Produktdetails
- Verlag: NZZ Libro
- Seitenzahl: 371
- Abmessung: 225mm
- Gewicht: 720g
- ISBN-13: 9783858237620
- ISBN-10: 3858237620
- Artikelnr.: 25018514
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2000Flucht aus der Gegenwart
Staatspräsident Meri über die sowjetische Einverleibung Estlands
Andreas Oplatka: Lennart Meri. Ein Leben für Estland. Dialog mit dem Präsidenten. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 1999. 376 Seiten, 68,- Mark.
Lennart Meri kann stundenlang erzählen, so spannend, wie sein Lebensweg verlaufen ist. Estland, seine Heimat, der kleinste Staat an der Ostsee, taucht darin wie eine Oase, wie ein ruhender Pol auf, obwohl dieses Land von den beiden Großmächten heimgesucht wurde, die im abgelaufenen Jahrhundert auch das Schicksal Europas bedeuteten: Deutschland und Rußland. In diesem bewegten Dreieck kreisen die meisten Gedanken Meris, die ihn zu einem seltenen, nämlich weitsichtigen, originellen, manchmal auch zu einem romantisch-idealistischen Staatsmann machen. Der Staatspräsident Estlands, das unterscheidet ihn wiederum von allzu weisen und allzu großen Männern, garniert diese Mischung mit einer gehörigen Portion Schalk, Ironie und Schlagfertigkeit, die ihm den Ruf eingebracht haben, ein Gesprächspartner zu sein, der kein Blatt vor den Mund nimmt.
Kurz: Dieser Mann ist aufregend. Das muß sich auch Andreas Oplatka, Osteuropa-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, gesagt haben, der Meri erzählen läßt, was er seit den dreißiger Jahren - Meri wurde 1929 in Tallinn (Reval) geboren - so alles erlebt hat. Ein "Dialog mit dem Präsidenten", wie der Untertitel des Buches behauptet, sollte dabei freilich nicht herauskommen.
Oplatka beschränkt sich auf die nötigsten Fragen, und Meri liefert flotte Monologe. Sie verbinden Persönliches mit Zeitgeschichte, Familiäres mit Politik, reihen vielsagende Episoden aneinander, verlieren dabei aber das große Ganze, die Welt zwischen Ost und West, nicht aus den Augen. Die Geschichten, die Meri hier aus der Zeit vor und nach dem Hitler-Stalin-Pakt, aus der Welt hinter dem Eisernen Vorhang aneinanderreiht, sind eine einzige große Antwort auf die Frage: Wie konnte man in dieser Zeit der Kriege, der Ideologien, des Terrors, der Verbannung, der Zwangsherrschaft ein Leben leben, ja nicht nur irgendein Leben, sondern sein eigenes, sein Leben als Historiker, Ethnologe, Schriftsteller, Filmemacher, auch das: als Globetrotter?
Dieses Leben war eine raffinierte Flucht: aus der Gegenwart in die Vergangenheit, um für die Zukunft vorzusorgen, wenn es denn eine geben sollte. Über die Ostsee konnte Meri erst nicht fliehen, später wollte er nicht mehr. Da war Meri schon in die Tiefen der Sowjetunion, nach Sibirien ausgerissen, als estnischer Schwejk, der die Lücken des Systems ausnutzte, um zu studieren und zu dokumentieren, was dem Untergang geweiht schien. Sein Filmmaterial über finno-ugrische Volksgruppen wurde zur begehrten Ware jenseits des Finnischen Meerbusens, in Finnland, das dem Schriftsteller, wie vielen anderen Esten, als Schaufenster in den Westen diente. Auch seine Bücher, Reisebeschreibungen sowie Klassiker über die Frühgeschichte am östlichen Ende der Ostsee, dienten diesem Zweck: Flucht in die Vergangenheit als Mittel zum Überleben. Das betraf für Meri nicht nur das nackte Leben, sondern die Kultur, sein Volk, die Nation.
Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, lernte Meri schon im Elternhaus. Sein Vater gehörte als Diplomat der selbständigen estnischen Zwischenkriegsrepublik nach dem Einmarsch der Roten Armee 1940 zur bürgerlichen Paria, ihm und seiner Familie drohte die Deportation, im schlimmsten Fall der Tod. Mit Mutter und Bruder verbrachte er vier Hungerjahre in Sibirien, während sein Vater in Moskau festgehalten wurde. Der Vater, Georg Meri, einst Legationsrat in Berlin, dessen Karriere dem Sohn fließende Sprachkenntnisse in Deutsch, Französisch und Englisch bescherte, bleibt eine geheimnisvolle Gestalt: Was bewahrte ihn vor dem Tod? Welche Dienste hatte er anzubieten? Was machte ihn zum Spielball hoher Politik? Welches Interesse hatte man in Moskau an seinen Verbindungen nach Deutschland?
Solche Fragen, die Meri selber stellt, tragen zu einem erstaunlichen Ton seiner Schilderungen bei. Man möchte Oplatka mehr als einmal fragen lassen: War es also gar nicht so schlimm? Zwar ging es ums Überleben, aber das Leben auch weiter. In Meris Schilderungen ist es so interessant wie in einem unterhaltsamen Abenteuerroman. Ist das Absicht? Meri spart nicht mit harten Urteilen, sowohl über das System der Kommunisten als auch über die Politik der westlichen Demokratien. Der GULag besteht in diesem Buch nicht einfach aus Lagern, sondern aus Konzentrationslagern.
Das Stillhalten des Westens während der Aufstände von 1956 und 1968 in Osteuropa ist für Meri nicht einfach ein Zeichen von Realpolitik, sondern von verräterischer Schwäche, die ihm die eine oder andere zynische Bemerkung abverlangt. Das eine hat mit dem anderen zu tun. Meris Schilderungen sind mitunter eine unausgesprochene Anklage gegen Unwissen und Nichtwissenwollen, das im Westen gegenüber "dem Osten" und Rußland herrschte, zumal gegenüber einem Land wie Estland, das der Sowjetunion zwar mit Gewalt einverleibt wurde, aber nie richtig ein Teil davon geworden war.
Die Sowjetunion taucht nur im Krieg und im Jahrzehnt danach als der Koloß auf. Die Reiseschilderungen Meris bestehen zum großen Teil aus Geschichten, die das Absurde, den Widersinn und die allzu menschlichen Schwächen des Systems wiedergeben. Nichts und niemand geht darin in einer gesichtslosen Diktaturmasse unter, in der es nur stillhaltende Opfer und kommunistische Täter gibt. Meri behandelt dieses System wie ein Sandkorn im Stundenglas der Weltgeschichte, in der Gestalten wie Breschnew, Andropow oder Gorbatschow als verirrte "Unglücksvögel" auftauchen. Der Eindruck, daß alles nicht so schlimm war, liegt an dieser Perspektive Meris, die den Bären nicht so ernst nahm, der aller Welt über das große Reich im Osten aufgebunden wurde. "Wie das Ende der Sowjetunion kommen würde, das wußte niemand. Daß es kommen würde, davon waren einige überzeugt, alle aber hofften es", sagt Meri über die Stimmung Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre.
Es kam schneller, als man dachte. Meri wurde 1990 Außenminister einer wiederhergestellten demokratischen Republik, am Anfang nur mit einem Funktelefon mit der Außenwelt verbunden, dessen Antenne am "Langen Hermann" auf dem Domberg Tallinns klemmte. Zwei Jahre später war er Staatspräsident, 1996 wurde er wiedergewählt. Daß es so kam, mag an glücklichen Umständen liegen. Aber ohne optimistische Geister wie Meri wären die Umstände andere gewesen, die sich in allen Lebenslagen ganz einfach in die richtige Richtung lenken lassen, wenn man nur dem Grundsatz folgt: "Man muß ja immer schlau sein."
JASPER VON ALTENBOCKUM
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Staatspräsident Meri über die sowjetische Einverleibung Estlands
Andreas Oplatka: Lennart Meri. Ein Leben für Estland. Dialog mit dem Präsidenten. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 1999. 376 Seiten, 68,- Mark.
Lennart Meri kann stundenlang erzählen, so spannend, wie sein Lebensweg verlaufen ist. Estland, seine Heimat, der kleinste Staat an der Ostsee, taucht darin wie eine Oase, wie ein ruhender Pol auf, obwohl dieses Land von den beiden Großmächten heimgesucht wurde, die im abgelaufenen Jahrhundert auch das Schicksal Europas bedeuteten: Deutschland und Rußland. In diesem bewegten Dreieck kreisen die meisten Gedanken Meris, die ihn zu einem seltenen, nämlich weitsichtigen, originellen, manchmal auch zu einem romantisch-idealistischen Staatsmann machen. Der Staatspräsident Estlands, das unterscheidet ihn wiederum von allzu weisen und allzu großen Männern, garniert diese Mischung mit einer gehörigen Portion Schalk, Ironie und Schlagfertigkeit, die ihm den Ruf eingebracht haben, ein Gesprächspartner zu sein, der kein Blatt vor den Mund nimmt.
Kurz: Dieser Mann ist aufregend. Das muß sich auch Andreas Oplatka, Osteuropa-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, gesagt haben, der Meri erzählen läßt, was er seit den dreißiger Jahren - Meri wurde 1929 in Tallinn (Reval) geboren - so alles erlebt hat. Ein "Dialog mit dem Präsidenten", wie der Untertitel des Buches behauptet, sollte dabei freilich nicht herauskommen.
Oplatka beschränkt sich auf die nötigsten Fragen, und Meri liefert flotte Monologe. Sie verbinden Persönliches mit Zeitgeschichte, Familiäres mit Politik, reihen vielsagende Episoden aneinander, verlieren dabei aber das große Ganze, die Welt zwischen Ost und West, nicht aus den Augen. Die Geschichten, die Meri hier aus der Zeit vor und nach dem Hitler-Stalin-Pakt, aus der Welt hinter dem Eisernen Vorhang aneinanderreiht, sind eine einzige große Antwort auf die Frage: Wie konnte man in dieser Zeit der Kriege, der Ideologien, des Terrors, der Verbannung, der Zwangsherrschaft ein Leben leben, ja nicht nur irgendein Leben, sondern sein eigenes, sein Leben als Historiker, Ethnologe, Schriftsteller, Filmemacher, auch das: als Globetrotter?
Dieses Leben war eine raffinierte Flucht: aus der Gegenwart in die Vergangenheit, um für die Zukunft vorzusorgen, wenn es denn eine geben sollte. Über die Ostsee konnte Meri erst nicht fliehen, später wollte er nicht mehr. Da war Meri schon in die Tiefen der Sowjetunion, nach Sibirien ausgerissen, als estnischer Schwejk, der die Lücken des Systems ausnutzte, um zu studieren und zu dokumentieren, was dem Untergang geweiht schien. Sein Filmmaterial über finno-ugrische Volksgruppen wurde zur begehrten Ware jenseits des Finnischen Meerbusens, in Finnland, das dem Schriftsteller, wie vielen anderen Esten, als Schaufenster in den Westen diente. Auch seine Bücher, Reisebeschreibungen sowie Klassiker über die Frühgeschichte am östlichen Ende der Ostsee, dienten diesem Zweck: Flucht in die Vergangenheit als Mittel zum Überleben. Das betraf für Meri nicht nur das nackte Leben, sondern die Kultur, sein Volk, die Nation.
Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, lernte Meri schon im Elternhaus. Sein Vater gehörte als Diplomat der selbständigen estnischen Zwischenkriegsrepublik nach dem Einmarsch der Roten Armee 1940 zur bürgerlichen Paria, ihm und seiner Familie drohte die Deportation, im schlimmsten Fall der Tod. Mit Mutter und Bruder verbrachte er vier Hungerjahre in Sibirien, während sein Vater in Moskau festgehalten wurde. Der Vater, Georg Meri, einst Legationsrat in Berlin, dessen Karriere dem Sohn fließende Sprachkenntnisse in Deutsch, Französisch und Englisch bescherte, bleibt eine geheimnisvolle Gestalt: Was bewahrte ihn vor dem Tod? Welche Dienste hatte er anzubieten? Was machte ihn zum Spielball hoher Politik? Welches Interesse hatte man in Moskau an seinen Verbindungen nach Deutschland?
Solche Fragen, die Meri selber stellt, tragen zu einem erstaunlichen Ton seiner Schilderungen bei. Man möchte Oplatka mehr als einmal fragen lassen: War es also gar nicht so schlimm? Zwar ging es ums Überleben, aber das Leben auch weiter. In Meris Schilderungen ist es so interessant wie in einem unterhaltsamen Abenteuerroman. Ist das Absicht? Meri spart nicht mit harten Urteilen, sowohl über das System der Kommunisten als auch über die Politik der westlichen Demokratien. Der GULag besteht in diesem Buch nicht einfach aus Lagern, sondern aus Konzentrationslagern.
Das Stillhalten des Westens während der Aufstände von 1956 und 1968 in Osteuropa ist für Meri nicht einfach ein Zeichen von Realpolitik, sondern von verräterischer Schwäche, die ihm die eine oder andere zynische Bemerkung abverlangt. Das eine hat mit dem anderen zu tun. Meris Schilderungen sind mitunter eine unausgesprochene Anklage gegen Unwissen und Nichtwissenwollen, das im Westen gegenüber "dem Osten" und Rußland herrschte, zumal gegenüber einem Land wie Estland, das der Sowjetunion zwar mit Gewalt einverleibt wurde, aber nie richtig ein Teil davon geworden war.
Die Sowjetunion taucht nur im Krieg und im Jahrzehnt danach als der Koloß auf. Die Reiseschilderungen Meris bestehen zum großen Teil aus Geschichten, die das Absurde, den Widersinn und die allzu menschlichen Schwächen des Systems wiedergeben. Nichts und niemand geht darin in einer gesichtslosen Diktaturmasse unter, in der es nur stillhaltende Opfer und kommunistische Täter gibt. Meri behandelt dieses System wie ein Sandkorn im Stundenglas der Weltgeschichte, in der Gestalten wie Breschnew, Andropow oder Gorbatschow als verirrte "Unglücksvögel" auftauchen. Der Eindruck, daß alles nicht so schlimm war, liegt an dieser Perspektive Meris, die den Bären nicht so ernst nahm, der aller Welt über das große Reich im Osten aufgebunden wurde. "Wie das Ende der Sowjetunion kommen würde, das wußte niemand. Daß es kommen würde, davon waren einige überzeugt, alle aber hofften es", sagt Meri über die Stimmung Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre.
Es kam schneller, als man dachte. Meri wurde 1990 Außenminister einer wiederhergestellten demokratischen Republik, am Anfang nur mit einem Funktelefon mit der Außenwelt verbunden, dessen Antenne am "Langen Hermann" auf dem Domberg Tallinns klemmte. Zwei Jahre später war er Staatspräsident, 1996 wurde er wiedergewählt. Daß es so kam, mag an glücklichen Umständen liegen. Aber ohne optimistische Geister wie Meri wären die Umstände andere gewesen, die sich in allen Lebenslagen ganz einfach in die richtige Richtung lenken lassen, wenn man nur dem Grundsatz folgt: "Man muß ja immer schlau sein."
JASPER VON ALTENBOCKUM
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jasper von Altenbockum ist begeistert von diesem Buch, das sich als Gespräch mit dem estnischen Präsidenten ankündigt, aber eher "flotte Monologe" bietet. Das Buch lese sich wie ein "unterhaltsamer Abenteuerroman" und sei so spannend wie das Leben des Präsidenten, schwärmt der Rezensent. Er lobt den Witz und die "Schlagfertigkeit" Meris und preist ihn als "weitsichtigen" und "originellen" Staatsmann, der in seinen Äußerungen Politik mit Privatem verbindet und dabei dennoch das "große Ganze" im Auge behält. Dass Oplatka dabei anscheinend nur als Stichwortgeber fungiert, stört den Rezensenten nicht, da die Ausführungen Meris so interessant seien, und so lautet sein hingerissenes Urteil: "dieser Mann ist aufregend".
© Perlentaucher Medien GmbH
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