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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2001

Tränennasse Taschentücher
Furcht und Mitleid: Ein neues Lessing-Handbuch setzt Maßstäbe

Mit dem Typus des Autoren-Handbuchs ist in die Literaturwissenschaft zurückgekehrt, was dieser vom raschen Wechsel der Moden und Methoden gezausten akademischen Disziplin lange am meisten abzugehen drohte: Solidität. Zu Goethe, Schiller, Fontane und einigen anderen Schriftstellern, deren Erforschung an Intensität und Extensität besonders zugenommen hat, existieren solche Werke bereits, welche die Funktionen von Einführung, Literaturbericht und Nachschlagewerk vereinen.

Das neue Handbuch zu Lessing von Monika Fick ist in vieler Hinsicht ein Maßstäbe setzender Idealfall: Es ist - abweichend vom üblichen Verfahren - nicht von mehreren Mitarbeitern, sondern von einer einzigen Gelehrten verfaßt, und man merkt dem Buch allenthalben an, daß es aus einem Guß gedacht und gearbeitet ist. In allen Abschnitten des Hauptteils, der rund vier Fünftel des Buches ausmacht, kehrt dieselbe Gliederung wieder: Zunächst unterrichtet die Autorin über Entstehung, Quellen und Kontext eines einzelnen Werks oder einer Werkgruppe, referiert dann wichtige Positionen der Forschung, trägt unter der Überschrift "Analyse" eigene Deutungen vor und schließt mit Ausführungen zu Aufnahme und Wirkung. Erfreulich ist, daß weniger bekannte Arbeiten - etwa zum Epigramm, zum Leben des Tragikers Sophokles, zur Fabel - genauso gründlich behandelt werden wie die im akademischen Unterricht gängigen Arbeiten Lessings.

Ein Beispiel für viele: Vor etwa fünfzig Jahren hatte Wolfgang Schadewaldt mit seinem Aufsatz "Furcht und Mitleid" die sogenannte altphilologische Lessing-Debatte ausgelöst. In dem anschließenden Schlagabtausch hatten einige - im griechischen Original der "Poetik" des Aristoteles nicht ganz sattelfeste - Germanisten dagegen polemisiert, daß der Tübinger Gräzist den Griechen die Disposition zu Mitleid abgesprochen habe. Das hatte er aber gar nicht, sondern nachgewiesen, daß Lessings Übersetzung "Furcht" und "Mitleid" nicht den Sinn der von Aristoteles zur Definition der Tragödienwirkung verwendeten Ausdrücke "phobos" und "eleos" treffe, mit denen vielmehr Elementaraffekte wie "Schauder" und "Jammer" beziehungsweise "Schrecken" und "Rührung" gemeint seien. Dazu hatte er eine Fülle von Bezügen zur medizinischen Terminologie des Corpus Hippocraticum aufgezeigt, aus dem auch die Vorstellung von der durch die Tragödie im Zuschauer bewirkte Katharsis stamme, die nicht eine sittliche Reinigung, sondern eine Purgierung von Affekten meine. Von "Tränen" und "nassen Taschentüchern" sprach anschaulich der Altphilologe, und die Katharsis bedeutete im Verständnis der Alten gerade nicht, wie Lessing in der Tragödienpassage der "Hamburgischen Dramaturgie" schrieb, eine sittliche Läuterung. Dafür hat das Theater noch nie getaugt, und bei Aristoteles ist die Rede von einer Art Purgierung vom übermäßigen Druck der Affekte - wer dabei an eine geistige Variante des im achtzehnten Jahrhundert so verbreiteten Klistiers denkt, hat genau die richtige Assoziation. Mit alledem aber hat Schadewaldt nie behauptet, die Griechen hätten keinen Begriff von Mitleid gehabt - ein absurder Vorwurf , wenn man nur an Achills Mitleid mit dem greisen Troerkönig Priamos denkt, der den Griechen um die Freigabe des geschändeten Leichnams von Hektor anfleht.

In der Studie "Dramaturgie der Menschheit - Lessing" (Stuttgart, Weimar 1996), so resümiert Fick die jüngste Forschung zum Gegenstand, "holt Thomas Dreßler zu einer Generalrevision der ,altphilologischen Lessing-Kritik' aus. Scharf wendet er sich gegen die Übersetzung der neutralen Termini eleos und phobos mit ,Jammer' und ,Schauder'. Schadewaldt und andere reduzierten die Tragödie auf ein Jahrmarktsspektakel. Er plädiert für die ,Rekultivierung' der Poetik. ,Mitleid' und ,Furcht', psychisch distinkte Funktionen, seien unter eleos und phobos zu verstehen. Trotz dieser Polemik ist Dreßler im Endeffekt von Schadewaldts Tragödienauffassung gar nicht so weit entfernt. Nur daß er Lessings Konzept mit ihr harmonisiert und nicht von ihr unterscheidet. Lessing wolle die elementare Erschütterung, wolle die Erregung der Leidenschaften. Sein tragisches Mitleid hebe auf die unverfälschte Kraft einer Naturempfindung ab. Wovon aber spricht Schadewaldt, wenn er den ,Jammer' erläutert? Von naturhaft ungebrochenen emotionalen Erschütterungen." Vornehmer und klarer zugleich kann man in eine Sackgasse verrannte Interpreten nicht zur Raison rufen, als Fick es tut.

Den detailgesättigten Kapiteln zu den Werken stehen vier Überblicke voran: zu Lessings Biographie im Kontext des achtzehnten Jahrhunderts, zu den kontrastierenden Lessing-Bildern im Laufe der Rezeptionsgeschichte dieses Autors - einmal nicht nur zu Mehrings "Lessing-Legende", sondern auch zu Ideologisierungen, die sich selbst gegen den Versailler Vertrag noch auf Lessings Kritik französischer Literatur beriefen - und zur philosophischen, theologischen und ideengeschichtlichen Situierung des Autors sowie zu seiner Stellung in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Eine umfangreiche Bibliographie beschließt das Opus maximum, von dem auf längere Zeit alle Lessing-Forschung ihren Ausgang nehmen wird.

HANS-ALBRECHT KOCH

Monika Fick: "Lessing-Handbuch". Leben - Werk - Wirkung. J. B. Metzler, Stuttgart 2000. XVIII, 517 S., geb., 78,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Folgt man dem Urteil des Rezensenten Hans-Albrecht Koch, so muss man das neue Lessing-Handbuch unbedingt haben, egal, ob man schon viele Jahre als Forscher den Spuren des großen Aufklärers und seiner Werke gefolgt ist oder gerade beginnt, die "Minna" zu studieren. Monika Ficks "Autoren-Handbuch", mit dem Vorteil der Homogenität im Denk- und Schreibstil, bringt Solidität in die Literaturwissenschaft zurück, schreibt Koch, und ist ein "Maßstäbe setzender Idealfall". So behandele die Autorin nicht nur weniger bekannte Arbeiten mit gleicher Sorgfalt und Gründlichkeit wie die großen Werke, sie belebe auch in sich totgelaufene Diskussionen und bringe "in Sackgassen verrannte Interpreten" zur Raison, wie man es "vornehmer und klarer zugleich" gar nicht kann, schreibt Koch. Ein richtiges Standardwerk, so scheint es, und Koch prophezeit, dass hier auf unabsehbare Zeit "alle Lessing-Forschung ihren Ausgang nehmen wird".

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