Urbino Ende Juni 1502. Die italienische Stadt wurde soeben mit einer solchen Geschwindigkeit, Wucht und Skrupellosigkeit eingenommen, dass der Name ihres Eroberers von nun an in ganz Italien widerhallt: Cesare Borgia. Er gehört zu den Fürsten einer neuen Zeit, die mit ihren Feldzügen die alte Ordnung Italiens in Trümmer legen. Im Zeitraum der Eroberung halten sich auch Leonardo da Vinci und Niccolò Machiavelli in Urbino auf. Leonardo hat sich zuvor als Ingenieur Borgias Hof angeschlossen; Machiavelli soll im Auftrag der Republik Florenz die neue politische Lage beobachten.Vieles deutet auf eine Begegnung zwischen Leonardo und Machiavelli in Urbino hin, doch ist nichts von ihr überliefert. Obwohl sich die Wege der beiden in den folgenden Jahren noch mehrfach kreuzen, erwähnen sich gegenseitig mit keiner Silbe. Wie aber erzählt man die Geschichte einer Begegnung, die nur spärliche Spuren hinterlassen hat? Patrick Boucheron betrachtet Leonardo und Machiavelli als Zeitgenossen, die mit denselben drängenden Fragen konfrontiert sind. Welchen Gesetzmäßigkeiten folgt die neue Zeit, welche Formen von Politik verlangt sie, wie lässt sich ihr Rhythmus erfassen und zum Ausdruck bringen?Mit großer sprachlicher Eleganz und Anschaulichkeit zeichnet Patrick Boucheron die bis heute kaum beachteten Berührungspunkte zwischen Leonardo und Machiavelli nach. Anhand einer Fülle faszinierender Details deckt er verblüffende Verbindungen zwischen dem scharfsichtigen Machtanalytiker und dem rastlosen Tausendsassa auf. Damit rückt Boucheron nicht nur Leonardo und Machiavelli in ein besonderes Licht, er bietet zugleich auch ein fesselndes Porträt einer bewegten Zeit.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2020Der Historiker als Phantomjäger
Verlockungen pflastern seine Wege: Patrick Boucheron spekuliert über die Gipfelbegegnung zweier Genies der Renaissance.
Seit 2017 ist Patrick Boucheron in Frankreich eine Macht. In diesem Jahr erschien die "Histoire globale de la France", die Globalgeschichte seines Landes, deren hundertsechsundvierzig knappe, mosaikartig angeordnete Kapitel er herausgegeben und zum Teil auch selbst verfasst hat. Das Buch, das die Erzählung von der Grande Nation geduldig dekonstruiert, war ein Verkaufs- und auch ein Debattenerfolg, es wurde bejubelt und verdammt und sein Autor mal - von Alain Finkielkraut - als "Totengräber" der französischen Traditionen gebrandmarkt, mal als ihr Hüter gefeiert. Schon im Jahr zuvor hatte sich Boucheron, ausgerechnet mit Verweis auf Nietzsche, in seiner Antrittsrede am Collège de France zu einem offenen, unorthodoxen, "unfertigen" Denken bekannt. Ihren Praxistest erlebte diese Methode, als Boucheron in einem Fernsehinterview die Bewegung der "Gelbwesten" kritisierte und sich zur Politik Macrons bekannte. Seither hat der Geschichtsprofessor aus Paris auch die französische Linke gegen sich: Einer ihrer Vertreter bezeichnete ihn als "Hofhistoriker", ein anderer nannte ihn einen "Wohlfühlintellektuellen".
Die intellektuelle Offenheit des Nietzscheaners und eine gewisse elegante Unentschiedenheit kennzeichnen auch Boucherons Studie über Leonardo und Machiavelli, ein Buch, das im Original schon vor zwölf Jahren erschien und somit in eine Zeit zurückreicht, als sein Autor noch als Experte für mittelalterliche Stadtgeschichte Italiens an der Sorbonne unterrichtete. Sein Anlass, eine Begegnung des Malers aus Vinci mit dem Diplomaten der Republik Florenz im Juni 1502, wird auf den ersten Seiten knapp umrissen. Der gleichzeitige Aufenthalt Leonardos und Machiavellis in Urbino, wo der Papstsohn Cesare Borgia in jenem Sommer sein Heerlager aufgeschlagen hatte, ist durch Quellen belegt, auch wenn in den Schriften der beiden der Name des jeweils anderen nie auftaucht.
Aber es sind nicht die Fakten, die Boucheron interessieren. Ihn reizt die historische Spekulation. Was hätten sie einander zu sagen gehabt, das Universalgenie, das im Auftrag des Borgia die Festungen und Landschaften Oberitaliens kartographierte, und der misstrauische Abgesandte eines von vielen Seiten bedrohten Stadtstaats? Und was hatten sie einander zu sagen, als sie sich ein Jahr später in Florenz wiedersahen, wo Leonardo, jetzt in Diensten der Republik, unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit den Karton für seine Anghiari-Schlacht malte und zugleich ein Geheimprojekt zur Überflutung der von den Florentinern belagerten Stadt Pisa durch Umleitung des Flusses Arno betrieb?
Machiavelli hat sich als Amtsträger für das Arno-Projekt eingesetzt und den Kontrakt für das Gemälde abgezeichnet, aber in seinen Schriften wird keins von beiden erwähnt. Leonardo seinerseits kümmerte sich lieber um seinen Großauftrag für den Palazzo Vecchio und das in jener Zeit entstehende Bildnis der Mona Lisa, als sich als Staudammbauer zu verkämpfen.
All das ist jedoch kein Hindernis für Boucherons Historikerphantasie. Wobei "Phantasie" zu hoch gegriffen ist, denn weite Teile des Buches behelfen sich mit freihändigen Spekulationen und Suggestivfragen. Hat Leonardo mit seinem Florentiner Landsmann die politischen Verhältnisse Italiens durchgesprochen? War er der "andere Mann", der "Freund", den Machiavelli in seinen Briefen an die Signorie erwähnt? Ist es an anderer Stelle nicht "allzu verlockend", in der David-Statue Andrea del Verrocchios ein Porträt des jugendlichen Malers aus Vinci zu sehen?
Ja, es ist verlockend, und mit solchen Verlockungen ist der Weg dieser Studie gepflastert. Aber je häufiger Boucheron ihnen nachgibt, desto deutlicher wird auch, dass er letztlich nichts in der Hand hat, was seine These von der gegenseitigen Befruchtung zweier Renaissance-Genies stützt. Leonardo und Machiavelli haben "mit großer Sicherheit häufig miteinander gesprochen", sie waren "durch die Zeitumstände miteinander verbunden", und beide besaßen "eine Aufmerksamkeit für den Rhythmus der Welt, die Gewissheit, dass die Welt aus dem Takt geraten und es die Aufgabe des Menschen war, ihren Puls zu spüren". Doch damit hat es sich dann auch. Gerade das Anghiari-Fresko, in dem Leonardo, nach den erhaltenen Zeichnungen und Kopien des Kartons zu schließen, das blutige Chaos des Krieges mit beinahe filmischen Mitteln darstellen wollte, bezeugt den Unterschied zwischen der Weltsicht des Künstlers und der Betrachtungsweise des politischen Schriftstellers, für den der Krieg ein legitimes Mittel zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen war. Die geistige Nähe von Machiavelli und Leonardo ist weniger als ein Konstrukt, sie ist ein Phantom.
Das bedeutet nicht, dass Boucherons "Geschichte einer unbekannten Begegnung" langweilig zu lesen wäre. Aber was man hier vorgeführt bekommt, ist nicht der neueste Stand des Wissens über Niccolò Machiavelli und Leonardo da Vinci, sondern die rhetorische Gelenkigkeit eines Denkens, das sich bei Freud und Valéry ebenso bedient wie bei dem russischen Romancier Mereschkowski und dem immer neu zu entdeckenden Ernst Kantorowicz. Die Bilanz dieses Salonvortrags ist mager, doch die Eleganz, mit der er zelebriert wird, lohnt einen Besuch. Vielleicht ist der Ausdruck "Wohlfühlintellektueller" doch nicht ganz falsch.
ANDREAS KILB
Patrick Boucheron: "Leonardo und Machiavelli". Geschichte einer unbekannten Begegnung. Aus dem Französischen von Sarah Heurtier und Sebastian Wilde.
Wolff Verlag, Berlin 2019. 180 S., br., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verlockungen pflastern seine Wege: Patrick Boucheron spekuliert über die Gipfelbegegnung zweier Genies der Renaissance.
Seit 2017 ist Patrick Boucheron in Frankreich eine Macht. In diesem Jahr erschien die "Histoire globale de la France", die Globalgeschichte seines Landes, deren hundertsechsundvierzig knappe, mosaikartig angeordnete Kapitel er herausgegeben und zum Teil auch selbst verfasst hat. Das Buch, das die Erzählung von der Grande Nation geduldig dekonstruiert, war ein Verkaufs- und auch ein Debattenerfolg, es wurde bejubelt und verdammt und sein Autor mal - von Alain Finkielkraut - als "Totengräber" der französischen Traditionen gebrandmarkt, mal als ihr Hüter gefeiert. Schon im Jahr zuvor hatte sich Boucheron, ausgerechnet mit Verweis auf Nietzsche, in seiner Antrittsrede am Collège de France zu einem offenen, unorthodoxen, "unfertigen" Denken bekannt. Ihren Praxistest erlebte diese Methode, als Boucheron in einem Fernsehinterview die Bewegung der "Gelbwesten" kritisierte und sich zur Politik Macrons bekannte. Seither hat der Geschichtsprofessor aus Paris auch die französische Linke gegen sich: Einer ihrer Vertreter bezeichnete ihn als "Hofhistoriker", ein anderer nannte ihn einen "Wohlfühlintellektuellen".
Die intellektuelle Offenheit des Nietzscheaners und eine gewisse elegante Unentschiedenheit kennzeichnen auch Boucherons Studie über Leonardo und Machiavelli, ein Buch, das im Original schon vor zwölf Jahren erschien und somit in eine Zeit zurückreicht, als sein Autor noch als Experte für mittelalterliche Stadtgeschichte Italiens an der Sorbonne unterrichtete. Sein Anlass, eine Begegnung des Malers aus Vinci mit dem Diplomaten der Republik Florenz im Juni 1502, wird auf den ersten Seiten knapp umrissen. Der gleichzeitige Aufenthalt Leonardos und Machiavellis in Urbino, wo der Papstsohn Cesare Borgia in jenem Sommer sein Heerlager aufgeschlagen hatte, ist durch Quellen belegt, auch wenn in den Schriften der beiden der Name des jeweils anderen nie auftaucht.
Aber es sind nicht die Fakten, die Boucheron interessieren. Ihn reizt die historische Spekulation. Was hätten sie einander zu sagen gehabt, das Universalgenie, das im Auftrag des Borgia die Festungen und Landschaften Oberitaliens kartographierte, und der misstrauische Abgesandte eines von vielen Seiten bedrohten Stadtstaats? Und was hatten sie einander zu sagen, als sie sich ein Jahr später in Florenz wiedersahen, wo Leonardo, jetzt in Diensten der Republik, unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit den Karton für seine Anghiari-Schlacht malte und zugleich ein Geheimprojekt zur Überflutung der von den Florentinern belagerten Stadt Pisa durch Umleitung des Flusses Arno betrieb?
Machiavelli hat sich als Amtsträger für das Arno-Projekt eingesetzt und den Kontrakt für das Gemälde abgezeichnet, aber in seinen Schriften wird keins von beiden erwähnt. Leonardo seinerseits kümmerte sich lieber um seinen Großauftrag für den Palazzo Vecchio und das in jener Zeit entstehende Bildnis der Mona Lisa, als sich als Staudammbauer zu verkämpfen.
All das ist jedoch kein Hindernis für Boucherons Historikerphantasie. Wobei "Phantasie" zu hoch gegriffen ist, denn weite Teile des Buches behelfen sich mit freihändigen Spekulationen und Suggestivfragen. Hat Leonardo mit seinem Florentiner Landsmann die politischen Verhältnisse Italiens durchgesprochen? War er der "andere Mann", der "Freund", den Machiavelli in seinen Briefen an die Signorie erwähnt? Ist es an anderer Stelle nicht "allzu verlockend", in der David-Statue Andrea del Verrocchios ein Porträt des jugendlichen Malers aus Vinci zu sehen?
Ja, es ist verlockend, und mit solchen Verlockungen ist der Weg dieser Studie gepflastert. Aber je häufiger Boucheron ihnen nachgibt, desto deutlicher wird auch, dass er letztlich nichts in der Hand hat, was seine These von der gegenseitigen Befruchtung zweier Renaissance-Genies stützt. Leonardo und Machiavelli haben "mit großer Sicherheit häufig miteinander gesprochen", sie waren "durch die Zeitumstände miteinander verbunden", und beide besaßen "eine Aufmerksamkeit für den Rhythmus der Welt, die Gewissheit, dass die Welt aus dem Takt geraten und es die Aufgabe des Menschen war, ihren Puls zu spüren". Doch damit hat es sich dann auch. Gerade das Anghiari-Fresko, in dem Leonardo, nach den erhaltenen Zeichnungen und Kopien des Kartons zu schließen, das blutige Chaos des Krieges mit beinahe filmischen Mitteln darstellen wollte, bezeugt den Unterschied zwischen der Weltsicht des Künstlers und der Betrachtungsweise des politischen Schriftstellers, für den der Krieg ein legitimes Mittel zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen war. Die geistige Nähe von Machiavelli und Leonardo ist weniger als ein Konstrukt, sie ist ein Phantom.
Das bedeutet nicht, dass Boucherons "Geschichte einer unbekannten Begegnung" langweilig zu lesen wäre. Aber was man hier vorgeführt bekommt, ist nicht der neueste Stand des Wissens über Niccolò Machiavelli und Leonardo da Vinci, sondern die rhetorische Gelenkigkeit eines Denkens, das sich bei Freud und Valéry ebenso bedient wie bei dem russischen Romancier Mereschkowski und dem immer neu zu entdeckenden Ernst Kantorowicz. Die Bilanz dieses Salonvortrags ist mager, doch die Eleganz, mit der er zelebriert wird, lohnt einen Besuch. Vielleicht ist der Ausdruck "Wohlfühlintellektueller" doch nicht ganz falsch.
ANDREAS KILB
Patrick Boucheron: "Leonardo und Machiavelli". Geschichte einer unbekannten Begegnung. Aus dem Französischen von Sarah Heurtier und Sebastian Wilde.
Wolff Verlag, Berlin 2019. 180 S., br., 18,90 [Euro].
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