Daniel Arasse zeigt einen Leonardo da Vinci ohne Mythos und Magie. Er porträtiert das Renaissance-Genie als eine der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten ihrer Zeit. Er berücksichtigt auch da Vincis Wirken an den Höfen von Mailand und Parisund zeigt neben dem Maler und Zeichner auch den Forscher und Erfinder.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2000Mehr Sprengmeister als Stern der Renaissance
Daniel Arasse holt das Universalgenie Leonardo da Vinci vom Himmel auf die Erde
Gottähnlich zeigt ihn das berühmte Turiner Selbstporträt in Rötel; so olympierhaft, dass manche schon an seiner Urheberschaft zweifelten. Und wenn es eine Maske wäre, eine der vielen, die Leonardo da Vinci sich vors Gesicht hielt, der schon seinen Zeitgenossen seltsam vorkam, ein Erfinder von cose bizarre? Das bestrickende Auftreten des Höflings, der weltläufige Gesellschaftsmensch und Verfasser unheimlicher Rätsel wären dann weitere Varianten dessen, was Marcel Duchamp "das Spiel zwischen mir und meiner Person" genannt hat. Aber wozu dieses Rollenspiel um Person und persona, dem, was er war, und dem, was er scheinen wollte? Was hatte er zu verbergen, oder, anders gesagt, was wollte er sich vorbehalten?
In jedem Fall den Freiraum eigener Erfahrungen und Experimente. Den konnte ihm, im Unterschied zur städtisch-handwerklichen Auftragssituation, nur ein Hofamt verschaffen, weshalb Leonardo sich fast unterwürfig um solche Anstellungen bemüht hat und im Herzogtum Mailand auch für längere Zeit eine Sinekure fand. Dort hatte er sich im Dienst der Sforza um Befestigungen und Ballistik, um die Kanalisation und das Theater zu kümmern, Tätigkeiten, die seinen Forschungen und seinem Wissensdrang entgegenkamen. Als Künstlerindividualität, ja als Original anerkannt, hielt er in der lombardischen Metropole quasi selber Hof, scheinbar untätig. "Er arbeitet wenig", fand ein Besucher, und so sah es auch der französische König, der ihn im Alter nach Amboise holte; dort soll er in den Armen Franz I. gestorben sein.
Doch erlaubte es die höfische Fassade auch, eigenen Interessen nachzugehen. Letztlich ging es ihm darum, Kunst und Wissenschaft zu anschaulichen, mit dem Zentralorgan des Auges aufgefassten und durch die zeichnende Hand klar ausformulierten Erkenntnissen zu bündeln, in einer Einheit von Beobachtung und Fiktion. Außer Gott und der Metaphysik hat sich Leonardo mit fast allen Erscheinungen der sichtbaren wie der energetischen Welt beschäftigt: Mechanik, Physik und Akustik, Geographie, Gesteinskunde und Wetter, Astronomie, Vogelflug, den Elementen und ihren Verheerungen.
Das dazu nötige Fachwissen hat Leonardo nicht besessen. Er war, das ist der Tenor dieses monumentalen, in Text und Bild anschaulich aufeinander abgestimmten Werks des französischen Kunsthistorikers Daniel Arasse, keineswegs der Übermensch, der er offenbar zu sein vorgab und als welchen ihn, zwischen Geniekult und Mythomanie, seine Bewunderer von Vasari bis Paul Valéry immer wieder neu erfunden haben - bei spärlichsten biografischen Anhaltspunkten. Leonardo, dem außerehelichen Sohn eines Florentiner Notars, fehlte die ordentliche Schulausbildung. Weder konnte er genügend Latein, um anspruchsvolle Schriften selber zu lesen, noch war er in Mathematik sonderlich beschlagen; hier ließ er sich von Koryphäen wie Luca Pacioli helfen. Nach der Abc-Schule früh zu dem vielseitigen Andrea del Verrocchio in die Lehre gekommen, hatte er sofort künstlerische Aufgaben zu lösen, nach damaliger Werkstattpraxis ohne vorherige Unterweisung.
Diese Von-Fall-zu-Fall-"Methode" praktizierte er, so Arasse, auf allen ihn fesselnden Gebieten. Mittels Notizen, beschreibenden Sätzen und visionären Passagen versuchte er in Spiegelschrift, seine experimentell gewonnenen Einsichten niederzulegen; abstraktes Denken war nicht seine Sache. Leonardo hat an die sechstausend Seiten illustrierter Aufzeichnungen hinterlassen, die in ihrer intuitiven Schärfe der Beobachtung, der dichterischen, doch nicht emotionalen Vergegenwärtigung einmalig sind. Aber nie habe er das definitive Stadium der Abhandlung erreicht; sogar der berühmte Traktat über die Malerei wurde nachträglich zusammengestellt. Leonardo begriff das Universum noch in Analogie zum Körper; das trennt ihn von der modernen Wissenschaft. Doch gerade bei der Darstellung seiner spiralig fortschreitenden Arbeitsweise bewährt sich die thematische Anordnung des Buchs.
Mit seiner Universalität, betont Arasse, habe Leonardo keineswegs allein dagestanden. Viele Renaissancekünstler waren gleichzeitig Festimpresario und Festungsingenieur, Musiker und Dichter. So hielt es ein Francesco di Giorgio, so zog man von Hof zu Hof. Doch Leonardo wollte es genauer wissen und machte sich alles zu Eigen. Die Auswertung seiner Manuskripte zeigt, dass er die Probleme systematisierte, die ihnen unterliegenden Regeln der Mechanik und physikalischen Gesetze zu erfassen strebte, um sie auf seine eigenen Erfindungen anzuwenden.
Unbelesen, schlecht in Latein
Auch was sie angeht, relativiert der Verfasser Leonardos quasi "faustisches" Ingenieursgenie. Als Erfinder hatte er durchaus Vorläufer und zeitgenössische Konkurrenten. Bestimmte utopische Konstruktionen wie das Fahrrad, das Tauchboot, die Flugapparate waren seiner Zeit voraus. Die mörderisch aussehenden Mehrfacharmbrüste und Schnellfeuerschlangen dagegen waren in der damaligen Kriegstechnik üblich. Über den findigen Ingenieur hinaus, das hatte schon Alexandre Koyré gesehen, war Leonardo auch Technologe; er bemühte sich um das selbsttätig funktionierende Ineinandergreifen seiner - inzwischen nachgebauten - Maschinen als Frühform der Automation. Künstler und Forscher in einer Person, hat er, so weit sie ihm vermittelt wurden, die Postulate des Aristoteles und offenbar auch Gedanken des Nikolaus von Kues reflektiert. Nicht ohne Koketterie nannte der Autodidakt Leonardo sich selbst einen "Unbelesenen".
Auf dem Gebiet der Ästhetik rieb er sich an Albertis monokularer Zentralperspektive. Ihr unveränderlicher Beobachterstandpunkt widersprach seiner dynamischen Seherfahrung, die nirgends scharf konturierte Formen oder Flächen wahrzunehmen vermochte. Entsprechend enthält Leonardos berühmtes "Abendmahl" mehrere Sehschneisen, die dem Blick des selber mobilen Betrachters auf ein transitorisches Geschehen angemessen sind - was übrigens in Andy Warhols Paraphrasen zu "The Last Supper" durchscheint.
Für Leonardo war alles von Kräften beseelt und in Bewegung - der Kosmos wie die belebten und unbelebten Körper; es galt, die "Natur" in ständigem Übergang vorzuführen. Deshalb das Sfumato als Verschleierung einer Welt im Werden, bestehend aus Kurven und Krümmungen wie die Wolken, die Flüsse, die Sintflut und das Haar. Das menschliche Antlitz, man denke an das Turiner Selbstporträt, ist von dieser Strömungslehre nicht ausgenommen. Köpfe und Körper werden ohne feste Umrisse, in Licht und Schatten dargestellt. Sie zeigen - ein Beispiel ist die sphinxhafte "Mona Lisa" - gleichsam vorindividuelle Gesichter, morphologisch vergleichbar der Bergwelt im Hintergrund der "Anna Selbdritt" oder dem mineralischen Dekor der "Felsgrottenmadonna". Grotten verband Leonardo, wie aus berühmten Sätzen, einer Art persönlichem Höhlengleichnis, hervorgeht, mit Chaos und Unerforschtem. Sie waren Gleichnis des Unbewussten, dessen Botschaften er sich wohl als Erster geöffnet hat.
Für Arasse bedeutet es keinen Widerspruch zum Sfumato als Grenzverwischung, dass Leonardos berühmte, auch von Medizinern als Leistung gewürdigte anatomische Zeichnungen den menschlichen Körper so detailgetreu aufdecken. Auch hier ist manches in rhetorischer Verve überbetont, monströs oder gar fantastisch arrangiert. Trotzdem scheint bei Sektionen wie bei dunstig gemalten Bildern das gleiche Kunstwollen am Werk, nämlich etwas gemeinhin, zumal auf einen Blick Unsichtbares zu visualisieren, als scharfen Schnitt hier, als fließende Form dort.
Eines der häufigsten Elemente bei Leonardo ist die aufsteigende Spirale; seine Gemäldekompositionen sind aus solchen grafischen Bewegungsstrudeln herausgefiltert. Er arbeitete an mehreren Projekten gleichzeitig, entwickelte verschiedene Lösungen und setzte bestimmte Motive immer wieder ein. Porträts oder Madonnen brachte er meist noch zu Ende. Komplexere Vorhaben aber wie der "Heilige Hieronymus", die "Anbetung der Könige", ein Reiterdenkmal oder die "Schlacht von Anghiari" für den Palazzo Vecchio in Florenz wurden nicht abgeschlossen. Vollendung mochte für Leonardo Einschränkung der Möglichkeiten und damit Erstarrung bedeuten.
Natürlich war mit dieser meditativ-simultanen Arbeitsweise ein Großbild wie das Mailänder "Abendmahl" nicht al fresco zu bewältigen; die Fixierung, die Leonardo stattdessen wählte, hielt nicht und hinterließ die berühmteste Ruine der Kunstgeschichte, ein work in regress von Anfang an. Die Breitwand im ehemaligen Refektorium von Santa Maria delle Grazie vermittelt die Schockwelle, welche die Jünger nach Christi Worten erfasst hat, einer von ihnen werde ihn verraten; äußere und innere Bewegung decken sich.
Schillernd präsentiert sich das Spätwerk. Dass der fast nackte Johannes der Täufer als Bacchus durchgehen konnte, deutet an, dass es hier wie schon vorher bei der "Leda" und, dezenter, bei der "Mona Lisa", um den Schönheitskult des Malers ging, um seine Homoerotik, seine Träume von Doppelgeschlechtlichkeit. Leonardos Werk ist nicht auszuschöpfen, das gibt auch Arasse nach fünfhundert Seiten zu. Er hat den Gottähnlichen heruntergeholt auf die Erde mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten. Leonardo wollte sie offenbar alle ausschöpfen, keiner Einheitsformel auf der Spur, wohl aber einem durchgehenden Gesamtrhythmus.
GÜNTER METKEN
Daniel Arasse: "Leonardo da Vinci". Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Barmann und Regina Schmidt-Ott. Dumont Buchverlag, Köln 1999. 546 S., 330 Farb- u. S/W-Abb., geb., 168,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Daniel Arasse holt das Universalgenie Leonardo da Vinci vom Himmel auf die Erde
Gottähnlich zeigt ihn das berühmte Turiner Selbstporträt in Rötel; so olympierhaft, dass manche schon an seiner Urheberschaft zweifelten. Und wenn es eine Maske wäre, eine der vielen, die Leonardo da Vinci sich vors Gesicht hielt, der schon seinen Zeitgenossen seltsam vorkam, ein Erfinder von cose bizarre? Das bestrickende Auftreten des Höflings, der weltläufige Gesellschaftsmensch und Verfasser unheimlicher Rätsel wären dann weitere Varianten dessen, was Marcel Duchamp "das Spiel zwischen mir und meiner Person" genannt hat. Aber wozu dieses Rollenspiel um Person und persona, dem, was er war, und dem, was er scheinen wollte? Was hatte er zu verbergen, oder, anders gesagt, was wollte er sich vorbehalten?
In jedem Fall den Freiraum eigener Erfahrungen und Experimente. Den konnte ihm, im Unterschied zur städtisch-handwerklichen Auftragssituation, nur ein Hofamt verschaffen, weshalb Leonardo sich fast unterwürfig um solche Anstellungen bemüht hat und im Herzogtum Mailand auch für längere Zeit eine Sinekure fand. Dort hatte er sich im Dienst der Sforza um Befestigungen und Ballistik, um die Kanalisation und das Theater zu kümmern, Tätigkeiten, die seinen Forschungen und seinem Wissensdrang entgegenkamen. Als Künstlerindividualität, ja als Original anerkannt, hielt er in der lombardischen Metropole quasi selber Hof, scheinbar untätig. "Er arbeitet wenig", fand ein Besucher, und so sah es auch der französische König, der ihn im Alter nach Amboise holte; dort soll er in den Armen Franz I. gestorben sein.
Doch erlaubte es die höfische Fassade auch, eigenen Interessen nachzugehen. Letztlich ging es ihm darum, Kunst und Wissenschaft zu anschaulichen, mit dem Zentralorgan des Auges aufgefassten und durch die zeichnende Hand klar ausformulierten Erkenntnissen zu bündeln, in einer Einheit von Beobachtung und Fiktion. Außer Gott und der Metaphysik hat sich Leonardo mit fast allen Erscheinungen der sichtbaren wie der energetischen Welt beschäftigt: Mechanik, Physik und Akustik, Geographie, Gesteinskunde und Wetter, Astronomie, Vogelflug, den Elementen und ihren Verheerungen.
Das dazu nötige Fachwissen hat Leonardo nicht besessen. Er war, das ist der Tenor dieses monumentalen, in Text und Bild anschaulich aufeinander abgestimmten Werks des französischen Kunsthistorikers Daniel Arasse, keineswegs der Übermensch, der er offenbar zu sein vorgab und als welchen ihn, zwischen Geniekult und Mythomanie, seine Bewunderer von Vasari bis Paul Valéry immer wieder neu erfunden haben - bei spärlichsten biografischen Anhaltspunkten. Leonardo, dem außerehelichen Sohn eines Florentiner Notars, fehlte die ordentliche Schulausbildung. Weder konnte er genügend Latein, um anspruchsvolle Schriften selber zu lesen, noch war er in Mathematik sonderlich beschlagen; hier ließ er sich von Koryphäen wie Luca Pacioli helfen. Nach der Abc-Schule früh zu dem vielseitigen Andrea del Verrocchio in die Lehre gekommen, hatte er sofort künstlerische Aufgaben zu lösen, nach damaliger Werkstattpraxis ohne vorherige Unterweisung.
Diese Von-Fall-zu-Fall-"Methode" praktizierte er, so Arasse, auf allen ihn fesselnden Gebieten. Mittels Notizen, beschreibenden Sätzen und visionären Passagen versuchte er in Spiegelschrift, seine experimentell gewonnenen Einsichten niederzulegen; abstraktes Denken war nicht seine Sache. Leonardo hat an die sechstausend Seiten illustrierter Aufzeichnungen hinterlassen, die in ihrer intuitiven Schärfe der Beobachtung, der dichterischen, doch nicht emotionalen Vergegenwärtigung einmalig sind. Aber nie habe er das definitive Stadium der Abhandlung erreicht; sogar der berühmte Traktat über die Malerei wurde nachträglich zusammengestellt. Leonardo begriff das Universum noch in Analogie zum Körper; das trennt ihn von der modernen Wissenschaft. Doch gerade bei der Darstellung seiner spiralig fortschreitenden Arbeitsweise bewährt sich die thematische Anordnung des Buchs.
Mit seiner Universalität, betont Arasse, habe Leonardo keineswegs allein dagestanden. Viele Renaissancekünstler waren gleichzeitig Festimpresario und Festungsingenieur, Musiker und Dichter. So hielt es ein Francesco di Giorgio, so zog man von Hof zu Hof. Doch Leonardo wollte es genauer wissen und machte sich alles zu Eigen. Die Auswertung seiner Manuskripte zeigt, dass er die Probleme systematisierte, die ihnen unterliegenden Regeln der Mechanik und physikalischen Gesetze zu erfassen strebte, um sie auf seine eigenen Erfindungen anzuwenden.
Unbelesen, schlecht in Latein
Auch was sie angeht, relativiert der Verfasser Leonardos quasi "faustisches" Ingenieursgenie. Als Erfinder hatte er durchaus Vorläufer und zeitgenössische Konkurrenten. Bestimmte utopische Konstruktionen wie das Fahrrad, das Tauchboot, die Flugapparate waren seiner Zeit voraus. Die mörderisch aussehenden Mehrfacharmbrüste und Schnellfeuerschlangen dagegen waren in der damaligen Kriegstechnik üblich. Über den findigen Ingenieur hinaus, das hatte schon Alexandre Koyré gesehen, war Leonardo auch Technologe; er bemühte sich um das selbsttätig funktionierende Ineinandergreifen seiner - inzwischen nachgebauten - Maschinen als Frühform der Automation. Künstler und Forscher in einer Person, hat er, so weit sie ihm vermittelt wurden, die Postulate des Aristoteles und offenbar auch Gedanken des Nikolaus von Kues reflektiert. Nicht ohne Koketterie nannte der Autodidakt Leonardo sich selbst einen "Unbelesenen".
Auf dem Gebiet der Ästhetik rieb er sich an Albertis monokularer Zentralperspektive. Ihr unveränderlicher Beobachterstandpunkt widersprach seiner dynamischen Seherfahrung, die nirgends scharf konturierte Formen oder Flächen wahrzunehmen vermochte. Entsprechend enthält Leonardos berühmtes "Abendmahl" mehrere Sehschneisen, die dem Blick des selber mobilen Betrachters auf ein transitorisches Geschehen angemessen sind - was übrigens in Andy Warhols Paraphrasen zu "The Last Supper" durchscheint.
Für Leonardo war alles von Kräften beseelt und in Bewegung - der Kosmos wie die belebten und unbelebten Körper; es galt, die "Natur" in ständigem Übergang vorzuführen. Deshalb das Sfumato als Verschleierung einer Welt im Werden, bestehend aus Kurven und Krümmungen wie die Wolken, die Flüsse, die Sintflut und das Haar. Das menschliche Antlitz, man denke an das Turiner Selbstporträt, ist von dieser Strömungslehre nicht ausgenommen. Köpfe und Körper werden ohne feste Umrisse, in Licht und Schatten dargestellt. Sie zeigen - ein Beispiel ist die sphinxhafte "Mona Lisa" - gleichsam vorindividuelle Gesichter, morphologisch vergleichbar der Bergwelt im Hintergrund der "Anna Selbdritt" oder dem mineralischen Dekor der "Felsgrottenmadonna". Grotten verband Leonardo, wie aus berühmten Sätzen, einer Art persönlichem Höhlengleichnis, hervorgeht, mit Chaos und Unerforschtem. Sie waren Gleichnis des Unbewussten, dessen Botschaften er sich wohl als Erster geöffnet hat.
Für Arasse bedeutet es keinen Widerspruch zum Sfumato als Grenzverwischung, dass Leonardos berühmte, auch von Medizinern als Leistung gewürdigte anatomische Zeichnungen den menschlichen Körper so detailgetreu aufdecken. Auch hier ist manches in rhetorischer Verve überbetont, monströs oder gar fantastisch arrangiert. Trotzdem scheint bei Sektionen wie bei dunstig gemalten Bildern das gleiche Kunstwollen am Werk, nämlich etwas gemeinhin, zumal auf einen Blick Unsichtbares zu visualisieren, als scharfen Schnitt hier, als fließende Form dort.
Eines der häufigsten Elemente bei Leonardo ist die aufsteigende Spirale; seine Gemäldekompositionen sind aus solchen grafischen Bewegungsstrudeln herausgefiltert. Er arbeitete an mehreren Projekten gleichzeitig, entwickelte verschiedene Lösungen und setzte bestimmte Motive immer wieder ein. Porträts oder Madonnen brachte er meist noch zu Ende. Komplexere Vorhaben aber wie der "Heilige Hieronymus", die "Anbetung der Könige", ein Reiterdenkmal oder die "Schlacht von Anghiari" für den Palazzo Vecchio in Florenz wurden nicht abgeschlossen. Vollendung mochte für Leonardo Einschränkung der Möglichkeiten und damit Erstarrung bedeuten.
Natürlich war mit dieser meditativ-simultanen Arbeitsweise ein Großbild wie das Mailänder "Abendmahl" nicht al fresco zu bewältigen; die Fixierung, die Leonardo stattdessen wählte, hielt nicht und hinterließ die berühmteste Ruine der Kunstgeschichte, ein work in regress von Anfang an. Die Breitwand im ehemaligen Refektorium von Santa Maria delle Grazie vermittelt die Schockwelle, welche die Jünger nach Christi Worten erfasst hat, einer von ihnen werde ihn verraten; äußere und innere Bewegung decken sich.
Schillernd präsentiert sich das Spätwerk. Dass der fast nackte Johannes der Täufer als Bacchus durchgehen konnte, deutet an, dass es hier wie schon vorher bei der "Leda" und, dezenter, bei der "Mona Lisa", um den Schönheitskult des Malers ging, um seine Homoerotik, seine Träume von Doppelgeschlechtlichkeit. Leonardos Werk ist nicht auszuschöpfen, das gibt auch Arasse nach fünfhundert Seiten zu. Er hat den Gottähnlichen heruntergeholt auf die Erde mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten. Leonardo wollte sie offenbar alle ausschöpfen, keiner Einheitsformel auf der Spur, wohl aber einem durchgehenden Gesamtrhythmus.
GÜNTER METKEN
Daniel Arasse: "Leonardo da Vinci". Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Barmann und Regina Schmidt-Ott. Dumont Buchverlag, Köln 1999. 546 S., 330 Farb- u. S/W-Abb., geb., 168,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main