Der Schriftsteller Leo Kaplan, fast vierzig, fast Millionär, ist ein Virtuose des Ehebruchs: Bis es seiner Ehefrau Hannah zu bunt wird. Kaplan muß erkennen, dass er durch seine Liebeseskapaden nicht nur seine Ehe, sondern auch seine Kreativität verspielt hat. Erst als er überraschend seine große Jugendliebe wiedertrifft, beginnt er zu verstehen, wie er zu dem wurde, der er heute ist. Ein bewegender Roman über die Sehnsucht und die Suche nach den eigenen Wurzeln.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2001Da geht meine Frau
Leon de Winters Roman über den
verzweifelten Autor Leo Kaplan
Flughäfen sind das Fegefeuer unserer gehetzten Gesellschaft, Außenstationen zwischen Himmel und Erde, Panik und Trance. Man muss im Pariser, Frankfurter oder Amsterdamer Flughafen nur ein paar Sekunden die Augen zukneifen, und schon flirrt und flackert ein Gemälde mit Hieronymus-Bosch-Szenen über den körpereigenen Bildschirm und überblendet alle geschwungenen Schriftzüge über Schaltern und Geschäften.
Der Schriftsteller Leon de Winter findet auf Flughäfen, was Dante im Purgatorium fand, natürlich in herabgestufter Form. Das heilige Kraut von damals ist der Orangensaft in der Tetrapak-Tüte von heute. Dantes Beatrice heißt in Leon de Winters Schriftstellerroman „Leo Kaplan” Ellen, sie ist für ihn unerreichbar wie Beatrice, nur nach anderen Keuschheitsvorstellungen. Als Leo Kaplan Ellen nach Jahren in Kairo wiedersieht, sagt er zu sich: Da geht meine Frau. Aber Ellen geht an Leo Kaplan vorbei.
Dass Leon de Winter ein exhibitionistischer Zeitgenosse ist, der das freie Spiel zwischen seiner eigenen Person und den Figuren seiner Romane bis in die äußersten Winkel ausreizt, wissen seine Leser. Nach „SuperTex”, „Hoffmans Hunger”, „Zionoco”, „Sokolows Universum” wissen sie auch, dass der 1954 in Hertogenbosch geborene Sohn niederländisch-orthodoxer Juden, bevor er mit dem Schreiben begann, Filmemacher war, was der szenischen Einstellung vieler Passagen sehr gut bekommt.
Leon de Winter schreibt immer über Männer, über verzweifelte, hemmungslose Liebhaber, schamlose, untreue, rührende und einsame Lügner. Sie überleben in der Komik, die Katastrophen mit sich bringen. Eigentlich sind diese Typen widerwärtig: verwöhnte Muttersöhnchen, hysterisch, narzisstisch, rücksichtslos, aber man nimmt ihnen nichts übel. Das liegt natürlich an der Art und Weise des Erzählens, am Witz und an der herrlichen Selbstironie des Erzählers, die Leon de Winters große Stärke sind.
Das dicke, 1986 erschienene Frühwerk „Leo Kaplan” ist dafür ein Paradestück. Der schönste Witz von allen ist vielleicht, dass der 32-jährige Autor darin den Welterfolg von „Hoffmans Hunger” und die erfolgreiche, aber unzureichende Verfilmung vorwegnimmt, ein Buch das damals nur als Projekt in der Schublade existierte und in Amsterdam erst vier Jahre später, 1990, erscheinen sollte. Leon de Winter fantasiert sich also in den erfolgreichen Leo Kaplan hinein, der nach dem Erscheinen von „Hoffmans Hunger” ein prominenter Autor ist, Magisterarbeiten werden über sein Werk geschrieben, Studentinnen himmeln ihn an, zwischen Teddybären und Kleiderhaufen versinkt er mit ihnen in den Kissen.
Aber Leo Kaplan ist in der Krise, seine Frau hat die Scheidung eingereicht, er schläft in einem lausigen Mietzimmer und sitzt tagsüber vor dem leeren Blatt. Er kann nicht mehr schreiben, weiß nicht, was so „ein Ich oder Er” eigentlich soll. Leo Kaplan fühlt sich wie ein „leeres Fass, ein gefühlloser Hautsack, gefüllt mit Muskeln, Blut, Angst und Selbstmitleid, ein Kunstmensch, ein Golem”.
Von diesem Berg Dreck schaut Leo Kaplan auf sein Leben und erzählt die Geschichte seiner ersten großen Studentenliebe. Er achtzehn, sie achtzehn, eine Orgie, ein Gefühl, dass zwischen Leo und Ellen kein Feigenblatt passt, auch wenn der Vater, der reiche „Jud Kaplan”, das holländische Mädchen ignoriert, was dem Autor die Gelegenheit gibt, die unbedingte Liebe dieser Eltern zu ihrem einzigen Kind zu beschreiben.
Mit der Hühnersuppe am Bett
Aber im Zentrum des Romans steht Ellen de Waal, Mutter seines Sohnes, inzwischen mit dem Diplomaten Frank Jonker verheiratet. Leo Kaplan und Ellen treffen sich nach zwanzig Jahren auf dem Flughafen in Rom wieder, Leo Kaplan hat eine Lesung im Istituto Olandese, und Leon de Winter beschreibt, neben hundert weiteren eingeblendeten Szenen, die schüchterne Annäherung, die Verwirrung der Gefühle, die Bilder der Erinnerung, zum Beispiel an den Morgen, als die Eltern in aller Frühe mit der Hühnersuppe in Leos Studentenbude stehen und Ellen im Bett finden. Im Zentrum der vielen kleinen Geschichten, die Leon de Winter hier erzählt, manche sind kriminalistische Miniaturen, manche, wie der Nabokov-Aufsatz, glänzende Stilübungen, steht die Tragik einer verspielten Chance, damals als Leo an nichts anderes dachte als an sich selbst. Ellen ist konsequent. Als er in dem Hotelzimmer in der Nähe Roms aufwacht, findet er zum Abschied ihren Zettel.
Der Autor nimmt Leo Kaplan nicht in Schutz, aber er liebt ihn, ganz offen und freizügig, und er schüttelt ihn, aber da ist nichts mehr zu machen. „Aber kann man sich ändern, lernen? Mache ich nicht immer wieder die gleichen Fehler?” fragt er Ellen und sie antwortet: „Du hattest deine Chancen. ”
In keinem seiner späteren Bücher hat Leon de Winter seinen Stoff großzügiger und hemmungsloser ausgebreitet, einige Szenen sind meisterhaft, die Schilderungen des jüdischen Elternhauses rührend. In diesem dicken Buch, das ausgewachsenen Männern den Nachtschlaf raubt, zeigt er, was er alles, und wie er es vereinnahmen kann. Schön, wie der geniale, leicht und flüssig erzählende Leon de Winter den verzweifelten Schriftsteller Leo Kaplan der verpassten Liebe überführt.
VERENA AUFFERMANN
LEON DE WINTER: Leo Kaplan. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 542 Seiten, 49,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Leon de Winters Roman über den
verzweifelten Autor Leo Kaplan
Flughäfen sind das Fegefeuer unserer gehetzten Gesellschaft, Außenstationen zwischen Himmel und Erde, Panik und Trance. Man muss im Pariser, Frankfurter oder Amsterdamer Flughafen nur ein paar Sekunden die Augen zukneifen, und schon flirrt und flackert ein Gemälde mit Hieronymus-Bosch-Szenen über den körpereigenen Bildschirm und überblendet alle geschwungenen Schriftzüge über Schaltern und Geschäften.
Der Schriftsteller Leon de Winter findet auf Flughäfen, was Dante im Purgatorium fand, natürlich in herabgestufter Form. Das heilige Kraut von damals ist der Orangensaft in der Tetrapak-Tüte von heute. Dantes Beatrice heißt in Leon de Winters Schriftstellerroman „Leo Kaplan” Ellen, sie ist für ihn unerreichbar wie Beatrice, nur nach anderen Keuschheitsvorstellungen. Als Leo Kaplan Ellen nach Jahren in Kairo wiedersieht, sagt er zu sich: Da geht meine Frau. Aber Ellen geht an Leo Kaplan vorbei.
Dass Leon de Winter ein exhibitionistischer Zeitgenosse ist, der das freie Spiel zwischen seiner eigenen Person und den Figuren seiner Romane bis in die äußersten Winkel ausreizt, wissen seine Leser. Nach „SuperTex”, „Hoffmans Hunger”, „Zionoco”, „Sokolows Universum” wissen sie auch, dass der 1954 in Hertogenbosch geborene Sohn niederländisch-orthodoxer Juden, bevor er mit dem Schreiben begann, Filmemacher war, was der szenischen Einstellung vieler Passagen sehr gut bekommt.
Leon de Winter schreibt immer über Männer, über verzweifelte, hemmungslose Liebhaber, schamlose, untreue, rührende und einsame Lügner. Sie überleben in der Komik, die Katastrophen mit sich bringen. Eigentlich sind diese Typen widerwärtig: verwöhnte Muttersöhnchen, hysterisch, narzisstisch, rücksichtslos, aber man nimmt ihnen nichts übel. Das liegt natürlich an der Art und Weise des Erzählens, am Witz und an der herrlichen Selbstironie des Erzählers, die Leon de Winters große Stärke sind.
Das dicke, 1986 erschienene Frühwerk „Leo Kaplan” ist dafür ein Paradestück. Der schönste Witz von allen ist vielleicht, dass der 32-jährige Autor darin den Welterfolg von „Hoffmans Hunger” und die erfolgreiche, aber unzureichende Verfilmung vorwegnimmt, ein Buch das damals nur als Projekt in der Schublade existierte und in Amsterdam erst vier Jahre später, 1990, erscheinen sollte. Leon de Winter fantasiert sich also in den erfolgreichen Leo Kaplan hinein, der nach dem Erscheinen von „Hoffmans Hunger” ein prominenter Autor ist, Magisterarbeiten werden über sein Werk geschrieben, Studentinnen himmeln ihn an, zwischen Teddybären und Kleiderhaufen versinkt er mit ihnen in den Kissen.
Aber Leo Kaplan ist in der Krise, seine Frau hat die Scheidung eingereicht, er schläft in einem lausigen Mietzimmer und sitzt tagsüber vor dem leeren Blatt. Er kann nicht mehr schreiben, weiß nicht, was so „ein Ich oder Er” eigentlich soll. Leo Kaplan fühlt sich wie ein „leeres Fass, ein gefühlloser Hautsack, gefüllt mit Muskeln, Blut, Angst und Selbstmitleid, ein Kunstmensch, ein Golem”.
Von diesem Berg Dreck schaut Leo Kaplan auf sein Leben und erzählt die Geschichte seiner ersten großen Studentenliebe. Er achtzehn, sie achtzehn, eine Orgie, ein Gefühl, dass zwischen Leo und Ellen kein Feigenblatt passt, auch wenn der Vater, der reiche „Jud Kaplan”, das holländische Mädchen ignoriert, was dem Autor die Gelegenheit gibt, die unbedingte Liebe dieser Eltern zu ihrem einzigen Kind zu beschreiben.
Mit der Hühnersuppe am Bett
Aber im Zentrum des Romans steht Ellen de Waal, Mutter seines Sohnes, inzwischen mit dem Diplomaten Frank Jonker verheiratet. Leo Kaplan und Ellen treffen sich nach zwanzig Jahren auf dem Flughafen in Rom wieder, Leo Kaplan hat eine Lesung im Istituto Olandese, und Leon de Winter beschreibt, neben hundert weiteren eingeblendeten Szenen, die schüchterne Annäherung, die Verwirrung der Gefühle, die Bilder der Erinnerung, zum Beispiel an den Morgen, als die Eltern in aller Frühe mit der Hühnersuppe in Leos Studentenbude stehen und Ellen im Bett finden. Im Zentrum der vielen kleinen Geschichten, die Leon de Winter hier erzählt, manche sind kriminalistische Miniaturen, manche, wie der Nabokov-Aufsatz, glänzende Stilübungen, steht die Tragik einer verspielten Chance, damals als Leo an nichts anderes dachte als an sich selbst. Ellen ist konsequent. Als er in dem Hotelzimmer in der Nähe Roms aufwacht, findet er zum Abschied ihren Zettel.
Der Autor nimmt Leo Kaplan nicht in Schutz, aber er liebt ihn, ganz offen und freizügig, und er schüttelt ihn, aber da ist nichts mehr zu machen. „Aber kann man sich ändern, lernen? Mache ich nicht immer wieder die gleichen Fehler?” fragt er Ellen und sie antwortet: „Du hattest deine Chancen. ”
In keinem seiner späteren Bücher hat Leon de Winter seinen Stoff großzügiger und hemmungsloser ausgebreitet, einige Szenen sind meisterhaft, die Schilderungen des jüdischen Elternhauses rührend. In diesem dicken Buch, das ausgewachsenen Männern den Nachtschlaf raubt, zeigt er, was er alles, und wie er es vereinnahmen kann. Schön, wie der geniale, leicht und flüssig erzählende Leon de Winter den verzweifelten Schriftsteller Leo Kaplan der verpassten Liebe überführt.
VERENA AUFFERMANN
LEON DE WINTER: Leo Kaplan. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 542 Seiten, 49,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2001Acht zauberhafte Töchter
D-Klasse: Leon de Winters Schriftstellerroman "Leo Kaplan"
Liebe und Tod, das erzromantische Paar der hohen Literatur hat eine Entsprechung im modernen Unterhaltungsgewerbe: Sex & Crime. Die Helden Leon de Winters tun das eine und meinen das andere - was es, unter anderem, schwierig macht, seine Romane eindeutig zu klassifizieren. Auf dem deutschsprachigen Markt liegt es daher nahe, neben der E- und der U- eine D-Klasse zu schaffen, benannt nach dem Diogenes-Verlag, in der neben dem erfolgreichen Niederländer auch etwa der ihm im Schreibtemperament verwandte Amerikaner John Irving residiert.
Wie Irving ist Leon de Winter ein sehr produktiver Autor. Zehn Romane hat er zwischen 1979 und 1999 geschrieben. "Leo Kaplan", der für deutsche Leser jüngste, ist der fünfte in der Reihe. Er ist im Original bereits 1986 erschienen und mag hiesige Leser darüber hinwegtrösten, daß es gegenwärtig nichts Neues von de Winter zu lesen gibt. Er ist unter die Filmproduzenten gegangen; sein vor zwei Jahren gegründetes Joint Venture "Amberlon Pictures" (Partner: Eric Preskow und die Senator Film) hat Großes vor: vierzig Filme sind geplant, "Hollywood Sign", nach de Winters Roman "Der Himmel über Hollywood", ist bereits fertig.
Auch fünfzehn Jahre nach der Erstveröffentlichung liest man "Leo Kaplan" mit Vergnügen, denn nirgendwo äußert sich de Winter derart offen und zugleich verfremdet über sich selbst, über seine Herkunft und seine Obsessionen, seine Schreibimpulse und -blockaden, seine Poetik und seine reale Schriftstellerexistenz. Leo Kaplan "schreibt über seinen eigenen Nabel und seinen eigenen Stoffwechsel", Leon de Winter ganz offensichtlich auch. Man hüte sich aber vor simpler Eins-zu-eins-Übertragung; den Roman "Hoffmanns Hunger", den der Autor zu diesem Zeitpunkt noch vor sich hat, hat seine Romanfigur bereits vollendet. Wie sein Schöpfer ist Leo Kaplan Sohn holländischer Juden, die den Holocaust in einem Versteck überlebt haben, traumatisiert für den Rest ihres Lebens. Leo wächst nicht mit Märchen, sondern mit wahren Geschichten von Pogromen und Deportationen auf. Wie de Winters Vater verdient auch der alte Kaplan, genannt "Jud Kaplan", sein Geld - und zwar viel Geld - als Lumpenhändler. Wie Leon wächst Leo auf "im Geruch von gehackter Leber, Altpapier und billigen Tricks". Die häusliche Atmosphäre, geprägt von ängstlicher Überwachung, von Gekränktheit und jiddischem Geschrei, läßt de Winter in einigen hinreißenden Passagen wieder aufleben. Man meint sich in eine Woody-Allen-Szene versetzt.
An dessen ruhelose Gestalten erinnert der schreibende Held des Romans auch auf erotischem Gebiet. Schon der Prolog zeigt uns Leo im Bett mit einer Literaturstudentin, die Auskunft über sein Werk bei der Quelle sucht; danach sehen wir ihn vor ihrem eifersüchtigen Freund davonrennen. Im nächsten Kapitel gibt ihm seine zweite Frau den Laufpaß; entnervt von seinen Seitensprüngen, hat sie sich ihrerseits einen Lover genommen und sich gar in ihn verliebt. Leo wird ausquartiert; unbeweibt bleibt er aber nicht lange. Auf einem Flug nach Rom wirft sich ihm eine junge Stewardeß an den Hals, in Rom selbst trifft er Ellen wieder, die große Liebe seiner Jugend. Die Geschichte dieser Liebe und ihres abrupten Endes nimmt den zweiten Teil des Romans ein, den dritten dann der Versuch, zu vollenden, was damals abgebrochen wurde. Hat er, fragt sich Leo, hinter allen Frauen immer nur die eine, die erste gesucht? Kann ihn die Wiedervereinigung mit Ellen von seiner erotischen Unrast erlösen? Der Epilog zeigt uns indes einen Kaplan, der einer ohne Blüte verwelkten Sekretärin zu ihrer ersten Liebesnacht verhilft, während zu Hause bereits eine Betty auf ihn wartet. Fortsetzung garantiert.
Der womanizer als unglückliche, ewig unbefriedigte und unerlösbare Figur: Das ist eine nicht ungewöhnliche und auch nicht unsympathische Konstruktion. Zumal, wenn der Autor die Erlösungsphantasien seines Helden nicht allzu ernst nimmt. "Ich brauche die Illusion, nach Belieben aus dem auswählen zu können, was das Leben zu bieten hat", sagt Leo. Auch andere sind so frei; die Kehrseite dieser Freiheit aber ist die Angst, verlassen zu werden. Sie ist die Quelle aller stillschweigenden Übereinkünfte und Fairneß-Abkommen in der Ehe: Nur um nicht selbst betrogen zu werden, betrüge man so wenig, heißt es einmal. Umgekehrt entstehen viele Seitensprünge aus Vergeltungsdrang; sie stellen zwar keine Gerechtigkeit, aber doch eine Art Gleichgewicht her. Leo Kaplan (oder Leon de Winter?) vergleicht die moderne Ehe einem Trapezakt, geprägt von der Suche nach Balance und ständiger Absturzgefahr.
Langweilig sind solche labilen Verhältnisse natürlich nicht, schon gar nicht bei diesem varianten- und fintenreichen Autor. Ellen nimmt einen strammen römischen Kellner auf ein Hotelzimmer, weil sie ihren Mann mit einer Sekretärin erwischt zu haben glaubt. Aber deren Liebhaber ist ein ganz anderer - was Ellen nicht daran hindert, ihre eigene Affäre eine Weile fortzusetzen. Wenn es eine Vernunft des Herzens gibt, warum dann nicht auch eine des Unterleibs? Leon de Winter braucht die große Zahl an Figuren und Verwicklungen, um die Fixierung des Helden auf sich selbst auszugleichen, seinen Hang zum Grübeln, Jammern und Sich-Beknirschen. Verschwenderisch geht der Autor mit seinen literarischen Mitteln um; anders als sein Alter ego quälen ihn keinerlei Skrupel. Ihr wollt alles? Hier habt ihr es! scheint er seinen Lesern zuzurufen. Und gibt ihnen: Vor- und Rückblicke, direkte Ansprache und raffinierte Verwirrspiele, jenes Halbwissen, das die Neugier kitzelt und Überlegenheit vorgaukelt, Nebenhandlungen und Parallelaktionen, eingestreute Zeitungsartikel und Leserbriefe, die "schönste Geschichte der Welt" und wie sie verlorenging, Bemerkungen eines Hundes und über Gorillas, jede Menge Morde und Selbstmorde, eine Kettenerzählung um ein rosa Tischtuch und was nicht noch alles: Das ist Lesefutter satt und fett, verabreicht von einem allmächtigen und seine Allmacht sichtlich genießenden Schöpfer.
Dem Helden fehlt das Bewußtsein, von einem solchen Schöpfer geführt zu werden. Ihm erscheint sein Leben nicht als bunter Unterhaltungsstoff, sondern als chaotisch und absurd. Was die Leser bald wissen, erfährt Leo nie: daß er einen Sohn hat, den Ellen - eine "versteinerte Lüge" - als den eines anderen ausgibt. Kein Wunder, daß der Held sich seinen eigenen roten Faden durchs Labyrinth seiner Existenz zu legen versucht, und noch weniger verwunderlich, daß dieser Faden zu seiner Herkunft zurückführt. Seine erotische Unrast, sein unerfüllbares Bedürfnis nach Anerkennung und Erfolg sind für Kaplan, das "rennende Symptom alles Rat- und Richtungslosen", alles fruchtlose Versuche, seiner Abstammung zu entkommen. In dem Erfolgsautor und Frauenheld steckt ein ängstlicher, kleiner Junge, diagnostiziert er selbst, und fragt sich, ob er nicht seine Bestimmung verfehlt habe, nämlich ein "frommer chaser in einem polnischen Schtetl zu sein, mit liebender Frau und acht zauberhaften Töchtern".
Wie zur Bestätigung läßt de Winter seinen Helden am Ende in der jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt ankommen, den Sabbath feiern, den Gottesdienst besuchen. Ruhe und Geborgenheit erfüllen ihn, liest man auf der letzten Seite und hört den Gemeindevorsteher ebenjenen Witz erzählen, mit dem auf den Lippen Leos Vater gestorben ist. Leo, endlich bei sich? Der Leser kann nicht ernsthaft glauben, was der Held ihm und auch sich selbst weismachen will. Hat er doch nicht vergessen, daß zu Hause schon Betty wartet, die willige und erfinderische neue Gespielin. Und vermutet er zu Recht, daß auch sie ihn nicht wird halten können. Das Unglück der Helden ist das Glück der Leser (auch das unterscheidet E- und D- von reiner U-Literatur). Und deshalb gibt es jedes Jahr einen neuen Film von Woody Allen und hoffentlich bald wieder einen neuen Roman von Leon de Winter.
MARTIN EBEL
Leon de Winter: "Leo Kaplan". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 544 S., geb., 46,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
D-Klasse: Leon de Winters Schriftstellerroman "Leo Kaplan"
Liebe und Tod, das erzromantische Paar der hohen Literatur hat eine Entsprechung im modernen Unterhaltungsgewerbe: Sex & Crime. Die Helden Leon de Winters tun das eine und meinen das andere - was es, unter anderem, schwierig macht, seine Romane eindeutig zu klassifizieren. Auf dem deutschsprachigen Markt liegt es daher nahe, neben der E- und der U- eine D-Klasse zu schaffen, benannt nach dem Diogenes-Verlag, in der neben dem erfolgreichen Niederländer auch etwa der ihm im Schreibtemperament verwandte Amerikaner John Irving residiert.
Wie Irving ist Leon de Winter ein sehr produktiver Autor. Zehn Romane hat er zwischen 1979 und 1999 geschrieben. "Leo Kaplan", der für deutsche Leser jüngste, ist der fünfte in der Reihe. Er ist im Original bereits 1986 erschienen und mag hiesige Leser darüber hinwegtrösten, daß es gegenwärtig nichts Neues von de Winter zu lesen gibt. Er ist unter die Filmproduzenten gegangen; sein vor zwei Jahren gegründetes Joint Venture "Amberlon Pictures" (Partner: Eric Preskow und die Senator Film) hat Großes vor: vierzig Filme sind geplant, "Hollywood Sign", nach de Winters Roman "Der Himmel über Hollywood", ist bereits fertig.
Auch fünfzehn Jahre nach der Erstveröffentlichung liest man "Leo Kaplan" mit Vergnügen, denn nirgendwo äußert sich de Winter derart offen und zugleich verfremdet über sich selbst, über seine Herkunft und seine Obsessionen, seine Schreibimpulse und -blockaden, seine Poetik und seine reale Schriftstellerexistenz. Leo Kaplan "schreibt über seinen eigenen Nabel und seinen eigenen Stoffwechsel", Leon de Winter ganz offensichtlich auch. Man hüte sich aber vor simpler Eins-zu-eins-Übertragung; den Roman "Hoffmanns Hunger", den der Autor zu diesem Zeitpunkt noch vor sich hat, hat seine Romanfigur bereits vollendet. Wie sein Schöpfer ist Leo Kaplan Sohn holländischer Juden, die den Holocaust in einem Versteck überlebt haben, traumatisiert für den Rest ihres Lebens. Leo wächst nicht mit Märchen, sondern mit wahren Geschichten von Pogromen und Deportationen auf. Wie de Winters Vater verdient auch der alte Kaplan, genannt "Jud Kaplan", sein Geld - und zwar viel Geld - als Lumpenhändler. Wie Leon wächst Leo auf "im Geruch von gehackter Leber, Altpapier und billigen Tricks". Die häusliche Atmosphäre, geprägt von ängstlicher Überwachung, von Gekränktheit und jiddischem Geschrei, läßt de Winter in einigen hinreißenden Passagen wieder aufleben. Man meint sich in eine Woody-Allen-Szene versetzt.
An dessen ruhelose Gestalten erinnert der schreibende Held des Romans auch auf erotischem Gebiet. Schon der Prolog zeigt uns Leo im Bett mit einer Literaturstudentin, die Auskunft über sein Werk bei der Quelle sucht; danach sehen wir ihn vor ihrem eifersüchtigen Freund davonrennen. Im nächsten Kapitel gibt ihm seine zweite Frau den Laufpaß; entnervt von seinen Seitensprüngen, hat sie sich ihrerseits einen Lover genommen und sich gar in ihn verliebt. Leo wird ausquartiert; unbeweibt bleibt er aber nicht lange. Auf einem Flug nach Rom wirft sich ihm eine junge Stewardeß an den Hals, in Rom selbst trifft er Ellen wieder, die große Liebe seiner Jugend. Die Geschichte dieser Liebe und ihres abrupten Endes nimmt den zweiten Teil des Romans ein, den dritten dann der Versuch, zu vollenden, was damals abgebrochen wurde. Hat er, fragt sich Leo, hinter allen Frauen immer nur die eine, die erste gesucht? Kann ihn die Wiedervereinigung mit Ellen von seiner erotischen Unrast erlösen? Der Epilog zeigt uns indes einen Kaplan, der einer ohne Blüte verwelkten Sekretärin zu ihrer ersten Liebesnacht verhilft, während zu Hause bereits eine Betty auf ihn wartet. Fortsetzung garantiert.
Der womanizer als unglückliche, ewig unbefriedigte und unerlösbare Figur: Das ist eine nicht ungewöhnliche und auch nicht unsympathische Konstruktion. Zumal, wenn der Autor die Erlösungsphantasien seines Helden nicht allzu ernst nimmt. "Ich brauche die Illusion, nach Belieben aus dem auswählen zu können, was das Leben zu bieten hat", sagt Leo. Auch andere sind so frei; die Kehrseite dieser Freiheit aber ist die Angst, verlassen zu werden. Sie ist die Quelle aller stillschweigenden Übereinkünfte und Fairneß-Abkommen in der Ehe: Nur um nicht selbst betrogen zu werden, betrüge man so wenig, heißt es einmal. Umgekehrt entstehen viele Seitensprünge aus Vergeltungsdrang; sie stellen zwar keine Gerechtigkeit, aber doch eine Art Gleichgewicht her. Leo Kaplan (oder Leon de Winter?) vergleicht die moderne Ehe einem Trapezakt, geprägt von der Suche nach Balance und ständiger Absturzgefahr.
Langweilig sind solche labilen Verhältnisse natürlich nicht, schon gar nicht bei diesem varianten- und fintenreichen Autor. Ellen nimmt einen strammen römischen Kellner auf ein Hotelzimmer, weil sie ihren Mann mit einer Sekretärin erwischt zu haben glaubt. Aber deren Liebhaber ist ein ganz anderer - was Ellen nicht daran hindert, ihre eigene Affäre eine Weile fortzusetzen. Wenn es eine Vernunft des Herzens gibt, warum dann nicht auch eine des Unterleibs? Leon de Winter braucht die große Zahl an Figuren und Verwicklungen, um die Fixierung des Helden auf sich selbst auszugleichen, seinen Hang zum Grübeln, Jammern und Sich-Beknirschen. Verschwenderisch geht der Autor mit seinen literarischen Mitteln um; anders als sein Alter ego quälen ihn keinerlei Skrupel. Ihr wollt alles? Hier habt ihr es! scheint er seinen Lesern zuzurufen. Und gibt ihnen: Vor- und Rückblicke, direkte Ansprache und raffinierte Verwirrspiele, jenes Halbwissen, das die Neugier kitzelt und Überlegenheit vorgaukelt, Nebenhandlungen und Parallelaktionen, eingestreute Zeitungsartikel und Leserbriefe, die "schönste Geschichte der Welt" und wie sie verlorenging, Bemerkungen eines Hundes und über Gorillas, jede Menge Morde und Selbstmorde, eine Kettenerzählung um ein rosa Tischtuch und was nicht noch alles: Das ist Lesefutter satt und fett, verabreicht von einem allmächtigen und seine Allmacht sichtlich genießenden Schöpfer.
Dem Helden fehlt das Bewußtsein, von einem solchen Schöpfer geführt zu werden. Ihm erscheint sein Leben nicht als bunter Unterhaltungsstoff, sondern als chaotisch und absurd. Was die Leser bald wissen, erfährt Leo nie: daß er einen Sohn hat, den Ellen - eine "versteinerte Lüge" - als den eines anderen ausgibt. Kein Wunder, daß der Held sich seinen eigenen roten Faden durchs Labyrinth seiner Existenz zu legen versucht, und noch weniger verwunderlich, daß dieser Faden zu seiner Herkunft zurückführt. Seine erotische Unrast, sein unerfüllbares Bedürfnis nach Anerkennung und Erfolg sind für Kaplan, das "rennende Symptom alles Rat- und Richtungslosen", alles fruchtlose Versuche, seiner Abstammung zu entkommen. In dem Erfolgsautor und Frauenheld steckt ein ängstlicher, kleiner Junge, diagnostiziert er selbst, und fragt sich, ob er nicht seine Bestimmung verfehlt habe, nämlich ein "frommer chaser in einem polnischen Schtetl zu sein, mit liebender Frau und acht zauberhaften Töchtern".
Wie zur Bestätigung läßt de Winter seinen Helden am Ende in der jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt ankommen, den Sabbath feiern, den Gottesdienst besuchen. Ruhe und Geborgenheit erfüllen ihn, liest man auf der letzten Seite und hört den Gemeindevorsteher ebenjenen Witz erzählen, mit dem auf den Lippen Leos Vater gestorben ist. Leo, endlich bei sich? Der Leser kann nicht ernsthaft glauben, was der Held ihm und auch sich selbst weismachen will. Hat er doch nicht vergessen, daß zu Hause schon Betty wartet, die willige und erfinderische neue Gespielin. Und vermutet er zu Recht, daß auch sie ihn nicht wird halten können. Das Unglück der Helden ist das Glück der Leser (auch das unterscheidet E- und D- von reiner U-Literatur). Und deshalb gibt es jedes Jahr einen neuen Film von Woody Allen und hoffentlich bald wieder einen neuen Roman von Leon de Winter.
MARTIN EBEL
Leon de Winter: "Leo Kaplan". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 544 S., geb., 46,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Martin Ebel hätte neben der E- und der U- gern auch eine D-Klasse in der Literatur. Was der D-(Diogenes)Verlag so publiziert, meint er, changiert nämlich häufig irgendwo dazwischen, John Irving z.B. oder eben Leon de Winter. Und das ist recht so, hat der Rezensent sich mit diesem Buch doch auch fünfzehn Jahre nach dessen Erstveröffentlichung (im Original) noch immer gut amüsiert. Das Unglück des Helden, schreibt er, ist das Glück der Leser, und hat so den Inhalt des Romans in eine Nussschale gepackt. An Woody Allen fühlt er sich erinnert und - weil's um Schreibimpulse und - blockaden, um des Autors Herkunft und Poetik geht - immer wieder an den Autor selbst, an de Winter. Der aber inszeniert "varianten- und fintenreich" alles andere als Langeweile, erklärt Ebel, wirft mit seinen literarischen Mitteln nur so um sich und gibt dem Leser: "Vor- und Rückblicke, direkte Ansprache und raffinierte Verwirrspiele ... Nebenhandlungen und Parallelaktionen, eingestreute Zeitungsartikel" und, und, und. "Lesefutter satt und fett".
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"Heiter, verzweifelt, spielerisch und verfahren ist das Leben von 'Leo Kaplan', das Leon de Winter in seinem frühen Roman schillernd und melancholisch zugleich beschreibt." (Brigitte, Hamburg)
»Leon de Winter hat etwas zu erzählen, und er tut es so gut, daß man nicht genug davon bekommen kann.« Rolf Brockschmidt / Der Tagesspiegel Der Tagesspiegel