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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.06.2018

Die kleine Weltharmonie
Zwischen Idylle und Niedergang: „Leonhard“, Fritz Alexander Kauffmanns Chronik einer bürgerlichen Kindheit
Der wohlhabende Onkel heiratet, und Leonhard, der zehnjährige Neffe, gehört selbstverständlich zu den Hochzeitsgästen. Seine gleichaltrige Tischdame, eine resolutes Persönchen im Tüllkleid mit Augen von „fast wilder Stärke“ sagt ihm plötzlich unvermittelt: „Wenn du deine Fabrik kriegst, heirate ich dich.“ Der Junge zögert nicht lange, er stimmt dem Antrag zu, auch wenn das Mädchen ihn „nicht magisch“ betörte: „sie war in ihren Spitzen knusperfein wie eine Meringe, nur nicht so übersüß“. Die Idee der Heirat lag für Leonhard auch nicht fern: „Er stand ja auf der Höhe des Lebens.“
„Leonhard. Chronik einer Kindheit“ von Fritz Alexander Kauffmann ist ein ewiger Geheimtipp der deutschen Literatur. Eine erste Ausgabe erschien postum 1956, die Besprechungen fielen bewundernd aus. In dieser Zeitung verglich Günther Blöcker, einer der renommiertesten Kritiker dieser Jahre, „Leonhard“ mit Prousts „Recherche“, ein Vergleich, der seither immer wieder angestellt wurde. Das greift wohl ein wenig zu hoch. Zwar nimmt auch „Leonhard“ das Thema des Erinnerns auf, doch das Auseinandertreten des erinnernden Erzählers und seines erinnerten Ichs, das die „Recherche“ auszeichnet mitsamt den daran sich knüpfenden Reflexionen, ist viel schwächer.
Doch dass „Leonhard“ ein Buch von hohem Rang ist, wird man auch mit sechzig Jahren Abstand feststellen. Sein Autor verfügt über eine ungeheure Kraft der Beschreibung. Von einem zehnjährigen so energiegeladenen wie heiratslustigen Mädchen zu sagen, sie sei „knusperfein wie Meringe“, das ist nicht jedem gegeben. So ist man für eine neue Ausgabe des Buches dankbar, auch wenn die editorische Zugabe, die bislang ungedruckte Fortsetzung des Buches, literarisch abfällt. Zu deutlich spürt man, dass der Autor diese Fortsetzung nicht mehr so gründlich durchgearbeitet hat wie die ersten 500 Seiten.
Fritz Alexander Kauffmann wurde 1895 geboren, als Opfer eines Verkehrsunfalls starb er 1945. Eine Zeit arbeitete er als Gymnasiallehrer, 1931 wurde er als Professor für Kunsterziehung an die Pädagogische Akademie Halle berufen, doch schon im September 1933 aus politischen Gründen entlassen. Um 1940 begann er mit der Arbeit an der „Chronik einer Kindheit“, die bei allen literarischen Freiheiten doch sehr stark die der eigenen Kindheit ist. Mit vier Brüdern wuchs er auf im Kloster Denkendorf in der Nähe von Esslingen, das, längst säkularisiert, seiner Familie gehörte; der Vater betrieb dort eine Gewürzmühle, Likörfabrik und ähnliche Unternehmungen. Das Dorf war ganz auf das Kloster und den dort ansässigen Betrieb ausgerichtet, wer zur Eigentümerfamilie gehörte, stand ganz oben, „auf der Höhe des Lebens“.
Leonhard, von dem der Erzähler in der dritten Person schreibt, genießt eine glückliche Kindheit, behütet von liebevollen Eltern, sozial privilegiert, dabei erstaunlich frei. Familie, Landschaft und Kulturraum zeigen sich gleichermaßen wohlwollend-anregend. In der Erinnerung des Autors gibt es kaum etwas, was nicht „die Vorzeichen des rechtschaffen Schönen oder doch der dinglichen Anschauung trüge“. Anschauung ist das große Thema des Buches, Anschauung zunächst der Natur im „Überdrungensein vom Vegetativen“. Aber auch die zivilisatorischen Gegenstände, Stifte, Handwerkszeug, später auch Kunst werden mit größter Genauigkeit wahrgenommen. Und während der Lektüre erinnert sich der Leser, wie stark er als Kind auf sinnliche Reize reagierte. Für das Kind ist alles neu und unmittelbar, wo der Erwachsene abgestumpft oder doch gedämpft durch Wissen und Erfahrung reagiert. Worte haben ihren Reiz schon im Klang, in ihrer sinnlichen Existenz, ohne dass die begriffliche Seite bewusst sein müsste, deshalb auch die Liebe zum Reim bei Kindern.
Die sinnliche oder materielle Seite der Welt wirkt auf Leonhard stark, oder besser: weil in der sinnlichen Überwältigungskraft zugleich etwas Moralisches steckt. In Denkendorf, das „seit den Anfängen so viele gesittete Menschen und Familien freund-nachbarlich vereinigte, muss immer der Geist der Bildung und der guten Werke (…) gewaltet haben“. Es gibt genug Unverständliches für das Kind, wie es Kindern eben geht, aber der Junge arbeitete „in aller Stille an seiner kleinen Weltharmonie“. Sehr bezeichnend für die wohlgeordnete Welt, dass sie kein Jenseits braucht. Religion spielt keine Rolle, selten geht die Familie in die Kirche und auch dann nur, um gesellschaftlichen Erwartungen zu genügen. Das Diesseits ist so gelungen, dass die Hoffnung auf ein Jenseits keine Rolle spielt.
Dazu trägt vor allem die Mutter bei, eine schöne, gebildete, ruhige Frau, eine „kleine Athene“, die mit „sich selbst ganz in Frieden lebt, mit einer besänftigenden, ja „ambrosischen“ Wirkung auf die Kinder. Der Vater ist ein vitale, lebensfrohe Persönlichkeit, ein Mann der seinen Söhnen nahesteht. Nicht dass sie immer wieder reich beschenkt werden, ist bemerkenswert, sondern dass der Vater Geschenke auszusuchen versteht, die ins Herz der kindlichen Sehnsüchte treffen, und er – das ist das beste – am Glück teilhat, das er stiftet.
Aber er ist bei aller Vitalität ein schlechter Kaufmann. Die räumlichen Verhältnisse im Kloster stehen rationellen Fabrikationsverfahren im Wege, einen Bahnanschluss gibt es nicht. Der aufwendige Lebensstil lässt sich aus den Erträgen nicht finanzieren. Das drückt im Lauf der Zeit auf die Stimmung des Vaters. Die Familie verlässt das Kloster und zieht nach Esslingen, der Vater pendelt zwischen Familie und Betrieb. Gelegentlich bleibt er auf dem Weg hängen, in Restaurants beim Wein und womöglich auch bei anderen Frauen.
Doch das wird im Roman nur ganz vorsichtig angedeutet. Einmal reißt der betrunkene Vater seinen schlafenden Sohn aus dem Bett und mit geringstem Anlass schlägt er auf ihn mit der Reitpeitsche ein „wie wahnsinnig“. Das Familienidyll gerät allmählich ins Rutschen. Dass die Mutter keinen ebenbürtigen Partner hat, wird früh notiert. Aber das sind nur kurze Hinweise, eingesprenkelte Bemerkungen, die nicht erzählerisch entfaltet werden. Das schöne Nachwort des Herausgebers Kai Kauffmann, Professor für Literaturwissenschaft in Bielefeld und Enkel des Autors, weiß da mehr. Der wirtschaftliche Niedergang des Familienbetriebs, der moralische Zerfall des Vaters, Alkohol, Stimmungsschwankungen, Affären, zuletzt die Scheidung – das hätte den Stoff für Buddenbrooks auf dem Lande abgeben können.
Aber dazu hat es dann nicht gereicht. Familiäre Rücksichten spielten sicher eine Rolle, ein eigentümliches Desinteresse am Gesellschaftlichen vielleicht auch. Aber die idyllische Vorstellung von der Welt, das Behagen in ihr, die Lust an der eingehenden Beschreibung, sie haben nun mal ihren Grund in der Überzeugung, dass das, was ist und besonders das, was schön ist, auch sittlich oder sozial stimmt. Und was dem widerspricht, das dringt dann nur punktweise an die Oberfläche.
STEPHAN SPEICHER
Fritz Alexander Kauffmann: Leonhard. Chronik einer Kindheit. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Kai Kauffmann. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 790 Seiten, 29,90 Euro.
Der Vater des Erzählers
ist bei aller Vitalität
ein schlechter Kaufmann
Fritz Alexander Kauffmann (rechts) mit seinem jüngeren Bruder Kurt auf einem Ziegenbockgespann, wie in „Leonhard“ erzählt.
Foto: Karin Blankenhorn, Eberbach im Odenwald
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