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Leon Saint Clair - ein Mann mit unschuldig betörendem Charisma - lebt bei seiner Freundin Konstanze in Berlin, die wohl weiß, dass sie vieles über ihn nicht weiß, aber deutlich sieht, dass ihn etwas quält, also schickt sie ihn zum Psychoanalytiker. Bei Doktor Zucker auf der Couch hat Leon Zeit, sich zu vergegenwärtigen, was ihm das Herz schwer macht: Erinnerungen an die Napoleonischen Kriege, an Preußens Blütezeit, an Bangkok im Jahr 1923, an die Jahre in einer Kommunalka in Moskau, an die großen Lieben Gertie und Elsbeth, an all die Menschen, die ihn benutzt haben, an all die, die er verraten…mehr

Produktbeschreibung
Leon Saint Clair - ein Mann mit unschuldig betörendem Charisma - lebt bei seiner Freundin Konstanze in Berlin, die wohl weiß, dass sie vieles über ihn nicht weiß, aber deutlich sieht, dass ihn etwas quält, also schickt sie ihn zum Psychoanalytiker. Bei Doktor Zucker auf der Couch hat Leon Zeit, sich zu vergegenwärtigen, was ihm das Herz schwer macht: Erinnerungen an die Napoleonischen Kriege, an Preußens Blütezeit, an Bangkok im Jahr 1923, an die Jahre in einer Kommunalka in Moskau, an die großen Lieben Gertie und Elsbeth, an all die Menschen, die ihn benutzt haben, an all die, die er verraten hat, die Abschiede, die Einsamkeit. Was soll man anfangen mit einem niemals endenden Leben? Was wird Leon tun?Ein großer Roman über das Leben eines Taugenichts mit abenteuerlichen Volten quer durch Geschichte und Geografie, ein Kaleidoskop aus Menschen, Orten, Ereignissen, erzählt mit leichtem Humor und großer Ernsthaftigkeit.
Autorenporträt
Gabriele Weingartner, Kulturjournalistin und Literaturkritikerin, wurde 1948 in Edenkoben/Pfalz geboren, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und Cambridge (Massachusetts). Nach zwei Jahrzehnten im pfälzischen St. Martin lebt sie seit 2008 wieder in Berlin. Zahlreiche Literaturpreise und Stipendien, war u. a. unter den Finalisten für den Alfred-Döblin-Preis 2013, Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Veröffentlichungen (Auswahl): Bleiweiß (2000), Die Leute aus Brody (2005). Bei Limbus: Tanzstraße (2010), Villa Klestiel (2011), Die Hunde im Souterrain (2014) und Geisterroman (2016).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2019

Alles ist gleich nah, gleich fern, gleich unverständlich
Gabriele Weingartner erzählt in "Leon Saint Clairs zeitlose Unruhe" von einem äußerst passiven Zweihundertjährigen

Das muss man erst einmal hinbekommen: die geschlagenen fünfzig Minuten der psychoanalytischen Stunde auf der Couch zu liegen und keinen Ton zu sagen, nicht nur einmal, sondern viele "Sitzungen" (ein paradoxer Begriff für die klassische Situation der Psychoanalyse) hintereinander. Leon Saint Clair schafft das, und Dr. Zucker im Sessel hinter ihm bewahrt die Contenance und bricht nicht standeswidrig das Schweigen von sich aus, sondern räuspert sich manchmal standesgemäß, und zuweilen hört Leon auch ein leises Schnarchen. Wir befinden uns im Jahr 2018, und Leon Saint Clair ist zu diesem Zeitpunkt weit über zweihundert Jahre alt. Geboren ist er nach eigenen Angaben zwischen 1780 und 1782 in Frankreich, gezeugt a tergo von einem Schlossherrn mit einer gerade in der Küche arbeitenden Dienstmagd. Anschließend rückt sich der Hausherr seine Allongeperücke wieder zurecht und inspiziert den Schlossgarten. Eine Szene, die in ihrer stummen Brutalität ohne weiteres aus Ariane Mnouchkines Film "1789" stammen könnte.

Sein Alter sieht man Leon nicht an. Er ist ein beinahe ganz normaler Mann des 21. Jahrhunderts, abgesehen von seiner Kleinwüchsigkeit, die seine Freundin Konstanze, kulturelle Reiseführerin für Seniorengruppen und Tochter eines stinkreichen Vaters, einmal zu der erstaunten Feststellung treibt: "Ich habe noch nie mit einem so kleinen Mann geschlafen."

Was Leon seinem Analytiker in den Stunden auf der Couch nicht erzählt, arbeitet gleichwohl während dieser Zeit in seinem Kopf und führt uns vom ancien régime über die Französische Revolution, vom Wien der Mozartzeit über Bangkok 1923 ins Moskau der stalinistischen Schauprozesse (wo der Held unter anderem zwei Figuren aus Koestlers "Sonnenfinsternis" kennenlernt), vor allem aber ins Berlin zur Zeit der Napoleonischen Kriege. Das alles nicht etwa schön linear, sondern als Zeitreise, die gern vorausgreift und zurückblendet. Damit das nicht ins Beliebige abrutscht, ist eine hohe erzählerische Disziplin und Ökonomie erforderlich. Die hat Gabriele Weingartner schon in früheren Romanen wie "Villa Klestiel" und "Die Hunde im Souterrain" bewiesen, und diese Disziplin tut ihre segensreiche Wirkung auch in diesem Roman.

Leons Hauptproblem besteht darin, dass er offensichtlich unsterblich ist, nicht als Geistesgröße (von der hat er reichlich wenig), sondern im physischen Sinn. Das macht ihn in der erzählten Zeit des Jahres 2018 zunehmend lebensmüde, weshalb seine Konstanze - die natürlich von Leons Unsterblichkeit keinen Schimmer hat - ihn zu ihrem ehemaligen Psychoanalytiker schickt. Keine schlechte Idee, denn Leon leidet unter anderem daran, dass er sein eigenes Leben nicht versteht.

Das ist nichts Außergewöhnliches und trifft vermutlich auf viele Menschen zu. Die haben in der Regel aber eine Zeitspanne von höchstens neun oder zehn Jahrzehnten durchleben und dabei einige kleinere und größere Umbrüche erleben müssen. Leon Saint Clair dagegen begegnet in seinem langen Leben Chamisso und Nicolai in Berlin, wird in Wien mit dem Werk des Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt und dessen abschreckenden "Charakterköpfen" konfrontiert, lernt Somerset Maugham im legendären Hotel Oriental von Bangkok in einer wenig vorteilhaften Situation kennen, verliebt sich dort in eine gewisse Gerti McInnis, von der er aber ebenso Abschied nehmen muss wie später von seiner genauso geliebten Elsbeth im eher berüchtigten Moskauer Hotel Lux. Abschied nehmen zu müssen, nichts und niemanden festhalten zu können gehört zum Los der Unsterblichkeit.

"Warum nur", fragt sich deshalb der Leon des Jahres 2018, nachdem er Konstanze zum Flughafen Tegel gebracht hat, "strengt mich das Abschiednehmen so maßlos an in den letzten Jahren? Und warum gelingt es mir immer weniger, meine Lust an der Einsamkeit dagegen ins Feld zu führen?" Die Antwort liegt auf der Hand: weil der Unsterbliche der Unzeitgemäße per se ist, was seine Einsamkeit steigert, je länger er lebt.

Das historische Panoptikum, das uns Gabriele Weingartner in rascher Szenenfolge darbietet, ist anschaulich. Zwar gilt ihre Hingabe erkennbar dem Berlin der Jahre um 1800 und der spätaufklärerischen Tradition, aber auch alle anderen aufgerufenen Bilder sind nicht mühsam zusammengeklaubt und schon gar nicht gebastelt. Die Autorin hat gegenüber ihrem Protagonisten allerdings den Vorteil, dass ihre Wanderung durch die europäische Geistes- und Schreckensgeschichte retrospektiv erfolgt und sie deshalb die Bedeutung einzelner Ereignisse hinreichend erfassen kann. Das erlaubt ihr, bei ihren Geschichten zwischendurch das Genre der Hochkomik zu bedienen, das bekanntlich mit nichts so eng verschwistert ist wie mit dem Tieftraurigen. Das trägt zur Unterhaltsamkeit des Romans bei.

Leon Saint Clair dagegen, der durch die Epochen gescheucht wird und dem alles gleich nah, gleich fern und gleich unverständlich bleibt, ist einfach nur dabei: ein deutlich passiver Held, der alles geschehen lässt, weil es ohnehin viel zu viel ist. Weniger als ein Roman über einen Taugenichts - Leon zeigt im Gegenteil deutliche Fähigkeiten als Notenstecher wie als Zeichner und Radierer und beweist zudem mehrfach sicheres Kunstverständnis - ist es vielmehr die Geschichte eines Parzival, der allerdings nicht im Ritterstande groß geworden ist und der auch keine Erlösung findet. Eher sagt er mit Büchner im berühmten Brief an die Braut: "Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem Gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall."

So nimmt Leon eines Abends mit der Mitarbeiterin einer Sterbehilfeorganisation den Zug nach Basel. Dieser Mitarbeiterin entschlüpft er nach der Ankunft allerdings, und der Tod des Unsterblichen ist aufgeschoben. In absehbarer Zeit, so hat die Autorin in einem Interview verraten, werden wir mehr von Leon Saint Clair erfahren.

JOCHEN SCHIMMANG

Gabriele Weingartner: "Leon Saint Clairs zeitlose Unruhe". Roman.

Limbus Verlag, Innsbruck 2019. 356 S., geb., 22,- [Euro].

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