À côté des feuilles volantes, des marges de livres, des cahiers et des carnets, les cartes à jouer ont occupé au XVIIIe siècle une place singulière, inédite peut-être, dans l'histoire des pratiques d'écriture des savants. Le nombre de ces cartes ne cesse d'augmenter dans toute l'Europe et leur dos vierge permet d'accueillir la masse d'écrits informels et préparatoires qui nourrissent la recherche savante.
Ce livre collectif, qui s'inscrit dans l'historiographie récente sur la matérialité des savoirs, fait surgir un ensemble de pratiques ordinaires, discrètes, invisibles, qui ordonne la vie savante, la scande et en constitue sa texture la plus élémentaire.
Avec Ann Blair, Gwenael Beuchet, Claire Bustarret, Isabelle Charmantier, Patrick Fournier, Patrick Latour, Manon Migot, Staffan Müller-Wille, Jeffrey S. Ravel
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Ce livre collectif, qui s'inscrit dans l'historiographie récente sur la matérialité des savoirs, fait surgir un ensemble de pratiques ordinaires, discrètes, invisibles, qui ordonne la vie savante, la scande et en constitue sa texture la plus élémentaire.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2023Auf die Rückseiten kam es an
Von Kärtchen, Zetteln und Katalogen: Ein Band führt vor, wie Spielkarten abseits ihrer eigentlichen Verwendung sich als Träger aller möglichen Informationen anboten.
Niklas Luhmann, der die Technik des Verschlagwortens und Verweisens so perfektionierte, dass er seinen Zettelkasten mit der Zeit sogar als "Junior-Partner" anerkannte, hatte in dem Genfer Mathematiker und Physiker Georges-Louis Le Sage im achtzehnten Jahrhundert einen zwar ähnlich sammelfreudigen, aber weit weniger erfolgreichen Vorgänger. Le Sage beschriftete Zeit seines Lebens etwa 35.000 Karten in einem Format von sechs mal neun Zentimetern mit den unterschiedlichsten Informationen: Zitate oder eigene Reflexionen, Skizzen für künftige Bücher oder Themen, die er erforschen wollte. Ausführlich dachte er über die Möglichkeiten nach, mit einem systematisch aufgebauten Zettelkasten seinem miserablen Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.
Letzteres schlug aber wohl nicht selten in sein Gegenteil um, wie er einer seiner Karten anvertraute. Eigentlich sollten diese ihm dabei helfen, Verbindungen zwischen unterschiedlichen Phänomenen herzustellen und so Neues zu entdecken. Doch immer wieder sortierte er die Karten um, gruppierte sie neu und steckte sie in kleine Umschläge, auf die er die Themen notierte, die sie enthielten. Diese bewahrte er wiederum in diversen Kästen oder Schubladen auf. Manchmal verlor er auf diese Weise, so klagte er, Zusammenhänge für längere Zeit derart aus dem Blick, dass in der Zwischenzeit andere die Erfindungen machten, die eigentlich in seinen Karten ebenfalls vorbereitet gewesen seien - zum Beispiel die, wie er fand, "brillante Erfindung des Gasballons".
Wenn Le Sage und sein Zettelkasten in jüngster Zeit das Interesse der Wissenschaftsgeschichte auf sich ziehen, dann allerdings weniger aufgrund seiner einigermaßen unbeholfen wirkenden Vorläuferschaft zu einer weitaus ausgereifteren Technik der Verzettelung, sondern vielmehr wegen des Materials, das er für seine Notizen nutzte. Denn Le Sage schrieb auf der Rückseite von ausrangierten Spielkarten, und mit dieser Art der Zweckentfremdung war er in seiner Zeit bei Weitem nicht allein. An eindrucksvollen Beispielen zeigen dies die Beiträge in dem Sammelband zu den "Spielkarten des Wissens", den die Wissenschaftshistoriker Jean-François Bert und Jérôme Lamy zusammengestellt haben. Die Aufsätze sind lesenswert nicht nur als Beitrag zur Erforschung der materiellen Voraussetzungen von Wissenschaft und ihrer Praktiken.
In ihrer Machart vereinen die Karten zahlreiche Eigenschaften, die sie für ein wissbegieriges Jahrhundert zum idealen Werkzeug werden ließen, um die Masse an neuen Informationen auszuwählen, zu sortieren und zu klassifizieren. Dazu haben die Karten, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung hervorheben, einen unschlagbaren "epistemischen Vorteil": Einzelne Exemplare können ausgetauscht, die Karten insgesamt neu arrangiert werden. Für die Handhabbarkeit sorgten standardisierte Größen und eine besondere Stabilität. Die Karten wurden in spezialisierten Manufakturen aus drei Schichten zusammengesetzt: einer mittleren Schicht aus dickem grauen Papier minderer Qualität, auf dessen beiden Seiten jeweils feineres, glattes Papier aufgebracht wurde. Was sie aber überhaupt erst zur Schreibfläche geeignet machte, war die Tatsache, dass es in Frankreich verboten war, den Rücken zu bedrucken. Ausrangierte Karten waren in großer Menge in Umlauf: Waren einzelne Karten verschmutzt oder beschädigt, mussten die gesamten Spiele ausgetauscht werden. Fehldrucke ließen sich bei den Kartenmachern direkt zum Kilopreis erstehen. Während Papier noch sehr teuer war, standen Spielkarten preiswert zur Verfügung.
So kam es, dass das achtzehnte Jahrhundert zur großen Zeit der zweckentfremdeten Spielkarten wurde. Klein und leicht in der Jackentasche mitzuführen, boten sie eine stabile Schreibunterlage, um sich unterwegs Einfälle zu notieren. Von Jean-Jacques Rousseau etwa sind 27 Spielkarten mit ersten Beobachtungen und Überlegungen zu den "Träumereien eines einsamen Spaziergängers" erhalten. Und weil sie stets zur Hand waren, findet sich auf den Karten von Veranstaltungsankündigungen über Werbetexte bis hin zu Arzneiverordnungen, über die in dem Band ein eigener Beitrag berichtet, so allerhand. Im Rechtswesen fanden sie Verwendung, indem man die kleinen Kartons auf Leinen- oder Lederbeutel nähte, in denen Gerichtsakten an Wand oder Decke aufgehängt wurden, um sie vor Ungeziefer zu schützen. Naturforscher konnten sie gebrauchen, um einzelne Exemplare ihrer Sammlung wie etwa getrocknete Pflanzen auf ihnen zu fixieren. Der Toulouser Geologe Philippe Picot de Lapeyrouse verwendete sie nicht nur als Etiketten für seine mineralogische Sammlung, sondern ließ aus ihnen auch kleine Schachteln fertigen, in denen er seine Gesteinsproben aufbewahrte.
Nicht zuletzt standen Spielkarten am Ursprung der Bibliothekskataloge. Denn als Pierre Desmarais 1722 zum Bibliothekar der von Kardinal Mazarin gestifteten Bibliothek ernannt wurde, fand er zwar eine etwa 40.000 Bände starke Sammlung vor, die jedoch von seinen Vorgängern in einem ziemlichen Durcheinander hinterlassen worden war. Eine königliche Kommission machte die Vorgabe, dass die Bestände erfasst und neben dem alphabetischen auch ein Sachkatalog erstellt werden sollte. Das sollte zu Desmarais' Lebensaufgabe werden. Er ließ jeden einzelnen Band auf einer separaten Karte erfassen, um auf dieser Grundlage zunächst alle Bücher nach Sachthemen zu sortieren, aus denen ein mehrbändiger Katalog erstellt wurde. Im Anschluss daran wurden die Karten nach Autorenalphabet umsortiert, und der 38 Bände umfassende Katalog, der daraus hervorging, blieb mit Ergänzungen bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Gebrauch.
Allerdings gilt heute nicht Desmarais, sondern Gottfried van Swieten, der als Präfekt der Kaiserlichen Hofbibliothek in Wien ab 1780 die dortigen Bestände auf Karteikarten erfassen ließ, gemeinhin als Erfinder des Kartenkatalogs. Letztlich war dies jedoch, wie der Medienwissenschaftler Markus Krajewski vor einigen Jahren zeigen konnte, seinem Misserfolg geschuldet: Es gelang ihm schlichtweg nicht, die Masse der auf den Karteikarten erfassten Daten in Buchform zu überführen, sodass sie im Gegensatz zu den Karten in der Bibliothèque Mazarine weiterhin in Gebrauch blieben.
Nach 1816 endete in Frankreich das Doppelleben der Spielkarten, als ein neues Steuergesetz die Verwendung von gemustertem Papier für die Rückseite der Karten erlaubte. Es begann nun die Produktion von speziellen Karten für die unterschiedlichen Zwecke, von Kartei- bis zu Visitenkarten. Die Geschichte all dieser Karten und ihrer Bedeutung für die Organisation des Wissens , so formulierte es die Wissenschaftshistorikerin Ann Blair einmal, beginnt gerade erst geschrieben zu werden. Dass die systematische Erfassung von Information auch auf dem Rücken von Spielkarten begann, fügt dieser Geschichte eine ironische Volte hinzu. SONJA ASAL
Jean-François Bert/Jérôme Lamy (Hg.): "Les cartes à jouer du savoir". Détournements savants au XVIIIe siècle.
Schwabe Verlag, Basel 2023. 245 S., Abb., br. 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Kärtchen, Zetteln und Katalogen: Ein Band führt vor, wie Spielkarten abseits ihrer eigentlichen Verwendung sich als Träger aller möglichen Informationen anboten.
Niklas Luhmann, der die Technik des Verschlagwortens und Verweisens so perfektionierte, dass er seinen Zettelkasten mit der Zeit sogar als "Junior-Partner" anerkannte, hatte in dem Genfer Mathematiker und Physiker Georges-Louis Le Sage im achtzehnten Jahrhundert einen zwar ähnlich sammelfreudigen, aber weit weniger erfolgreichen Vorgänger. Le Sage beschriftete Zeit seines Lebens etwa 35.000 Karten in einem Format von sechs mal neun Zentimetern mit den unterschiedlichsten Informationen: Zitate oder eigene Reflexionen, Skizzen für künftige Bücher oder Themen, die er erforschen wollte. Ausführlich dachte er über die Möglichkeiten nach, mit einem systematisch aufgebauten Zettelkasten seinem miserablen Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.
Letzteres schlug aber wohl nicht selten in sein Gegenteil um, wie er einer seiner Karten anvertraute. Eigentlich sollten diese ihm dabei helfen, Verbindungen zwischen unterschiedlichen Phänomenen herzustellen und so Neues zu entdecken. Doch immer wieder sortierte er die Karten um, gruppierte sie neu und steckte sie in kleine Umschläge, auf die er die Themen notierte, die sie enthielten. Diese bewahrte er wiederum in diversen Kästen oder Schubladen auf. Manchmal verlor er auf diese Weise, so klagte er, Zusammenhänge für längere Zeit derart aus dem Blick, dass in der Zwischenzeit andere die Erfindungen machten, die eigentlich in seinen Karten ebenfalls vorbereitet gewesen seien - zum Beispiel die, wie er fand, "brillante Erfindung des Gasballons".
Wenn Le Sage und sein Zettelkasten in jüngster Zeit das Interesse der Wissenschaftsgeschichte auf sich ziehen, dann allerdings weniger aufgrund seiner einigermaßen unbeholfen wirkenden Vorläuferschaft zu einer weitaus ausgereifteren Technik der Verzettelung, sondern vielmehr wegen des Materials, das er für seine Notizen nutzte. Denn Le Sage schrieb auf der Rückseite von ausrangierten Spielkarten, und mit dieser Art der Zweckentfremdung war er in seiner Zeit bei Weitem nicht allein. An eindrucksvollen Beispielen zeigen dies die Beiträge in dem Sammelband zu den "Spielkarten des Wissens", den die Wissenschaftshistoriker Jean-François Bert und Jérôme Lamy zusammengestellt haben. Die Aufsätze sind lesenswert nicht nur als Beitrag zur Erforschung der materiellen Voraussetzungen von Wissenschaft und ihrer Praktiken.
In ihrer Machart vereinen die Karten zahlreiche Eigenschaften, die sie für ein wissbegieriges Jahrhundert zum idealen Werkzeug werden ließen, um die Masse an neuen Informationen auszuwählen, zu sortieren und zu klassifizieren. Dazu haben die Karten, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung hervorheben, einen unschlagbaren "epistemischen Vorteil": Einzelne Exemplare können ausgetauscht, die Karten insgesamt neu arrangiert werden. Für die Handhabbarkeit sorgten standardisierte Größen und eine besondere Stabilität. Die Karten wurden in spezialisierten Manufakturen aus drei Schichten zusammengesetzt: einer mittleren Schicht aus dickem grauen Papier minderer Qualität, auf dessen beiden Seiten jeweils feineres, glattes Papier aufgebracht wurde. Was sie aber überhaupt erst zur Schreibfläche geeignet machte, war die Tatsache, dass es in Frankreich verboten war, den Rücken zu bedrucken. Ausrangierte Karten waren in großer Menge in Umlauf: Waren einzelne Karten verschmutzt oder beschädigt, mussten die gesamten Spiele ausgetauscht werden. Fehldrucke ließen sich bei den Kartenmachern direkt zum Kilopreis erstehen. Während Papier noch sehr teuer war, standen Spielkarten preiswert zur Verfügung.
So kam es, dass das achtzehnte Jahrhundert zur großen Zeit der zweckentfremdeten Spielkarten wurde. Klein und leicht in der Jackentasche mitzuführen, boten sie eine stabile Schreibunterlage, um sich unterwegs Einfälle zu notieren. Von Jean-Jacques Rousseau etwa sind 27 Spielkarten mit ersten Beobachtungen und Überlegungen zu den "Träumereien eines einsamen Spaziergängers" erhalten. Und weil sie stets zur Hand waren, findet sich auf den Karten von Veranstaltungsankündigungen über Werbetexte bis hin zu Arzneiverordnungen, über die in dem Band ein eigener Beitrag berichtet, so allerhand. Im Rechtswesen fanden sie Verwendung, indem man die kleinen Kartons auf Leinen- oder Lederbeutel nähte, in denen Gerichtsakten an Wand oder Decke aufgehängt wurden, um sie vor Ungeziefer zu schützen. Naturforscher konnten sie gebrauchen, um einzelne Exemplare ihrer Sammlung wie etwa getrocknete Pflanzen auf ihnen zu fixieren. Der Toulouser Geologe Philippe Picot de Lapeyrouse verwendete sie nicht nur als Etiketten für seine mineralogische Sammlung, sondern ließ aus ihnen auch kleine Schachteln fertigen, in denen er seine Gesteinsproben aufbewahrte.
Nicht zuletzt standen Spielkarten am Ursprung der Bibliothekskataloge. Denn als Pierre Desmarais 1722 zum Bibliothekar der von Kardinal Mazarin gestifteten Bibliothek ernannt wurde, fand er zwar eine etwa 40.000 Bände starke Sammlung vor, die jedoch von seinen Vorgängern in einem ziemlichen Durcheinander hinterlassen worden war. Eine königliche Kommission machte die Vorgabe, dass die Bestände erfasst und neben dem alphabetischen auch ein Sachkatalog erstellt werden sollte. Das sollte zu Desmarais' Lebensaufgabe werden. Er ließ jeden einzelnen Band auf einer separaten Karte erfassen, um auf dieser Grundlage zunächst alle Bücher nach Sachthemen zu sortieren, aus denen ein mehrbändiger Katalog erstellt wurde. Im Anschluss daran wurden die Karten nach Autorenalphabet umsortiert, und der 38 Bände umfassende Katalog, der daraus hervorging, blieb mit Ergänzungen bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Gebrauch.
Allerdings gilt heute nicht Desmarais, sondern Gottfried van Swieten, der als Präfekt der Kaiserlichen Hofbibliothek in Wien ab 1780 die dortigen Bestände auf Karteikarten erfassen ließ, gemeinhin als Erfinder des Kartenkatalogs. Letztlich war dies jedoch, wie der Medienwissenschaftler Markus Krajewski vor einigen Jahren zeigen konnte, seinem Misserfolg geschuldet: Es gelang ihm schlichtweg nicht, die Masse der auf den Karteikarten erfassten Daten in Buchform zu überführen, sodass sie im Gegensatz zu den Karten in der Bibliothèque Mazarine weiterhin in Gebrauch blieben.
Nach 1816 endete in Frankreich das Doppelleben der Spielkarten, als ein neues Steuergesetz die Verwendung von gemustertem Papier für die Rückseite der Karten erlaubte. Es begann nun die Produktion von speziellen Karten für die unterschiedlichen Zwecke, von Kartei- bis zu Visitenkarten. Die Geschichte all dieser Karten und ihrer Bedeutung für die Organisation des Wissens , so formulierte es die Wissenschaftshistorikerin Ann Blair einmal, beginnt gerade erst geschrieben zu werden. Dass die systematische Erfassung von Information auch auf dem Rücken von Spielkarten begann, fügt dieser Geschichte eine ironische Volte hinzu. SONJA ASAL
Jean-François Bert/Jérôme Lamy (Hg.): "Les cartes à jouer du savoir". Détournements savants au XVIIIe siècle.
Schwabe Verlag, Basel 2023. 245 S., Abb., br. 32,- Euro.
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