Das Lessing Yearbook, offizielles Organ der Lessing Society mit Sitz in Cincinnati, Ohio, ist ein weltweit anerkanntes, wichtiges Forum für alle Wissenschaftler, die sich - in englischer und deutscher Sprache - mit Literatur, Kultur und Gedankengut Deutschlands im 18. Jahrhundert beschäftigen.Mit Beiträgen von Wolfgang Albrecht, Karl S. Guthke, Katja Garloff, Bengt Algot Sørensen, John Hamilton, Winfried Woesler, Uwe Hentschel, Robert B. McFarland, Martin Disselkamp, Christoph E. SchweitzerDie Bände 1-28 des Lessing Yearbooks sind zu beziehen bei:Lessing SocietyGerman StudiesUniversity of Cincinnati45221-0372
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2006Heraus mit ihm
Lessing lebt, aber nur im Exil: Das Amerika-Jahrbuch
Klassiker ist nicht gleich Klassiker. Goethe und Schiller sind Gegenstand großer neuer Biographien, ihr Leben ist fast lückenlos erschlossen. Ihre Werke und Briefe liegen in historisch-kritischen Editionen sowie reich kommentierten Studienausgaben vor. Anders verhält es sich mit Lessing. Trotz der ausgezeichneten Ausgabe im Deutschen Klassikerverlag blieb er von der kritischen Editionsphilologie beinahe unberührt. Ohne Auslandsgermanistik, wie das oft abfällig heißt, stünde er noch schlechter da: So entsteht gegenwärtig in Cambridge die erste wirklich umfassende Lebensbeschreibung seit Erich Schmidt (1884), und eine eigene wissenschaftliche Gesellschaft mit Jahrbuch gibt es nur in Amerika. Vor vierzig Jahren haben die Emigranten Gottfried Felix Merkel und Guy Stern die Lessing Society in Cincinnati, Ohio, gegründet, der Ruth Klüger oder Wilfried Barner vorstanden.
Das zugehörige Jahrbuch zur Lessing-Zeit hat sich über die Jahrzehnte hinweg gehalten. Die Krise, die sich in den letzten Folgen mit einem immer kleiner werdenden Rezensionsteil abzeichnete, scheint inzwischen überwunden. Der nun erschienene 36. Band erreicht nicht nur wieder die gewohnte Qualität, sondern beweist neuen Mut zur historischen Forschung. Mit methodischer Rückständigkeit hat das nichts zu tun, wohl aber mit der gegenüber den Weimarer Klassikern weitaus größeren Zahl offener Fragen. Viele Sachverhalte, für die man bei Goethe oder Schiller mit Selbstverständlichkeit auf den Bienenfleiß von Editoren und Literaturdetektiven rechnen könnte, sind im Falle Lessings und seiner Freunde nicht eben leicht aufklärbar. So verspricht der jüngste Band manche Entdeckung - nicht nur über Lessings "Laookon", "Literaturbriefe" und Reimarus-Fragmente, sondern auch über Anna Louise Karsch, Jakob Michael Reinhold Lenz oder Christian Ludwig Liscow.
Wohl am spannendsten ist die Auflösung eines seltsamen Rätsels: Es handelt von der Vision eines jüdischen Exils in den Gründungsstaaten der Neuen Welt. 1783 erscheint in der Zeitschrift "Deutsches Museum" das anonyme "Schreiben eines deutschen Juden, an den Präsidenten des Kongresses der Vereinigten Staaten von Amerika". In diesem hier erneut abgedruckten offenen Brief bittet der Verfasser darum, zweitausend jüdischen Familien, die unter den bedrückenden Verhältnissen in Europa leiden, vorübergehend Zuflucht zu gewähren. Schließlich würden mindestens noch hundert Jahre vergehen, bis die Bevölkerung der dreizehn Neuenglandstaaten so stark angewachsen sei, um die verfügbaren großen Weiten des Landes urbar zu machen. Bis dahin solle man den einwandernden Juden die Chance geben, "auf ihre Kosten Kolonien anzulegen, Ackerbau, Handel, Künste und Wissenschaften treiben zu dürfen".
Die Idee erinnert fatal an die Suche nach territorialen Alternativen zu Palästina, die der Staatsgründung Israels vorausging. Doch weder 1783 noch 1787 - anläßlich einer zweiten, mit dem Namen Moses Mendelssohns verbundenen Publikation des "Schreibens" - führte diese Idee zum Erfolg. Doch wer kam auf den ingeniösen Einfall? Es war kein Jude, wie Christoph E. Schweitzer jetzt nachweist, sondern der Aufklärer Leopold Friedrich Günther Goeckingk. Wie sein Gefährte Christian Wilhelm von Dohm, Verfasser der Schrift "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" (1781), wünschte er den deutschen Juden eine bessere Zukunft. Daß sein Vorschlag nun unter dem Dach des nach Amerika exilierten Lessing aufgedeckt und gewürdigt wird, ist eine schöne Ironie der Geschichte.
ALEXANDER KOSENINA.
Lessing Yearbook / Jahrbuch Bd. 36, 2004/2005. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 285 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lessing lebt, aber nur im Exil: Das Amerika-Jahrbuch
Klassiker ist nicht gleich Klassiker. Goethe und Schiller sind Gegenstand großer neuer Biographien, ihr Leben ist fast lückenlos erschlossen. Ihre Werke und Briefe liegen in historisch-kritischen Editionen sowie reich kommentierten Studienausgaben vor. Anders verhält es sich mit Lessing. Trotz der ausgezeichneten Ausgabe im Deutschen Klassikerverlag blieb er von der kritischen Editionsphilologie beinahe unberührt. Ohne Auslandsgermanistik, wie das oft abfällig heißt, stünde er noch schlechter da: So entsteht gegenwärtig in Cambridge die erste wirklich umfassende Lebensbeschreibung seit Erich Schmidt (1884), und eine eigene wissenschaftliche Gesellschaft mit Jahrbuch gibt es nur in Amerika. Vor vierzig Jahren haben die Emigranten Gottfried Felix Merkel und Guy Stern die Lessing Society in Cincinnati, Ohio, gegründet, der Ruth Klüger oder Wilfried Barner vorstanden.
Das zugehörige Jahrbuch zur Lessing-Zeit hat sich über die Jahrzehnte hinweg gehalten. Die Krise, die sich in den letzten Folgen mit einem immer kleiner werdenden Rezensionsteil abzeichnete, scheint inzwischen überwunden. Der nun erschienene 36. Band erreicht nicht nur wieder die gewohnte Qualität, sondern beweist neuen Mut zur historischen Forschung. Mit methodischer Rückständigkeit hat das nichts zu tun, wohl aber mit der gegenüber den Weimarer Klassikern weitaus größeren Zahl offener Fragen. Viele Sachverhalte, für die man bei Goethe oder Schiller mit Selbstverständlichkeit auf den Bienenfleiß von Editoren und Literaturdetektiven rechnen könnte, sind im Falle Lessings und seiner Freunde nicht eben leicht aufklärbar. So verspricht der jüngste Band manche Entdeckung - nicht nur über Lessings "Laookon", "Literaturbriefe" und Reimarus-Fragmente, sondern auch über Anna Louise Karsch, Jakob Michael Reinhold Lenz oder Christian Ludwig Liscow.
Wohl am spannendsten ist die Auflösung eines seltsamen Rätsels: Es handelt von der Vision eines jüdischen Exils in den Gründungsstaaten der Neuen Welt. 1783 erscheint in der Zeitschrift "Deutsches Museum" das anonyme "Schreiben eines deutschen Juden, an den Präsidenten des Kongresses der Vereinigten Staaten von Amerika". In diesem hier erneut abgedruckten offenen Brief bittet der Verfasser darum, zweitausend jüdischen Familien, die unter den bedrückenden Verhältnissen in Europa leiden, vorübergehend Zuflucht zu gewähren. Schließlich würden mindestens noch hundert Jahre vergehen, bis die Bevölkerung der dreizehn Neuenglandstaaten so stark angewachsen sei, um die verfügbaren großen Weiten des Landes urbar zu machen. Bis dahin solle man den einwandernden Juden die Chance geben, "auf ihre Kosten Kolonien anzulegen, Ackerbau, Handel, Künste und Wissenschaften treiben zu dürfen".
Die Idee erinnert fatal an die Suche nach territorialen Alternativen zu Palästina, die der Staatsgründung Israels vorausging. Doch weder 1783 noch 1787 - anläßlich einer zweiten, mit dem Namen Moses Mendelssohns verbundenen Publikation des "Schreibens" - führte diese Idee zum Erfolg. Doch wer kam auf den ingeniösen Einfall? Es war kein Jude, wie Christoph E. Schweitzer jetzt nachweist, sondern der Aufklärer Leopold Friedrich Günther Goeckingk. Wie sein Gefährte Christian Wilhelm von Dohm, Verfasser der Schrift "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" (1781), wünschte er den deutschen Juden eine bessere Zukunft. Daß sein Vorschlag nun unter dem Dach des nach Amerika exilierten Lessing aufgedeckt und gewürdigt wird, ist eine schöne Ironie der Geschichte.
ALEXANDER KOSENINA.
Lessing Yearbook / Jahrbuch Bd. 36, 2004/2005. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 285 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Alexander Kosenina kann sich einen Seitenhieb auf die "Inlandsgermanistik" nicht verkneifen, die einen Klassiker wie Lessing editionsphilologisch derart vernachlässigen konnte, dass die Lessing-Jahrbücher der Lessing Society aus Cincinnati ihm schon als Großtat erscheinen. Dabei stellt Kosenina fest, wie mager das "Yearbook" aus Ohio zuletzt geworden war. Der nun vorliegende 36. Band allerdings stellt den Rezensenten zufrieden. Dankbar registriert er die Rückkehr alter Tugenden und neu erwachte Ambitionen in der Forschung. Lessing sei nicht so zugänglich wie Goethe, weiß Kosenina, und Kosenina entdeckt Neues zum "Laookon", zu den Reimarus-Fragmenten und zu Lessings Zeitgenossen Lenz und Liscow. Ganz aus dem Häuschen gerät er über die Klärung der Autorschaft der frühen Vision eines jüdischen Staates in den USA. Der Aufklärer Leopold Friedrich Günther Goeckingk schrieb sie nieder. Hätten Sie es gewusst?
© Perlentaucher Medien GmbH
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