable Versorgungslage in den Städten und die trübe Stimmung in der Armee. Schließlich wusste auch die Provisorische Regierung, die nach der Abdankung des Zaren die Geschäfte führte, über die Anreise des gefährlichen Gegners Bescheid. Nicht auszudenken, was alles nicht passiert wäre, hätte ein Minister Lenin verhaften lassen oder ein britischer Agent ihn aus dem Weg geräumt.
Merridales wahrer Held ist Lenin. Seinem revolutionären Genie konnte nichts widerstehen, kein Hunger, kein Zöllner, kein bourgeoiser Minister, keine irrende und intrigante Regierung. Deutsches Geld kam ihm zugute, aber käuflich war er nicht, auch kein deutscher Spion, wenngleich seine Gegner nicht müde wurden, es zu behaupten. Merridale beschönigt auch nichts an Lenins blutiger Karriere nach dem Oktober 1917. Viele seiner Mitreisenden von 1917 fielen schließlich dem Terror Stalins zum Opfer.
Wenn etwas schon so häufig erzählt wurde wie diese berühmte Eisenbahnfahrt, dann fragt man sich als Leser natürlich, warum noch einmal? Es muss am hundertjährigen Jubiläum des Revolutionsjahres 1917 liegen. So ist Merridales Buch, um eine ihrer eigenen zuweilen schrägen Metaphern zu nehmen, "wie eine altmodische Küchenzeile". Man weiß, was man hat, aber man weiß auch, dass es Neueres gibt. Diese Art der Geschichtsschreibung erzählt unterhaltsam und macht uns klar, dass Marx' Diktum, "Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte" und "Auf der schwäbsche Eisebahne" doch irgendwie enger zusammenhängen als angenommen.
STEFAN PLAGGENBORG
Catherine Merridale:
"Lenins Zug". Eine Reise
in die Revolution.
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 384 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie war das mit der Lokomotive der Geschichte? Catherine Merridale beschreibt noch einmal Lenins Zugfahrt nach Russland vor hundert Jahren
Ein "einzigartiges Projektil" nannte Stefan Zweig in seinen "Sternstunden der Menschheit" den Zug, der am deutsch-schweizerischen Grenzort Gottmadingen auf Lenin und seine einunddreißig Mitreisenden wartete. Man schrieb den 9. April 1917. Eine Woche später trafen die Revolutionäre im berühmt gewordenen plombierten Waggon am Finnischen Bahnhof in Petrograd - so hieß St. Petersburg seit Kriegsbeginn 1914 - ein. Eine Blaskapelle, eine zu Tausenden zählende jubelnde Menge, viele rote Fahnen und die Vertreter der lokalen Bolschewiki erwarteten sie. Zur Begrüßung verkündete Lenin seine "Aprilthesen", die jeden Kompromiss mit den alten Mächten verwarfen und alles auf die Karte der radikalisierten Revolution setzten. Das Projektil begann in Russland die Ordnung der Zeit zu zersprengen.
Die vielleicht berühmteste Eisenbahnfahrt des zwanzigsten Jahrhunderts steht im Zentrum der Erzählung der britischen Historikerin Catherine Merridale. Gerüchte und Legenden ranken sich um sie. Wurde Lenin von den Deutschen bezahlt? War er ein deutscher Spion? Ein Schwarm undurchsichtiger Persönlichkeiten flatterte um die Lichtgestalt der Revolution. Die schillerndste: Alexander Parvus-Helphand, der Sozialist und zeitweise steinreiche Spekulant, der für sich in Anspruch nahm, die Deutschen überredet zu haben, den radikalsten Revolutionär unter den europäischen Sozialisten aus dem Schweizer Exil nach Russland zu befördern, um den deutschen Kriegsgegner zu destabilisieren. All das ist schon viele Male erzählt und erforscht worden. Merridale macht trotzdem eine spannende Geschichte daraus. Sie zeigt, wie in der Historie - mit ihrem ungenannten Vorbild Zweig gesprochen - "unermesslich viel Gleichgültiges und Alltägliches" geschieht und trotzdem am Ende die Welt kopfsteht.
Die Leser lesen erneut: der plombierte Waggon war nicht plombiert und der für die Revolutionäre bestimmte Waggonteil exterritoriales Gebiet. Unter den Exilsozialisten herrschte eine hierarchische Sitzordnung. Lenin und seine Frau Nadjeschda Krupskaja reisten zweiter Klasse (die erste gab es im Waggon nicht), die meisten anderen auf den harten Holzbänken der dritten. Die Reise ging weiter bis zur schwedisch-russischen Grenze am nördlichen Ende des Bottnischen Meerbusens.
Es ist schon erstaunlich, was alles so passierte im Kleinen, ohne das große Ganze auch nur im Entferntesten zu beschädigen. Da beschlagnahmten die verärgerten Schweizer Zöllner fast den gesamten Proviant für die lange Reise. Ungewaschen und hungrig durchquerten die Revolutionäre Deutschland. Den Sowjetbürgern sollte es später auf ihrer Reise zum Sozialismus nicht besser ergehen, aber das schreibt Merridale nicht. Weil sich der revolutionäre Dauerdenker und -diskutierer von den plappernden Wartenden vor der Zugtoilette gestört fühlte, gab er Passierscheine aus, getrennt nach Rauchern und dringlicherer Bedürftigkeit. Kamen hier der bürokratische Sozialismus und der bolschewistische Kontrollzwang bis hin zur Physiologie zum ersten Höhepunkt?
Die Autorin verwebt in ihrer collageartig komponierten Erzählung die Reise mit den Überlegungen und Aktionen der Großmächte. Während auf deutscher Seite die Idee mit dem Revolutionstransport Gestalt annahm, wussten die Briten und Franzosen sehr wohl Bescheid, was da im Gange war, schließlich wimmelte es in der Schweiz von Spionen. In Petrograd saßen ihre vorzüglich informierten Botschafter Sir George William Buchanan und besonders der hellhörige Maurice Paléologue. Ihre Regierungen hatten keinerlei Interesse daran, den russischen Alliierten geschwächt zu sehen oder ihn gar zu verlieren. Merridale beschreibt auch die unfassbare Unfähigkeit der letzten zarischen Regierung, die miserable Versorgungslage in den Städten und die trübe Stimmung in der Armee. Schließlich wusste auch die Provisorische Regierung, die nach der Abdankung des Zaren die Geschäfte führte, über die Anreise des gefährlichen Gegners Bescheid. Nicht auszudenken, was alles nicht passiert wäre, hätte ein Minister Lenin verhaften lassen oder ein britischer Agent ihn aus dem Weg geräumt.
Merridales wahrer Held ist Lenin. Seinem revolutionären Genie konnte nichts widerstehen, kein Hunger, kein Zöllner, kein bourgeoiser Minister, keine irrende und intrigante Regierung. Deutsches Geld kam ihm zugute, aber käuflich war er nicht, auch kein deutscher Spion, wenngleich seine Gegner nicht müde wurden, es zu behaupten. Merridale beschönigt auch nichts an Lenins blutiger Karriere nach dem Oktober 1917. Viele seiner Mitreisenden von 1917 fielen schließlich dem Terror Stalins zum Opfer.
Wenn etwas schon so häufig erzählt wurde wie diese berühmte Eisenbahnfahrt, dann fragt man sich als Leser natürlich, warum noch einmal? Es muss am hundertjährigen Jubiläum des Revolutionsjahres 1917 liegen. So ist Merridales Buch, um eine ihrer eigenen zuweilen schrägen Metaphern zu nehmen, "wie eine altmodische Küchenzeile". Man weiß, was man hat, aber man weiß auch, dass es Neueres gibt. Diese Art der Geschichtsschreibung erzählt unterhaltsam und macht uns klar, dass Marx' Diktum, "Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte" und "Auf der schwäbsche Eisebahne" doch irgendwie enger zusammenhängen als angenommen.
STEFAN PLAGGENBORG
Catherine Merridale:
"Lenins Zug". Eine Reise
in die Revolution.
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 384 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main