In this widely acclaimed biography, Charles Nicholl uncovers the man behind the myth of the "Renaissance master," tracing the journey from an illegitimate child in Tuscany to his service with some of the most powerful families of Renaissance Europe.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.04.2007Jeder Gipfel eine Brustwarze
Im Nebel der Ungewissheiten: Charles Nicholls Biographie des Leonardo da Vinci
Der Biographien und Monographien über Leonardo da Vinci sind Legion. Auch deshalb war man sich im Verlagshaus S. Fischer wohl nicht so ganz schlüssig darüber, wie man das 750-Seiten-Opus von Charles Nicholl an die Leser bringen soll: als „eine Biographie” Leonardos mehr, wie auf dem Schutzumschlag zu lesen ist, oder aber als „die Biographie” schlechthin, wie es im Impressum steht. Über Nicholl, von dem in Deutschland zwei Reisebücher aus Lateinamerika und Südostasien vorliegen, gibt die Umschlagklappe die spärliche Auskunft, dass er „viele Jahre die Skizzenbücher und Manuskripte Leonardo da Vincis studiert” hat und als Autor und Dokumentarfilmer mit seiner Familie in Italien lebt. Das lässt hoffen, dass hier einer zur Feder gegriffen hat, der – wie Leonardo es selbst vormachte – Anschauung und Denken, lebendige Beobachtung und intensives Studium miteinander verknüpft, indem er dem Objekt seiner Forschungen bis in die entlegensten Winkel nachgeht: Blatt für Blatt die schriftstellerische Hinterlassenschaft durchforstend, Bild für Bild das Werk des Malers und Zeichners, Ingenieurs und Naturforschers studierend und Spur für Spur seine Lebenswelt vor Ort ergründend. „Selten fällt, wer gut geht”, lautet ein Aphorismus von Leonardos Hand.
Nicholl ist hingegangen, zuallererst an die Stätten der Kindheit. Im Geburtsort Vinci im Hinterland von Florenz hat er sich gut umgesehen. Dort hat er viele Übereinstimmungen entdeckt von Landschaft und Landleben mit Stoffen, Motiven und Skizzen, die Leonardo in seinen Notizbüchern festhielt: Zusammenhänge von Techniken der Olivenölverarbeitung mit solchen der Farbgewinnung, von geflochtenen Knotenmustern ländlicher Körbe mit den Lockenzöpfen von Leonardo dargestellter Damen, Marien und Engel. In Übertragung einer filmischen Methode bewegter Kameraführung, die zwischen Fern- und Nahsichten hin und her pendelt, reüssiert Nicholl mit einem sympathischen und vielversprechenden Einstieg, der mitten in die Welt der kleinen Dinge führt, als deren „Kosmograph” Leonardo sich verstand: Als „fortlaufendes Kompendium der Dinge, für die Leonardo sich begeistert”, nutzt Nicholl die unzähligen Aufzeichnungen, die sein Held hinterlassen hat.
Leider aber lässt es Nicholl bei der Ergründung der sichtbaren Welt nicht bewenden, weshalb alle guten Ansätze spätestens auf Seite 76 und beim Hinübergleiten zum symbolisch aufgeladenen Thema Vogelflug – bei dem schon Sigmund Freud abstürzte – wieder dahin sind. Der Autor gerät ins Schwafeln, Halluzinieren und Stolpern über „in den Formen einer Landschaft verschlüsselte und schwer zu fassende Bedeutungen”. In den Spitzen gemalter Hügel erkennt er weibliche Brustwarzen, und wo immer Leonardo männliche Wesen malt oder zeichnet, entdeckt sein Biograph versteckte Selbstporträts: Sogar für den kecken Bronze-David seines Lehrers Verrocchio habe der junge Leonardo wohl Modell gestanden.
Überhaupt wird in diesem Buch allerhand vermutet oder gespürt, aber nichts bewiesen. Hätte Nicholl, gestützt auf den enormen Fundus von Aufzeichnungen und Notaten, die originelle Mikroperspektive auf Leonardos Lebenswelt durchgehalten, wäre vielleicht ein neues und lebendiges Bild des großen Universaltalents zustande gekommen. Statt dessen war unser Autor darauf erpicht, Undeutbares zu deuten und der eigenen Phantasie freien Lauf zu lassen. Seine Materialschlachten erschöpfen sich in der Chronologie des Lebens, Werkens und Wirkens und in ebenso weitschweifigen wie strauchelnden Übergängen. Die Gemeinplätze, die Nicholl dabei ausbreitet, die Phantastereien, in die er sich ergeht, und die Schnitzer, die er sich en passant leistet, beweisen indessen nur, dass es ihm an wirklich soliden Kenntnissen über die erörterte Epoche fehlt.
Gegen allen Deutungsschwulst, mit dem die Kunstfrommen vom Schlage Walter Paters das vermeintlich dunkle Lächeln der Mona Lisa bedacht haben, zitiert Nicholl an einer vorübergehend wachen Stelle seines Buchs einen schönen Satz von Oscar Wilde, ohne zu merken, wie dieses auf ihn selbst und auf das Bild zurückfällt, das er sich von Leonardo da Vinci zurechtgezimmert hat: „Und so erscheint uns das Bild noch wunderbarer, als es in Wirklichkeit ist und enthüllt uns ein Geheimnis, von dem es in Wahrheit nichts weiß.” So ist es auch mit Charles Nicholls Bild des Leonardo da Vinci bestellt. Enthüllt werden in dieser Biographie allein die Wunder und Geheimnisse ihres Autors. VOLKER BREIDECKER
CHARLES NICHOLL: Leonardo da Vinci. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 752 Seiten, 29,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Im Nebel der Ungewissheiten: Charles Nicholls Biographie des Leonardo da Vinci
Der Biographien und Monographien über Leonardo da Vinci sind Legion. Auch deshalb war man sich im Verlagshaus S. Fischer wohl nicht so ganz schlüssig darüber, wie man das 750-Seiten-Opus von Charles Nicholl an die Leser bringen soll: als „eine Biographie” Leonardos mehr, wie auf dem Schutzumschlag zu lesen ist, oder aber als „die Biographie” schlechthin, wie es im Impressum steht. Über Nicholl, von dem in Deutschland zwei Reisebücher aus Lateinamerika und Südostasien vorliegen, gibt die Umschlagklappe die spärliche Auskunft, dass er „viele Jahre die Skizzenbücher und Manuskripte Leonardo da Vincis studiert” hat und als Autor und Dokumentarfilmer mit seiner Familie in Italien lebt. Das lässt hoffen, dass hier einer zur Feder gegriffen hat, der – wie Leonardo es selbst vormachte – Anschauung und Denken, lebendige Beobachtung und intensives Studium miteinander verknüpft, indem er dem Objekt seiner Forschungen bis in die entlegensten Winkel nachgeht: Blatt für Blatt die schriftstellerische Hinterlassenschaft durchforstend, Bild für Bild das Werk des Malers und Zeichners, Ingenieurs und Naturforschers studierend und Spur für Spur seine Lebenswelt vor Ort ergründend. „Selten fällt, wer gut geht”, lautet ein Aphorismus von Leonardos Hand.
Nicholl ist hingegangen, zuallererst an die Stätten der Kindheit. Im Geburtsort Vinci im Hinterland von Florenz hat er sich gut umgesehen. Dort hat er viele Übereinstimmungen entdeckt von Landschaft und Landleben mit Stoffen, Motiven und Skizzen, die Leonardo in seinen Notizbüchern festhielt: Zusammenhänge von Techniken der Olivenölverarbeitung mit solchen der Farbgewinnung, von geflochtenen Knotenmustern ländlicher Körbe mit den Lockenzöpfen von Leonardo dargestellter Damen, Marien und Engel. In Übertragung einer filmischen Methode bewegter Kameraführung, die zwischen Fern- und Nahsichten hin und her pendelt, reüssiert Nicholl mit einem sympathischen und vielversprechenden Einstieg, der mitten in die Welt der kleinen Dinge führt, als deren „Kosmograph” Leonardo sich verstand: Als „fortlaufendes Kompendium der Dinge, für die Leonardo sich begeistert”, nutzt Nicholl die unzähligen Aufzeichnungen, die sein Held hinterlassen hat.
Leider aber lässt es Nicholl bei der Ergründung der sichtbaren Welt nicht bewenden, weshalb alle guten Ansätze spätestens auf Seite 76 und beim Hinübergleiten zum symbolisch aufgeladenen Thema Vogelflug – bei dem schon Sigmund Freud abstürzte – wieder dahin sind. Der Autor gerät ins Schwafeln, Halluzinieren und Stolpern über „in den Formen einer Landschaft verschlüsselte und schwer zu fassende Bedeutungen”. In den Spitzen gemalter Hügel erkennt er weibliche Brustwarzen, und wo immer Leonardo männliche Wesen malt oder zeichnet, entdeckt sein Biograph versteckte Selbstporträts: Sogar für den kecken Bronze-David seines Lehrers Verrocchio habe der junge Leonardo wohl Modell gestanden.
Überhaupt wird in diesem Buch allerhand vermutet oder gespürt, aber nichts bewiesen. Hätte Nicholl, gestützt auf den enormen Fundus von Aufzeichnungen und Notaten, die originelle Mikroperspektive auf Leonardos Lebenswelt durchgehalten, wäre vielleicht ein neues und lebendiges Bild des großen Universaltalents zustande gekommen. Statt dessen war unser Autor darauf erpicht, Undeutbares zu deuten und der eigenen Phantasie freien Lauf zu lassen. Seine Materialschlachten erschöpfen sich in der Chronologie des Lebens, Werkens und Wirkens und in ebenso weitschweifigen wie strauchelnden Übergängen. Die Gemeinplätze, die Nicholl dabei ausbreitet, die Phantastereien, in die er sich ergeht, und die Schnitzer, die er sich en passant leistet, beweisen indessen nur, dass es ihm an wirklich soliden Kenntnissen über die erörterte Epoche fehlt.
Gegen allen Deutungsschwulst, mit dem die Kunstfrommen vom Schlage Walter Paters das vermeintlich dunkle Lächeln der Mona Lisa bedacht haben, zitiert Nicholl an einer vorübergehend wachen Stelle seines Buchs einen schönen Satz von Oscar Wilde, ohne zu merken, wie dieses auf ihn selbst und auf das Bild zurückfällt, das er sich von Leonardo da Vinci zurechtgezimmert hat: „Und so erscheint uns das Bild noch wunderbarer, als es in Wirklichkeit ist und enthüllt uns ein Geheimnis, von dem es in Wahrheit nichts weiß.” So ist es auch mit Charles Nicholls Bild des Leonardo da Vinci bestellt. Enthüllt werden in dieser Biographie allein die Wunder und Geheimnisse ihres Autors. VOLKER BREIDECKER
CHARLES NICHOLL: Leonardo da Vinci. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 752 Seiten, 29,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2007Hier finden Sie Prostituierte, uneheliche Kinder und jede Menge Selbstporträts
Armer Leonardo da Vinci: Wie einst Sigmund Freud spekuliert nun auch die neue Biographie von Charles Nicholl über Leben und Werk des Renaissancekünstlers
Es grassiert derzeit eine Literaturgattung, die untrennbar zwischen Dichtung und Wahrheit oszilliert und sich aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet desjenigen Renaissancekünstlers bemächtigt hat, der wie vielleicht kein anderer vom Willen zur experimentell-wissenschaftlich überprüfbaren Erkenntnis durchdrungen war - Leonardo da Vinci. Dan Browns verschwörungstheoretisches Machwerk um den Gral im Louvre ist hierbei nur die Spitze des Eisbergs. Dieser Weltbestseller zeitigte erstaunliche rattenfängerartige Effekte: Mit einem Mal setzte sich alle Welt an den Computer und fühlte sich zum Schreiben von Leonardo-Büchern berufen, denn es galt offensichtlich, einen boomenden Markt abzuschöpfen. Die Produktpalette, die dieser Goldgräberstimmung entspringt, ist denkbar weit. Sie reicht von Frank Zöllners wissenschaftlich seriöser Werkmonographie im Taschen-Verlag über "Aufklärungsliteratur" mit klangvollen Titeln wie "Leonardos Katze. Kunst und Geheimnis des Leonardo da Vinci" bis hin zu "Leonardo dreidimensional. Mit Computergraphik auf der Spur des genialen Künstlers".
Aber auch im Bereich der klassischen Biographie hat sich in den letzten Jahren einiges getan: Charles Nicholl hat sich (laut Innenklappe des Buches) insbesondere dadurch zum Leonardo-Biographen qualifiziert, dass er viele Jahre die Skizzenbücher und Manuskripte des Künstlers studiert hat und mit seiner Familie in Italien lebt. Er legt eine 750 Seiten starke Darstellung von Leben und Werk Leonardos vor, bei der sich der S. Fischer-Verlag offensichtlich nicht entscheiden konnte, ob es sich um "die" (so der Innentitel) oder nur um "eine" Biographie (laut Umschlag) des derzeit beliebtesten Renaissancekünstlers handelt. Doch wollen wir nicht gleich allzu boshaft werden. Denn die (auch stilistisch-schriftstellerisch) fulminante Einstiegsszene, die der Dokumentarfilmer Nicholl für sein Buch wählt, macht erst einmal Lust weiterzulesen. Ausgehend von einer eher marginalen Notiz von Leonardos Hand auf einem Blatt mit geometrischen Notizen in der British Library - "perche la minesstra si fredda" -, entwirft er ein Szenario des häuslichen Alltagslebens des alternden Leonardo, der sich nach Frankreich zurückgezogen hat und von seiner Haushälterin frugal-kulinarisch umsorgt wird und vor lauter Forscherdrang fast seine Suppe erkalten lässt
Zu Beginn des Buches lässt sich der Leser immer wieder mitreißen von Nicholls evokatorischer Fähigkeit, aus kleinsten Ausgangsindizien beispielsweise die Jugendlandschaft Leonardos um den kleinen toskanischen Ort Vinci herum erblühen zu lassen oder die Künstlerwerkstatt Andrea Verrocchios wieder ins Leben zu rufen - mit ihrem Lärm, Schmutz, den Rangeleien unter den jungen Gesellen und selbst den Hühnern, die als Rohstoffproduzenten für die Temperamalerei durch die Bottega gackern. Diese kleinen Szenen aus dem leonardesken Alltag bettet er ein in bisweilen etwas weitschweifige Schilderungen der kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen im Italien des Quattro- und Cinquecento und in die Florentiner oder Mailänder Stadt- und Kunstgeschichte. Nicholl hat hierfür nicht nur in den Archiven gestöbert, er hat auch die "Tatorte" besucht, die leonardesken Landschaften inspiziert, um ihre prägende Kraft für die Gemälde einschätzen zu können, und er hat die richtige Frage gestellt, welchen visuellen Eindrücken und Kunsterlebnissen Leonardo in seiner Jugend ausgesetzt war.
Doch mit fortschreitender Lektüre zeigen sich seine phantasievollen Evokationen leider immer deutlicher als das, was sie wirklich sind: eine Masche, aus Nichts Geschichte zu machen, die auch vor den haltlosesten Spekulationen nicht zurückschreckt. Ganz vernarrt ist Nicholl in die Vorstellung, Leonardo habe pausenlos Selbstporträts in seine Zeichnungen und Gemälde integriert. Er entfaltet einen wahrhaft detektivischen Eifer, diese Selbstbildnisse für den Leser aufzuspüren, so dass ihm selbst Verrocchios Bronzedavid ein Bildnis des jungen Leonardo scheint, da dieser "möglicherweise" Modell hierfür stand. Jede halbwegs männliche Figur gerät bei Nicholl unter Selbstporträtverdacht, selbst der berühmte Vitruv-Mann wird nicht verschont.
Generell sind die rhetorischen Strategien, die Nicholl anwendet, um seine Phantasien in die Realität zu zwingen, fast perfide zu nennen. Tönerne Füße sind von hoher Stabilität im Vergleich zum spekulativen Treibsand solcher "Argumentationen", die mit Floskeln wie "Ich stelle mir vor" garniert werden. So entwickelt sich beispielsweise aus einer schlichten privatistischen erotischen Wunschvorstellung des Autors ein wirklich stattgefunden habender "herbstlicher coup de foudre" Leonardos, wenn Nicholl schreibt: "Der Biograph hat die Pflicht, eher skeptisch als romantisch zu sein, aber ich habe keine Schwierigkeiten mit dem Gedanken, dass Leonardo im Alter von etwa siebenundfünfzig Jahren ein wie auch immer geartetes Verhältnis mit einer schönen, jungen Prostituierten hatte, deren heitere Züge und üppige Formen ihm als Modell für die Leda und vielleicht auch für das verlorengegangene Original der ,Nackten Joconda' diente."
Was den Leser darüber hinaus verärgert, ist Nicholls unheilvoller Hang zur Laienpsychologie, die sich Leonardos Kindheit in deren "kompliziertem emotionalen Bezugssystem" annimmt. Selbstverständlich nimmt die berühmte Milan-Episode als hochaufgeladene Kindheitserinnerung eine zentrale Stelle in der Jugendgeschichte Leonardos ein. Er hatte im Kontext von Überlegungen zum Vogelflug notiert: "In der frühesten Erinnerung an meine Kindheit war mir immer so, als sei zu der Zeit, da ich noch in der Wiege lag, ein Weih zu mir gekommen und habe mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und mich dann mehrere Male mit dem Schwanz auf die Lippen geschlagen."
Der Freudsche Leonardo-Text, der sich der Exegese dieser Stelle gewidmet hat, zählt nicht zu seinen erleuchtetsten (zumal er den Milan für einen Geier hielt), wird hier noch an Absurdität überboten in der Entfaltung einer Freizeittiefenpsychologie, die dem Leser die Haare zu Berge stellt. Nicholl spürt Reminiszenzen dieser Kindheitserinnerung noch in Leonardos Verkündigung auf, in deren Hintergrund ein brustförmiger Hügel neben dem vogelhaften Engelsflügel zu sehen sei und damit die ganze Komplexität der Erinnerung eines unehelichen "Kindes der Liebe" an die Mutterbrust noch einmal aufbrechen lasse. Für solche Einblicke lohnt es sich wahrlich nicht, die Suppe kalt werden zu lassen.
CHRISTINE TAUBER
Charles Nicholl: "Leonardo da Vinci". Die Biographie. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 752 S., geb., Abb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Armer Leonardo da Vinci: Wie einst Sigmund Freud spekuliert nun auch die neue Biographie von Charles Nicholl über Leben und Werk des Renaissancekünstlers
Es grassiert derzeit eine Literaturgattung, die untrennbar zwischen Dichtung und Wahrheit oszilliert und sich aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet desjenigen Renaissancekünstlers bemächtigt hat, der wie vielleicht kein anderer vom Willen zur experimentell-wissenschaftlich überprüfbaren Erkenntnis durchdrungen war - Leonardo da Vinci. Dan Browns verschwörungstheoretisches Machwerk um den Gral im Louvre ist hierbei nur die Spitze des Eisbergs. Dieser Weltbestseller zeitigte erstaunliche rattenfängerartige Effekte: Mit einem Mal setzte sich alle Welt an den Computer und fühlte sich zum Schreiben von Leonardo-Büchern berufen, denn es galt offensichtlich, einen boomenden Markt abzuschöpfen. Die Produktpalette, die dieser Goldgräberstimmung entspringt, ist denkbar weit. Sie reicht von Frank Zöllners wissenschaftlich seriöser Werkmonographie im Taschen-Verlag über "Aufklärungsliteratur" mit klangvollen Titeln wie "Leonardos Katze. Kunst und Geheimnis des Leonardo da Vinci" bis hin zu "Leonardo dreidimensional. Mit Computergraphik auf der Spur des genialen Künstlers".
Aber auch im Bereich der klassischen Biographie hat sich in den letzten Jahren einiges getan: Charles Nicholl hat sich (laut Innenklappe des Buches) insbesondere dadurch zum Leonardo-Biographen qualifiziert, dass er viele Jahre die Skizzenbücher und Manuskripte des Künstlers studiert hat und mit seiner Familie in Italien lebt. Er legt eine 750 Seiten starke Darstellung von Leben und Werk Leonardos vor, bei der sich der S. Fischer-Verlag offensichtlich nicht entscheiden konnte, ob es sich um "die" (so der Innentitel) oder nur um "eine" Biographie (laut Umschlag) des derzeit beliebtesten Renaissancekünstlers handelt. Doch wollen wir nicht gleich allzu boshaft werden. Denn die (auch stilistisch-schriftstellerisch) fulminante Einstiegsszene, die der Dokumentarfilmer Nicholl für sein Buch wählt, macht erst einmal Lust weiterzulesen. Ausgehend von einer eher marginalen Notiz von Leonardos Hand auf einem Blatt mit geometrischen Notizen in der British Library - "perche la minesstra si fredda" -, entwirft er ein Szenario des häuslichen Alltagslebens des alternden Leonardo, der sich nach Frankreich zurückgezogen hat und von seiner Haushälterin frugal-kulinarisch umsorgt wird und vor lauter Forscherdrang fast seine Suppe erkalten lässt
Zu Beginn des Buches lässt sich der Leser immer wieder mitreißen von Nicholls evokatorischer Fähigkeit, aus kleinsten Ausgangsindizien beispielsweise die Jugendlandschaft Leonardos um den kleinen toskanischen Ort Vinci herum erblühen zu lassen oder die Künstlerwerkstatt Andrea Verrocchios wieder ins Leben zu rufen - mit ihrem Lärm, Schmutz, den Rangeleien unter den jungen Gesellen und selbst den Hühnern, die als Rohstoffproduzenten für die Temperamalerei durch die Bottega gackern. Diese kleinen Szenen aus dem leonardesken Alltag bettet er ein in bisweilen etwas weitschweifige Schilderungen der kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen im Italien des Quattro- und Cinquecento und in die Florentiner oder Mailänder Stadt- und Kunstgeschichte. Nicholl hat hierfür nicht nur in den Archiven gestöbert, er hat auch die "Tatorte" besucht, die leonardesken Landschaften inspiziert, um ihre prägende Kraft für die Gemälde einschätzen zu können, und er hat die richtige Frage gestellt, welchen visuellen Eindrücken und Kunsterlebnissen Leonardo in seiner Jugend ausgesetzt war.
Doch mit fortschreitender Lektüre zeigen sich seine phantasievollen Evokationen leider immer deutlicher als das, was sie wirklich sind: eine Masche, aus Nichts Geschichte zu machen, die auch vor den haltlosesten Spekulationen nicht zurückschreckt. Ganz vernarrt ist Nicholl in die Vorstellung, Leonardo habe pausenlos Selbstporträts in seine Zeichnungen und Gemälde integriert. Er entfaltet einen wahrhaft detektivischen Eifer, diese Selbstbildnisse für den Leser aufzuspüren, so dass ihm selbst Verrocchios Bronzedavid ein Bildnis des jungen Leonardo scheint, da dieser "möglicherweise" Modell hierfür stand. Jede halbwegs männliche Figur gerät bei Nicholl unter Selbstporträtverdacht, selbst der berühmte Vitruv-Mann wird nicht verschont.
Generell sind die rhetorischen Strategien, die Nicholl anwendet, um seine Phantasien in die Realität zu zwingen, fast perfide zu nennen. Tönerne Füße sind von hoher Stabilität im Vergleich zum spekulativen Treibsand solcher "Argumentationen", die mit Floskeln wie "Ich stelle mir vor" garniert werden. So entwickelt sich beispielsweise aus einer schlichten privatistischen erotischen Wunschvorstellung des Autors ein wirklich stattgefunden habender "herbstlicher coup de foudre" Leonardos, wenn Nicholl schreibt: "Der Biograph hat die Pflicht, eher skeptisch als romantisch zu sein, aber ich habe keine Schwierigkeiten mit dem Gedanken, dass Leonardo im Alter von etwa siebenundfünfzig Jahren ein wie auch immer geartetes Verhältnis mit einer schönen, jungen Prostituierten hatte, deren heitere Züge und üppige Formen ihm als Modell für die Leda und vielleicht auch für das verlorengegangene Original der ,Nackten Joconda' diente."
Was den Leser darüber hinaus verärgert, ist Nicholls unheilvoller Hang zur Laienpsychologie, die sich Leonardos Kindheit in deren "kompliziertem emotionalen Bezugssystem" annimmt. Selbstverständlich nimmt die berühmte Milan-Episode als hochaufgeladene Kindheitserinnerung eine zentrale Stelle in der Jugendgeschichte Leonardos ein. Er hatte im Kontext von Überlegungen zum Vogelflug notiert: "In der frühesten Erinnerung an meine Kindheit war mir immer so, als sei zu der Zeit, da ich noch in der Wiege lag, ein Weih zu mir gekommen und habe mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und mich dann mehrere Male mit dem Schwanz auf die Lippen geschlagen."
Der Freudsche Leonardo-Text, der sich der Exegese dieser Stelle gewidmet hat, zählt nicht zu seinen erleuchtetsten (zumal er den Milan für einen Geier hielt), wird hier noch an Absurdität überboten in der Entfaltung einer Freizeittiefenpsychologie, die dem Leser die Haare zu Berge stellt. Nicholl spürt Reminiszenzen dieser Kindheitserinnerung noch in Leonardos Verkündigung auf, in deren Hintergrund ein brustförmiger Hügel neben dem vogelhaften Engelsflügel zu sehen sei und damit die ganze Komplexität der Erinnerung eines unehelichen "Kindes der Liebe" an die Mutterbrust noch einmal aufbrechen lasse. Für solche Einblicke lohnt es sich wahrlich nicht, die Suppe kalt werden zu lassen.
CHRISTINE TAUBER
Charles Nicholl: "Leonardo da Vinci". Die Biographie. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 752 S., geb., Abb., 29,90 [Euro].
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