Produktdetails
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- Verlag: Editions du Seuil / Import
- Seitenzahl: 726
- Französisch
- Abmessung: 180mm
- Gewicht: 432g
- ISBN-13: 9782020408080
- Artikelnr.: 73135491
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Die Widersprüche, Wendungen und Brüche der Politik Mitterrands
Jean Lacouture: "Mitterrand. Une Histoire de Français" (2 Bände, Ed. Seuil, Paris, September 1998).
Seine drei Bände umfassende Biographie de Gaulles gehört zu den Referenzwerken für jeden Franzosen, der sich für das Leben und Wirken des Generals interessiert. Jetzt hat Jean Lacouture über einen Staatsmann geschrieben, dem oft gaullistische Züge nachgesagt wurden: François Mitterrand. Als "Geschichte eines Franzosen" will Lacouture den Lebensweg Mitterrands verstanden wissen. Seine vielschichtige Persönlichkeit sei Ausdruck der Komplexität "der Franzosen im allgemeinen", die Widersprüche seiner Politik, die Wendungen und Brüche in seinem Leben bezeichnend für eine Suche, die allen Franzosen gemein sei. Lacouture unterscheidet zwei Phasen im Leben Mitterrands. Die erste reicht bis zu seiner Wahl zum Staatspräsidenten und entspricht dem ersten Band ("Les Risques de l'Escalade"), die zweite umfaßt die vierzehn Jahre seiner Präsidentschaft, denen Lacouture den Titel "Schwindel am Gipfel" ("Les Vertiges du Sommet") gegeben hat. Wer hoffte, bei Lacouture auf bislang unerschlossene Quellen zu stoßen und zu einem neuen Verständnis des im Januar 1996 verstorbenen Politikers zu gelangen, wird enttäuscht. Der Autor stützt sich, wie er im Vorwort schreibt, im wesentlichen auf frei zugängliche Veröffentlichungen: etwa auf Attalis "Verbatim"-Bände, Védrines "Les Mondes de François Mitterrand" oder Péans "Une Jeunesse Française" und andere Schriften von Mitarbeitern oder Beobachtern, die meist in Zeitungen und Zeitschriften publizierten. Das schmälert nicht das Verdienst Lacoutures, erstmals alle zur Verfügung stehenden Aufzeichnungen ausgewertet und eine Biographie mit dem Anspruch der "unvoreingenommenen Distanz" erstellt zu haben.
Zu den spannendsten Dokumenten des Buches zählt zweifelsohne das Gespräch des Autors mit Staatspräsident Chirac. Zum Tod Mitterrands hatte Chirac eine Trauerrede gehalten, in der er dem Lebenswerk seines Vorgängers große Achtung und Respekt entgegenbrachte. Besonders in den Reihen der neogaullistischen Sammlungsbewegung war die Ansprache Chiracs als "zu positiv" kritisiert worden. Befragt von Lacouture (am 13. März 1998), äußert Chirac hingegen weitgehende Kritik an Mitterrand. Chirac zieht die republikanischen Überzeugungen seines sozialistischen Vorgängers in Zweifel. "(. . .) Ich halte seine republikanischen Überzeugungen, zu denen er sich bekannte, für nicht sehr solide. Wenn er ein wahrer Republikaner gewesen wäre, hätte er nicht zur Konsolidierung der Nationalen Front beigetragen, wie er es getan hat", sagte Chirac auf die Frage Lacoutures, ob Mitterrands Handeln von Überzeugungen getragen war. "Ich bin mir sicher, daß Mitterrand das Anwachsen (der Nationalen Front) wollte, um uns auf unserer Rechten hinterrücks zu schlagen. Er sagte mir selbst: Verteufeln führt zur Stärkung . . . Er hat die Nationale Front mit seinen Händen geschaffen. Ich habe es ihm übrigens ausdrücklich vorgeworfen", sagte Chirac. Die Äußerungen des Staatspräsidenten, die von den Zeitungen "Le Monde" und "Le Figaro" abgedruckt wurden, regten eine Debatte über Mitterrands Verantwortung am Erfolg der rechtsextremen Partei an. Das war jedoch offenbar nicht im Sinne Chiracs, der seine Sprecherin erläutern ließ, Lacouture habe ihn nicht darüber informiert, daß er den Wortlaut des Gesprächs abdrucken wolle. Der Staatspräsident sei über die Veröffentlichung nicht erfreut.
Leider trägt Lacouture in der Biographie nicht dazu bei, Mitterrands politisches Kalkül im Zusammenhang mit der Nationalen Front zu erhellen. Die Schilderung Mitterrands außenpolitischer Vorstellungen und Entscheidungen nimmt den größten Teil des - politisch interessanteren - zweiten Bandes ein. Hier orientiert sich Lacouture streng am Urteil des früheren Präsidentenberaters und heutigen Außenministers Védrine. Als Leitgedanke dient ihm der Einfluß de Gaulles auf Mitterrand. In der Frage der deutschen Wiedervereinigung etwa habe de Gaulle Mitterrand schon 1959 einen "Rahmen" vorgezeichnet: Europäische Entente, Nachsicht mit Moskau.
Lacouture verteidigt Mitterrand gegen den Vorwurf, er habe sich kurzsichtig oder nationalistisch verhalten, etwa als er nach dem Mauerfall in die DDR oder zu Gorbatschow reiste oder, wie Attali aufdeckte, erbost und entsetzt auf den Bonner Zehn-Punkte-Plan reagierte. "Hat man sich wirklich gefragt, was das Verhalten General de Gaulles gewesen wäre bei einer solchen Gelegenheit?" schreibt Lacouture und unterstellt, de Gaulle hätte wie Mitterrand "mit der Vorsicht eines weitsichtigen Staatsmannes" gehandelt. Unklar bleibt bis zum Schluß, warum Mitterrands Lebenslauf Symbolcharakter hat.
MICHAELA WIEGEL
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