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Daniel Arasse zeigt einen Leonardo da Vinci ohne Mythos und Magie. Er porträtiert das Renaissance-Genie als eine der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten ihrer Zeit. Er berücksichtigt auch da Vincis Wirken an den Höfen von Mailand und Parisund zeigt neben dem Maler und Zeichner auch den Forscher und Erfinder.

Produktbeschreibung
Daniel Arasse zeigt einen Leonardo da Vinci ohne Mythos und Magie. Er porträtiert das Renaissance-Genie als eine der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten ihrer Zeit. Er berücksichtigt auch da Vincis Wirken an den Höfen von Mailand und Parisund zeigt neben dem Maler und Zeichner auch den Forscher und Erfinder.
Autorenporträt
Daniel Arasse ist Directeur d'etudes an der Pariser Ecole des Hautes etudes en sciences sociales.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.01.2000

Manchmal lächelt Mona Lisa
Ein Bericht aus der Werkstatt der Genies – Daniel Arasse hat Leonardo bei der Arbeit beobachtet
Eine bewegte Zeit, was sie in Bewegung brachte, erfahren wir noch heute. Die Lebens- und Arbeitszeit von Leonardo da Vinci, die Jahre um 1500, der Anfang des Cinquecento, das ist auch die Zeit von Corregio, Michelangelo, Giorgione, Raffael und Tizian, und, nördlich der Alpen, von Holbein, Grünewald und Dürer. Am Anfang dieser – zumindest was die Konzentration angeht – wohl wichtigsten Epoche der Kunst wird von einem Italiener (wenn auch in spanischem Auftrag) ein vierter Kontinent entdeckt. Die Künstler interessieren sich für die mathematischen Gesetze der Perspektive und die Anatomie des Körpers. Sie wollen die Kunst auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen, sie sind nicht länger nur gewöhnliche, wenn auch ehrenvolle Handwerker, die auf Bestellung liefern, sondern Meister, die die gleiche Anerkennung fordern, wie sie Gelehrten und sogar Dichtern längst zuteil wird.
Die gesellschaftliche Stellung, auch für Leonardo ein zentrales Anliegen, war in einer Zeit, als die Herrscher von Stadtstaaten sich zur Mehrung ihres Ruhmes Künstler und Baumeister in Dienst nahmen, Grundlage des Überlebens. Aber wer sich beim Arbeiten die Finger schmutzig machte, gehörte bislang nicht an den Tisch der Herrschenden. Diese Trennung von freien und mechanischen Künsten, von theoretischem und praktischem Wissen wurde zu jener Zeit aufgehoben, diese Veränderung wird Grundlage der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert. Das Cinquecento war eine Zeit des Aufbruchs, mit kühnem Unternehmungsgeist wurden neue Ufer angesteuert, sei es unter der Erdoberfläche, jenseits der Weltmeere oder in der Ferne der Zeit. Leonardo ist der älteste der großen Meister.
Immens war seine Neugierde auf alles, was abgelegen war, ungeprüft und nicht zugelassen, radikal sein Schnitt ins Innerste und der Schritt hinaus in die Welt. Die gesamte sichtbare Welt wollte er erforschen, im Großen das Kleine und im Kleinen das Große entdecken, die Regeln brechen, um sie, die das Ganze zusammenhalten, zu verstehen. Für seine Zeit war er ein ungebildeter Mann, als der er sich auch empfand. Statt die alten, nach wie vor gültigen Autoritäten zu Rate zu ziehen, die Bibel und die Autoren der Antike, wagte er das Experiment. Er sezierte Leichen und interessierte sich für die Harmonien der Töne, er erforschte den Vogelflug und die Entwicklung des Kindes im Mutterleib, er entwarf Fluggeräte und das erste Fahrrad.
Die Epoche mag Standards setzen, das Werk eines Einzelnen bedeutet immer eine Abweichung. Daniel Arasse geht es – wie schon in seinem Buch über Vermeer – um die Voraussetzungen der Kunst, hier in einer Zeit, die Voraussetzungen für spätere Zeiten schuf. Er nennt sein Buch über Leonardo eine Werkanalyse und versucht, mit Hilfe einer besseren Einsicht in die Bedingungen von Leonardos Berufsausübung die Grenzen genauer zu ziehen, innerhalb derer sich sein Genie entfaltete. „Gott ausgenommen”, so beginnt Arasse sein Buch, „ist wahrscheinlich über keinen Künstler so viel geschrieben worden, wie über Leonardo. ”
Raffaels Vater Giovanni Santi bezeichnete bereits in den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts Leonardo als so „göttlich” wie Perugino, den späteren Lehrmeister Raffaels. Vasari erkannte ihm eine maßgebliche Rolle als Wegbereiter der bella maniera des Cinquecento zu. Beide Behauptungen gründen auf die Phantasie eher als auf Beobachtung. Schon zu Lebzeiten verdankte Leonardo seinen Ruf zum Großteil Gerüchten, so dass jede nachfolgende Epoche sich anhand weniger, unzuverlässiger Indizien ihren Leonardo erfinden musste. Das Ziel, das sich Arasse am Anfang seines Buches selber stellt, ist es, einen Leonardo zu erfinden, der zu den Voraussetzungen seiner Zeit passt.
Meister der Bricolage
Die Unordnung war die Grundlage von Leonardos Arbeit: Was er tat, war geprägt von Bastelei, von Bricolage – von seiner Unfähigkeit, Systeme zu errichten, mit denen er die handwerkliche Struktur seines Denkens zu überwinden hoffte. Seinen Versuchen zur Systematisierung des Wissens zum Trotz präsentierte sich Leonardos wissenschaftliche Forschungen in Gestalt von Einzelbeobachtungen, die konkreten Untersuchungen entstammten. Wie selbstverständlich bezieht sich Leonardo dabei immer wieder auf eine Ordnung, der vorgeblich sein Werk unterliegt: „Wie im 21. Lehrsatz des 4. Buches meiner Theorie bewiesen wird . . .” Geschrieben wurde das freilich nie, mehr als eine Gliederung taucht nie auf. Andererseits, so Arasse, ist gerade diese Unordnung fruchtbar, dank dieser Bastelei – die zu tun hatte mit seiner Ausbildung – war Leonardo nicht völlig von den Wissensstrukturen seiner Zeit abhängig. Das Bewusstsein einer spielenden, variierenden, sich in ihren Gestalten weder festlegenden noch erschöpfenden Natur stand im Zentrum von Leonardos Denken und seiner Kunst. Alles war in ständigem Entstehen und Vergehen begriffen, alles in Bewegung.
Eine Linie war für ihn nicht eine Abfolge von Punkten, sondern wurde durch die Bewegung eines Punktes erzeugt. Eine Fläche bildete sich nicht aus Linien, die wie Fäden in einem Tuch aneinandergereiht sind, sondern aus der Transversalbewegung einer Linie. Ebenso die Zeit, die wie der Raum ins Fließen gerät: Wie der einzelne Punkt in seiner Bewegung zur Linie und Fläche wird, gilt ihm die Zeit als Bewegung des Moments. „Der Moment ist zeitlos. Momente sind die Grenzen der Zeit. ” Eine Epiphanie darstellen heißt, die unsichtbare Bewegung des Augenblicks, heißt die Ausstrahlung eines außergewöhnlichen Ereignisses auf die Beobachter malerisch sichtbar machen. So erhält der „Tumult” etwa des Abendmahls seinen Sinn: Das Gemälde schildert den Moment, in dem die Geschichte eingreift, Transzendenz sichtbar wird.
Der gegenwärtige Augenblick macht Geschichte, weil er dynamisch befrachtet ist. Dem Moment wohnt eine „geistige Kraft” inne, ihre Wirkung zeigt sich in der Form dessen, worauf sie einwirkt. Das Wort „geistige Kraft” benutzt Leonardo im Übrigen auch für die Seele des Künstlers, seine Energie, die dem ähnelt, was wir heute als Unbewusstes bezeichnen könnten. Leonardo sucht die Form dieser Bewegung. Zu sehen ist das etwa an seinem neuartigen Umgang mit der Vorzeichnung, auf der die Endform aus dem Urchaos erster Striche herausgelöst wird, Bewegung im Stillstand, die sich allmählich durch Überlagerung der Linien beim Zeichnen gebildet hat.
Diese neue Methode einer langsamen Annäherung beruht auf der Überzeugung, dass es zwischen „der Plastik der Bewegung in der Natur und der Bewegung der zeichnenden Hand eine Entsprechung gibt”. Hat sich die geschwungene Linie der wahren und schönen Form herausgelöst, sorgt das Sfumato, das Verwischen der Konturen, für die Vitalität der Form – wie Vasari sagte, indem es das, was „zwischen dem Gesehenen und dem Nicht-Gesehenen” ist, herausarbeitet. So kann es passieren, dass einem Mona Lisa mal lächelnd erscheint, mal ernst.
Dieser Rhythmus, die Form, die aus der Bewegung wird, bestimmt auch das Buch von Arasse. Einzelne Momente des Werkes werden herausgestellt und in ihrer Zeit beschrieben. Nicht immer am Nacheinander der Biografie orientiert, stellen sich doch in der Folge der Ereignisse und Entdeckungen dieselben Fragen wieder. Und es werden für die unterschiedlichsten Gebiete dieselben Antworten wie Fragen gefunden. So wie Leonardo Begonnenes liegen lässt und es erst später wieder aufnimmt, beschreibt auch Arasse immer wieder unter anderen Gesichtspunkten das Werk im Rahmen seiner Zeit, bis es endlich diesen Rahmen sprengt. Die Frage nach der Persönlichkeit Leonardos wird an letzter Stelle gestellt, und dort zeichnet Arasse das Porträt des Künstlers als Gaukler, der ebenso Schöpfer seiner selbst ist wie seiner Werke. Diese aus einem endlosen Fluss gewonnene Flüchtigkeit macht die Faszination dieser Biografie aus, in der das Werk an der Stelle der Anekdote steht. Seit Jean Starobinskis Montaigne hat es wohl kein Buch dieser Art mehr gegeben.
OLIVER VOGEL
DANIEL ARASSE: Leonardo da Vinci. Aus dem Französischen von Stefan Barmann und Regina Schmidt-Ott. DuMont Verlag, Köln 1999. 546 S. , 168 Mark.
Arbeit am Bild: das Ausflecken von Großvergrößerungen, ca. 1960. Ein Moment der Selbstreflexion im Werk des Fotografen Hans Peter Klauser (1910–1989) aus dem Appenzellerland – nun ist ihm eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich gewidmet, bis 6.  Februar: „Vom Staunen erzählen” (Fotografien 1933–1973. Hrsg. Peter Pfrunder, Offizin Verlag, 184 S. , 73 Mark).
Foto: Verlag
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2000

Mehr Sprengmeister als Stern der Renaissance
Daniel Arasse holt das Universalgenie Leonardo da Vinci vom Himmel auf die Erde

Gottähnlich zeigt ihn das berühmte Turiner Selbstporträt in Rötel; so olympierhaft, dass manche schon an seiner Urheberschaft zweifelten. Und wenn es eine Maske wäre, eine der vielen, die Leonardo da Vinci sich vors Gesicht hielt, der schon seinen Zeitgenossen seltsam vorkam, ein Erfinder von cose bizarre? Das bestrickende Auftreten des Höflings, der weltläufige Gesellschaftsmensch und Verfasser unheimlicher Rätsel wären dann weitere Varianten dessen, was Marcel Duchamp "das Spiel zwischen mir und meiner Person" genannt hat. Aber wozu dieses Rollenspiel um Person und persona, dem, was er war, und dem, was er scheinen wollte? Was hatte er zu verbergen, oder, anders gesagt, was wollte er sich vorbehalten?

In jedem Fall den Freiraum eigener Erfahrungen und Experimente. Den konnte ihm, im Unterschied zur städtisch-handwerklichen Auftragssituation, nur ein Hofamt verschaffen, weshalb Leonardo sich fast unterwürfig um solche Anstellungen bemüht hat und im Herzogtum Mailand auch für längere Zeit eine Sinekure fand. Dort hatte er sich im Dienst der Sforza um Befestigungen und Ballistik, um die Kanalisation und das Theater zu kümmern, Tätigkeiten, die seinen Forschungen und seinem Wissensdrang entgegenkamen. Als Künstlerindividualität, ja als Original anerkannt, hielt er in der lombardischen Metropole quasi selber Hof, scheinbar untätig. "Er arbeitet wenig", fand ein Besucher, und so sah es auch der französische König, der ihn im Alter nach Amboise holte; dort soll er in den Armen Franz I. gestorben sein.

Doch erlaubte es die höfische Fassade auch, eigenen Interessen nachzugehen. Letztlich ging es ihm darum, Kunst und Wissenschaft zu anschaulichen, mit dem Zentralorgan des Auges aufgefassten und durch die zeichnende Hand klar ausformulierten Erkenntnissen zu bündeln, in einer Einheit von Beobachtung und Fiktion. Außer Gott und der Metaphysik hat sich Leonardo mit fast allen Erscheinungen der sichtbaren wie der energetischen Welt beschäftigt: Mechanik, Physik und Akustik, Geographie, Gesteinskunde und Wetter, Astronomie, Vogelflug, den Elementen und ihren Verheerungen.

Das dazu nötige Fachwissen hat Leonardo nicht besessen. Er war, das ist der Tenor dieses monumentalen, in Text und Bild anschaulich aufeinander abgestimmten Werks des französischen Kunsthistorikers Daniel Arasse, keineswegs der Übermensch, der er offenbar zu sein vorgab und als welchen ihn, zwischen Geniekult und Mythomanie, seine Bewunderer von Vasari bis Paul Valéry immer wieder neu erfunden haben - bei spärlichsten biografischen Anhaltspunkten. Leonardo, dem außerehelichen Sohn eines Florentiner Notars, fehlte die ordentliche Schulausbildung. Weder konnte er genügend Latein, um anspruchsvolle Schriften selber zu lesen, noch war er in Mathematik sonderlich beschlagen; hier ließ er sich von Koryphäen wie Luca Pacioli helfen. Nach der Abc-Schule früh zu dem vielseitigen Andrea del Verrocchio in die Lehre gekommen, hatte er sofort künstlerische Aufgaben zu lösen, nach damaliger Werkstattpraxis ohne vorherige Unterweisung.

Diese Von-Fall-zu-Fall-"Methode" praktizierte er, so Arasse, auf allen ihn fesselnden Gebieten. Mittels Notizen, beschreibenden Sätzen und visionären Passagen versuchte er in Spiegelschrift, seine experimentell gewonnenen Einsichten niederzulegen; abstraktes Denken war nicht seine Sache. Leonardo hat an die sechstausend Seiten illustrierter Aufzeichnungen hinterlassen, die in ihrer intuitiven Schärfe der Beobachtung, der dichterischen, doch nicht emotionalen Vergegenwärtigung einmalig sind. Aber nie habe er das definitive Stadium der Abhandlung erreicht; sogar der berühmte Traktat über die Malerei wurde nachträglich zusammengestellt. Leonardo begriff das Universum noch in Analogie zum Körper; das trennt ihn von der modernen Wissenschaft. Doch gerade bei der Darstellung seiner spiralig fortschreitenden Arbeitsweise bewährt sich die thematische Anordnung des Buchs.

Mit seiner Universalität, betont Arasse, habe Leonardo keineswegs allein dagestanden. Viele Renaissancekünstler waren gleichzeitig Festimpresario und Festungsingenieur, Musiker und Dichter. So hielt es ein Francesco di Giorgio, so zog man von Hof zu Hof. Doch Leonardo wollte es genauer wissen und machte sich alles zu Eigen. Die Auswertung seiner Manuskripte zeigt, dass er die Probleme systematisierte, die ihnen unterliegenden Regeln der Mechanik und physikalischen Gesetze zu erfassen strebte, um sie auf seine eigenen Erfindungen anzuwenden.

Unbelesen, schlecht in Latein

Auch was sie angeht, relativiert der Verfasser Leonardos quasi "faustisches" Ingenieursgenie. Als Erfinder hatte er durchaus Vorläufer und zeitgenössische Konkurrenten. Bestimmte utopische Konstruktionen wie das Fahrrad, das Tauchboot, die Flugapparate waren seiner Zeit voraus. Die mörderisch aussehenden Mehrfacharmbrüste und Schnellfeuerschlangen dagegen waren in der damaligen Kriegstechnik üblich. Über den findigen Ingenieur hinaus, das hatte schon Alexandre Koyré gesehen, war Leonardo auch Technologe; er bemühte sich um das selbsttätig funktionierende Ineinandergreifen seiner - inzwischen nachgebauten - Maschinen als Frühform der Automation. Künstler und Forscher in einer Person, hat er, so weit sie ihm vermittelt wurden, die Postulate des Aristoteles und offenbar auch Gedanken des Nikolaus von Kues reflektiert. Nicht ohne Koketterie nannte der Autodidakt Leonardo sich selbst einen "Unbelesenen".

Auf dem Gebiet der Ästhetik rieb er sich an Albertis monokularer Zentralperspektive. Ihr unveränderlicher Beobachterstandpunkt widersprach seiner dynamischen Seherfahrung, die nirgends scharf konturierte Formen oder Flächen wahrzunehmen vermochte. Entsprechend enthält Leonardos berühmtes "Abendmahl" mehrere Sehschneisen, die dem Blick des selber mobilen Betrachters auf ein transitorisches Geschehen angemessen sind - was übrigens in Andy Warhols Paraphrasen zu "The Last Supper" durchscheint.

Für Leonardo war alles von Kräften beseelt und in Bewegung - der Kosmos wie die belebten und unbelebten Körper; es galt, die "Natur" in ständigem Übergang vorzuführen. Deshalb das Sfumato als Verschleierung einer Welt im Werden, bestehend aus Kurven und Krümmungen wie die Wolken, die Flüsse, die Sintflut und das Haar. Das menschliche Antlitz, man denke an das Turiner Selbstporträt, ist von dieser Strömungslehre nicht ausgenommen. Köpfe und Körper werden ohne feste Umrisse, in Licht und Schatten dargestellt. Sie zeigen - ein Beispiel ist die sphinxhafte "Mona Lisa" - gleichsam vorindividuelle Gesichter, morphologisch vergleichbar der Bergwelt im Hintergrund der "Anna Selbdritt" oder dem mineralischen Dekor der "Felsgrottenmadonna". Grotten verband Leonardo, wie aus berühmten Sätzen, einer Art persönlichem Höhlengleichnis, hervorgeht, mit Chaos und Unerforschtem. Sie waren Gleichnis des Unbewussten, dessen Botschaften er sich wohl als Erster geöffnet hat.

Für Arasse bedeutet es keinen Widerspruch zum Sfumato als Grenzverwischung, dass Leonardos berühmte, auch von Medizinern als Leistung gewürdigte anatomische Zeichnungen den menschlichen Körper so detailgetreu aufdecken. Auch hier ist manches in rhetorischer Verve überbetont, monströs oder gar fantastisch arrangiert. Trotzdem scheint bei Sektionen wie bei dunstig gemalten Bildern das gleiche Kunstwollen am Werk, nämlich etwas gemeinhin, zumal auf einen Blick Unsichtbares zu visualisieren, als scharfen Schnitt hier, als fließende Form dort.

Eines der häufigsten Elemente bei Leonardo ist die aufsteigende Spirale; seine Gemäldekompositionen sind aus solchen grafischen Bewegungsstrudeln herausgefiltert. Er arbeitete an mehreren Projekten gleichzeitig, entwickelte verschiedene Lösungen und setzte bestimmte Motive immer wieder ein. Porträts oder Madonnen brachte er meist noch zu Ende. Komplexere Vorhaben aber wie der "Heilige Hieronymus", die "Anbetung der Könige", ein Reiterdenkmal oder die "Schlacht von Anghiari" für den Palazzo Vecchio in Florenz wurden nicht abgeschlossen. Vollendung mochte für Leonardo Einschränkung der Möglichkeiten und damit Erstarrung bedeuten.

Natürlich war mit dieser meditativ-simultanen Arbeitsweise ein Großbild wie das Mailänder "Abendmahl" nicht al fresco zu bewältigen; die Fixierung, die Leonardo stattdessen wählte, hielt nicht und hinterließ die berühmteste Ruine der Kunstgeschichte, ein work in regress von Anfang an. Die Breitwand im ehemaligen Refektorium von Santa Maria delle Grazie vermittelt die Schockwelle, welche die Jünger nach Christi Worten erfasst hat, einer von ihnen werde ihn verraten; äußere und innere Bewegung decken sich.

Schillernd präsentiert sich das Spätwerk. Dass der fast nackte Johannes der Täufer als Bacchus durchgehen konnte, deutet an, dass es hier wie schon vorher bei der "Leda" und, dezenter, bei der "Mona Lisa", um den Schönheitskult des Malers ging, um seine Homoerotik, seine Träume von Doppelgeschlechtlichkeit. Leonardos Werk ist nicht auszuschöpfen, das gibt auch Arasse nach fünfhundert Seiten zu. Er hat den Gottähnlichen heruntergeholt auf die Erde mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten. Leonardo wollte sie offenbar alle ausschöpfen, keiner Einheitsformel auf der Spur, wohl aber einem durchgehenden Gesamtrhythmus.

GÜNTER METKEN

Daniel Arasse: "Leonardo da Vinci". Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Barmann und Regina Schmidt-Ott. Dumont Buchverlag, Köln 1999. 546 S., 330 Farb- u. S/W-Abb., geb., 168,- DM.

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