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Produktdetails
  • Verlag: Abrams & Chronicle
  • 2000.
  • Seitenzahl: 384
  • Englisch
  • Abmessung: 340mm
  • Gewicht: 3250g
  • ISBN-13: 9780810935815
  • ISBN-10: 0810935813
  • Artikelnr.: 09781185
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Hände weg, Kritiker, Mona Lisa bleibt mein!
Entschlackung der Lasagne: Pietro Marani windet sich durch das malerische Werk Leonardos / Von Hubert Locher

Der Maler des wohl berühmtesten Gemäldes der europäischen Kunst war nie ein verkannter oder vergessener Künstler. Gestützt auf die Biographie von Vasari, verehrten etwa die deutschen Romantiker Leonardo da Vinci als das "Muster eines kunstreichen und dabei tiefgelehrten Malers" - so führte ihn Wilhelm Heinrich Wackenroder in jener frühromantischen Gründungsschrift mit dem vielsagenden Titel "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" ein. Doch Leonardo war eine biographische Konstruktion, die hauptsächlich auf Vasaris Lebensbeschreibungen basierte. Allgemein bekannt und einer der Grundpfeiler der akademischen Kunstlehre war jener Teil des theoretischen Werkes von Leonardo, der als "Malerbuch" schon 1651 erstmals gedruckt wurde. Das malerische Werk Leonardos und insbesondere die Zeichnungen blieben jedoch weitgehend unzugänglich und unerschlossen. Erst die seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts einsetzende kritische Leonardo-Philologie machte es sich zur Aufgabe, die Gemälde zusammenzutragen und mit den überlieferten Schriften in Beziehung zu setzen. Dies ist seither für manchen Gelehrten zur Lebensaufgabe geworden. Leonardo erforscht man nicht nebenher, Leonardo-Forschung ist eine Berufung.

Aber der Künstler existiert nicht nur für die Wissenschaft; der romantische Mythos scheint nach wie vor breit zu wirken. In der Einleitung zu einer fünfbändigen amerikanischen Anthologie hat Claire Farago von einem neuerlichen Leonardo-Revival gesprochen, das in den Arenen der großen Museen für ein breites Publikum inszeniert wird. Wer wollte ihrer Feststellung widersprechen, das Image und die Bilder Leonardos ließen sich zur Vermarktung von was auch immer verwenden, "from lasagna to software"? In diesem Künstler, von dem das interessierte Publikum zu wissen glaubt, daß ihm die intellektuelle Auseinandersetzung mit den heute streng getrennten Sphären der Naturwissenschaften und der Kunst selbstverständlich war, scheint man eine Sehnsuchtsfigur zu erkennen, die die verlorene Ganzheitlichkeit intellektueller Weltwahrnehmung symbolisiert.

Mit Tendenzen dieser Art hat es wohl zu tun, daß der Münchner Verlag Schirmer/Mosel offensichtlich mit Erfolg in seinem ansonsten fast ausschließlich der modernen und zeitgenössischen Kunst, Fotografie und Mode gewidmeten Programm auch eine Reihe von Leonardo-Büchern führt. Schon 1990 hat man eine von André Chastel besorgte, von Marianne Schneider neu ins Deutsche übersetzte Ausgabe von Leonardos Schriften zur Malerei veröffentlicht. Eine blendend schöne Edition des Wasserbuches von 1996 wurde vom Publikum begeistert angenommen und noch in den entlegensten Zeitschriften besprochen. Erst kürzlich erschien der schwierige Traktat "Der Vögel Flug" in einer zweisprachigen Ausgabe mit faksimileartigen Abbildungen (F.A.Z. vom 21. März 2001). Das Programm wird jetzt komplettiert mit der Übersetzung von Pietro C. Maranis 1998 in italienischer Sprache erschienener umfassender Bildmonographie zum malerischen Werk.

Es ist ein schön gestalteter, großformatiger Bildband geworden, in dem nicht nur alle Gemälde Leonardos in fast durchgehend vorzüglicher Qualität abgebildet sind, sondern ebenso eine Anzahl der wichtigsten Zeichnungen. Als Besonderheit vermerkt die Einleitung, daß "entgegen den üblichen wissenschaftlichen Gepflogenheiten" eine Anzahl von Details aus Gemälden und Zeichnungen stark vergrößert gezeigt wird. Das ist freilich untertrieben, denn fast zu jedem Gemälde wird eine Seite, eine Doppelseite oder gar deren zwei solchen Details gewidmet, so daß man die Bewunderung Vasaris nachvollziehen kann, der an der Mona Lisa unter anderem lobte, wie "der Mund ... in seinen Winkeln und Rändern, wo das Rot der Lippen mit der Farbe des Gesichtes sich vereint, nicht wie gemalt, sondern in Wahrheit wie Fleisch und Blut" erscheint.

Das Buch hat dabei durchaus wissenschaftlichen Anspruch, wie schon der Anhang mit Dokumenten in den Originalsprachen belegt. Keine Biographie soll es sein, aber auch kein Werkkatalog, vielmehr ein "Interpretationsversuch zur Entstehungsgeschichte" der Malerei Leonardos, der die Erkenntnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte zusammenfaßt. Sechs Kapitel stellen das Werk von den Anfängen in der Werkstatt seines Lehrers Verrocchio bis zu den späten Sintflutzeichnungen vor, ohne aber einem narrativen Faden zu folgen. Alle Gemälde von oder mit Beteiligung Leonardos werden in mehr oder weniger chronologischer Reihenfolge behandelt, wobei man es mit Passagen sehr unterschiedlicher Qualität und Umfangs zu tun bekommt. Die Ungleichgewichte haben ihre Ursache darin, daß weite Abschnitte des Buches für andere Anlässe geschrieben und für die Buchversion lediglich angepaßt wurden.

Methodisch bewegt sich Marani auf dem Gebiet der Stilkritik, der Zuschreibungs- und Händescheidungswissenschaft. Dies ist kaum das populärste Feld der Kunstgeschichte, auch nicht das spannendste der Leonardo-Forschung. Dennoch kann man mit Marani gerade zum Frühwerk, der Mitarbeit Leonardos in Verrocchios Werkstatt, interessante Beobachtungen machen, selbst wenn die verschachtelten Hypothesengebäude zu einigen Zuschreibungen (Madonna Dreyfus, Washington; Verkündigung, Paris) weit von einer stichhaltigen Beweisführung entfernt sind. Selten führt die Stilkritik zu einer wirklichen Charakterisierung. Was heißt es schon, daß in der Anbetung der Könige "Einflüsse des Reliefstils Lorenzo Ghibertis zu spüren" sind, daß die "monumentale Körperbildung" ohne das "Vorbild Masaccios kaum zu denken" und dies alles "mit dem Sinn für Dynamik eines Donatello" gepaart ist? Gerne erführe man genauer, was denn eigentlich unter den "nicht zu übersehenden skulpturalen Anklängen" in einem Gemälde wie der "Anbetung der Könige" zu verstehen ist - vorstellen kann man sich da allerhand. Es wird nicht verständlicher durch die Erklärung, daß Leonardo beim vermuteten Studium der antiken Statuen im Besitz Lorenzos de Medici "eine malerische Auffassung der Skulptur" vertrete und zugleich eine "skulpturale Auffassung von Malerei". Und muß man wirklich immer wieder unterstreichen, daß Leonardo hier und dort "revolutionär" und "völlig unkonventionell" arbeitet und natürlich "großartige" Effekte erzielt?

Überliest man solche Kunsthistorikerprosa, fasziniert der behandelte Stoff allemal. Zu den spannendsten Geschichten um Leonardo gehört die Frage nach den zwei Versionen der "Felsgrottenmadonna" (Paris, London), der ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Marani referiert die Forschungsresultate verschiedener Autoren zu diesem als Bestandteil eines mehrteiligen Altarschreines entstandenen Gemälde und ergänzt sie hier und da. Etwas bizarr ist sein Vorschlag, eine 1483 für eine "Marienfigur" des Schreines gestiftete goldene Halskette wäre an dem einen Gemälde Leonardos, nämlich der später entstandenen Londoner Version, befestigt gewesen, wofür Marani zwei inzwischen mit Gips gefüllte, mittels einer Röntgenaufnahme sichtbar gemachte Löcher über den Schultern der Madonna als Indiz anführt. Aber es sind der Hypothesen gar zu viele, als daß man mit dem Autor den so komplizierten Fall nun als geklärt abschließen möchte.

Immer schon galten die im vierten Kapitel behandelten Porträts als Höhepunkte von Leonardos Kunst. Noch vor hundert Jahren erkannte man nur die Mona Lisa und die Ginevra Benci als eigenhändige Porträts Leonardos an. Heute zählt man insgesamt fünf oder sechs Stück. Hier hat die Kritik echte Fortschritte gemacht. Die erläuterten Zuschreibungsgeschichten belegen, daß mancher der älteren Leonardo-Kenner aufgrund völlig unzureichenden Fotomaterials zu seinem negativen Urteil kommen mußte. Zu Unrecht immer noch umstritten ist nach Marani vor allem die sogenannte "Belle Ferronnière" aus dem Louvre, die man immer wieder mit Lucrezia Crivelli, einer Geliebten des Mailänder Herzogs Ludovico il Moro, identifiziert hat.

Mehr Einigkeit läßt sich inzwischen zur "Dame mit dem Hermelin" erzielen, in dem schon andere Autoren erstmals die Umsetzung jener Aspekte erkannt haben, die Leonardo in seinem Malerbuch dem Porträtisten empfiehlt, namentlich des Grundsatzes, in den Bewegungen des Körpers sollten sich die Bewegungen der Seele abzeichnen, oder des Hinweises, das Gesicht solle nicht in dieselbe Richtung weisen wie die Schultern. Die so elegant frisierte Dame mit der schlanken Hand wird seit längerem als Cecilia Gallerani, ebenfalls eine Geliebte Ludovicos il Moro, identifiziert, der 1488 in den neapolitanischen Orden des Hermelin aufgenommen worden war, worauf dieses Tier ebenso anspielt, wie es nach Leonardos eigenen Notizen ein Symbol der Reinheit und Bescheidenheit ist. Damit ist noch lange nicht die Komplexität dieses Gemäldes erschlossen. Hier zeigt sich Leonardo als Künstler, dem es auch im Bereich des Porträts gelingt, einen Anspielungsreichtum einzubringen, den man damals erst von erzählerischen Gemälden erwartete.

"Leonardo da Vinci hätte es nicht besser malen können", war schon zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts ein topisches Lob für ein Bildnis. Dennoch ist es auch in seinem berühmtesten Werk, der Mona Lisa, weniger Ähnlichkeit, die Leonardo interessiert, als lebendige Idealität. Das Lächeln dieser Dame faszinierte schon Vasari und verursachte bei einem Ästhetizisten wie Walter Pater eine derartige Sinnes- und Gedankenverwirrung, daß er die Abgebildete im gleichen Atemzug mit Vampiren und mit der Muttergottes verglich. Roberto Longhi, der verehrte Ahne aller italienischen Zuschreibungswissenschaftler, war da nüchterner: Er hätte ein Mädchenbildnis von Renoir der doch allzu idealschönen Italienerin vorgezogen. Diese Splitter einer reichen und bunten Rezeption machen viel vom Zauber des ganzen Leonardo aus. Marani interessiert sich dafür wenig und referiert sie nebenher mehr als Skandal. Er möchte Leonardo lieber von solcherlei "Schlacken der romantischen und dekadenten Überformung" gereinigt wissen.

Zumindest von den materiellen Verunreinigungen der Nachgeborenen hat man erst kürzlich das Hauptwerk dieses Meisters des natürlichen Ideals befreien können: das "Letzte Abendmahl" im Refektorium von Santa Maria delle Grazie in Mailand - unter maßgeblicher Beteiligung von Marani, der seit 1993 als stellvertretender Leiter die Arbeiten begleitete und umfassend dokumentiert hat. Im vorliegenden Buch ist die Behandlung des Werks kurz geraten, eingebettet in eine Abhandlung über die Antikenrezeption Leonardos, bei der es sich um die nur geringfügige Umarbeitung eines bereits 1995 erschienenen Artikels handelt. Lange Zeit ist Leonardos Verhältnis zur Antike falsch bewertet worden, obgleich die Zeugnisse zahlreich sind, die seine intensive Beschäftigung mit ihr belegen. Seit der Mailänder Zeit versuchte Leonardo das Interesse an den in der Natur verborgenen und aus der Antike zu eruierenden Gesetzen mit dem konkreten Studium am Modell zu verbinden. Das Resultat ist diese irritierende Verbindung von Lebendigkeit und Ordnung, dieses geordnete Chaos der in höchste Aufregung geratenen Apostel, welches Leonardo im "Letzten Abendmahl" darstellte, gebändigt durch die stille Figur Christi, in dessen einem Auge sich die Fluchtlinien der strengen Perspektivkonstruktion bündeln. Leonardos Bildsprache ist bereits so eigen geworden, daß er den Wettstreit mit der Antike in selbstbewußter Art und ohne zu zitieren führt. Dennoch scheint von 1503 an die Antikenrezeption in allen Werken eine Rolle zu spielen. Drei Dinge sind es Marani zufolge, die sich in diesen späten Werken verbinden: Antikenstudium, systematische Anatomie und Zeichnung nach dem lebenden Modell.

Mit der heiligen Anna Selbdritt im Louvre diagnostiziert Marani dann die "endgültige Ablösung vom Exemplum der Natur". Der späte Leonardo studiert zwar weiterhin die Anatomie des Menschen und die physische Gestalt der Natur, aber immer stärker erscheint die Natur schematisiert, gelegentlich auch symbolisch überhöht. Viele der späten Zeichnungen, die im letzten Abschnitt des Buches wiederum prächtig und großformatig abgebildet sind - doch leider, wie im ganzen Band, ohne jede Angabe von Maßen und Techniken -, zeigen nicht einfach, wie das Wasser aussieht, sondern wie es sich unter bestimmten Bedingungen bewegt. Zu Recht hebt Marani gegen Ende mit Ernst H. Gombrich hervor, daß Leonardos Bedeutung und "Modernität" nicht so sehr in seinen Entdeckungen und technischen Visionen liegt, sondern vielmehr in seinem Verständnis von Wissenschaft als der Fähigkeit, ein Phänomen über die rein visuelle Wahrnehmung hinaus im Geist weiterzuentwickeln.

Pietro C. Marani: "Leonardo". Das Werk des Malers. Aus dem Italienischen von Erdmuthe Brand, Uta Grabowski, Bettina Gronenberg. Verlag Schirmer/Mosel, München 2001. 384 S., 293 Tafeln, davon 205 in Farbe, geb., 198,- DM.

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