Der Autor zeigt, warum die Horizonte der Aufklärungsepoche auch Lessings Horizonte sind, und wie der Widerspruch seiner Zeit zu Lessings Widerspruch wird.
Lessings Toleranzdenken, wie seine theologiekritischen Schriften überhaupt, aus denen es sich entwickelt, ist von früh an Gegenstand heftiger Kontroversen gewesen. Karl S. Guthke geht der Frage nach, in welchen geistigen Horizonten sich Lessings Toleranzdenken abspielt. Es sind vornehmlich drei Horizonte: ein globaler - angeregt durch die Fülle der im 18. Jahrhundert erscheinenden Reiseberichte - mit Ausweitung der Perspektive auf außereuropäische Glaubenssysteme; ein kosmischer, anschließend an die zeitgenössische Diskussion über eine mögliche Mehrheit der Welten; schließlich ein historischer oder »providentiell-geschichtlicher« - der Horizont des Fragmentenstreits, des Nathan und der Erziehung des Menschengeschlechts. Hier sind dem Toleranzbegriff die engsten Grenzen gezogen. Der Autor zeigt, warum die Horizonte der Aufklärungsepoche auch Lessings Horizonte sind, und wie der Widerspruch seiner Zeit zu Lessings Widerspruch wird.»Dieser Essay«, so Guthke, »bot mir die Gelegenheit, langgehegte Gedanken, die in der Gegenwart erneut aktuell geworden sind, mit jenem eher leichten Touch zu skizzieren, der in den angelsächsischen Ländern als sigillum veri des Seriösen gilt.«Zur Reihe:Mit den »Kleinen Schriften zur Aufklärung« legt die Lessing-Akademie im Sinne ihrer Aufgabenstellung einzelne zeitgenössische Texte und kleinere Abhandlungen zur Erforschung von Leben, Werk und Zeit Gotthold Ephraim Lessings und der Aufklärung in allen ihren Erscheinungsformen, ihrer Wirkung und Bedeutung bis in die Gegenwart vor. Die Schriften wenden sich nicht allein an wissenschaftliche Interessenten, sondern auch an einen breiteren Leserkreis und sollen dazu beitragen, die geschichtliche Entwicklung und den normativen Gehalt der Aufklärung als intellektuelle, politisch-moralische, prinzipiell auch soziale Reformbewegung besser zu verstehen und zutreffend zu würdigen. Das erscheint um so notwendiger, als die Aufklärung, die am Anfang der »modernen Welt« steht, bis heute kritischauf ihre Legitimität und ihre Auswirkungen befragt wird.Die Reihe steht für unterschiedliche Themen und Weisen der Darbietung offen und wird in lockerer Folge fortgesetzt.
Lessings Toleranzdenken, wie seine theologiekritischen Schriften überhaupt, aus denen es sich entwickelt, ist von früh an Gegenstand heftiger Kontroversen gewesen. Karl S. Guthke geht der Frage nach, in welchen geistigen Horizonten sich Lessings Toleranzdenken abspielt. Es sind vornehmlich drei Horizonte: ein globaler - angeregt durch die Fülle der im 18. Jahrhundert erscheinenden Reiseberichte - mit Ausweitung der Perspektive auf außereuropäische Glaubenssysteme; ein kosmischer, anschließend an die zeitgenössische Diskussion über eine mögliche Mehrheit der Welten; schließlich ein historischer oder »providentiell-geschichtlicher« - der Horizont des Fragmentenstreits, des Nathan und der Erziehung des Menschengeschlechts. Hier sind dem Toleranzbegriff die engsten Grenzen gezogen. Der Autor zeigt, warum die Horizonte der Aufklärungsepoche auch Lessings Horizonte sind, und wie der Widerspruch seiner Zeit zu Lessings Widerspruch wird.»Dieser Essay«, so Guthke, »bot mir die Gelegenheit, langgehegte Gedanken, die in der Gegenwart erneut aktuell geworden sind, mit jenem eher leichten Touch zu skizzieren, der in den angelsächsischen Ländern als sigillum veri des Seriösen gilt.«Zur Reihe:Mit den »Kleinen Schriften zur Aufklärung« legt die Lessing-Akademie im Sinne ihrer Aufgabenstellung einzelne zeitgenössische Texte und kleinere Abhandlungen zur Erforschung von Leben, Werk und Zeit Gotthold Ephraim Lessings und der Aufklärung in allen ihren Erscheinungsformen, ihrer Wirkung und Bedeutung bis in die Gegenwart vor. Die Schriften wenden sich nicht allein an wissenschaftliche Interessenten, sondern auch an einen breiteren Leserkreis und sollen dazu beitragen, die geschichtliche Entwicklung und den normativen Gehalt der Aufklärung als intellektuelle, politisch-moralische, prinzipiell auch soziale Reformbewegung besser zu verstehen und zutreffend zu würdigen. Das erscheint um so notwendiger, als die Aufklärung, die am Anfang der »modernen Welt« steht, bis heute kritischauf ihre Legitimität und ihre Auswirkungen befragt wird.Die Reihe steht für unterschiedliche Themen und Weisen der Darbietung offen und wird in lockerer Folge fortgesetzt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2003Seelentourismus
Über tausend, tausend Jahre: Lessings Horizonte
Gewiss, Lessing „ist keiner von den deutschen Aufklärern, bei denen man befürchtet, daß, wenn sie den Mund auftun, eine Motte herausflattert”, aber seine Bemerkungen über Toleranz scheinen doch an Kraft so sehr verloren zu haben, dass sie zur willfährigen Beute der Sonntagsredner geworden sind. Sie können, da sie auf dem Zweifel an der Allgemeinheit der eigenen Religion beruhen, denen keine Zumutung sein, die im eigenen Glauben oder Unglauben nie auf den Gedanken kämen, irgend einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben. Was kann Toleranz da mehr sein als eine Frage des Lebensstils? So beginnt Karl S. Guthkes Essay über „Lessings Horizonte” auch mit der uns angenehmen Stimmung des Aufbruchs in die weite Welt. Es geht um die Entdeckung der Fremden, um das Lesen von Reiseberichten. Völkerkunde wird zur Kunde von Menschen, die ohne eigene Schuld nichts vom Evangelium vernahmen. Dem zweiten der Reimarus-Fragmente gibt Lessing den Titel: „Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten”. Könnten nicht verschiedene Religionen an entgegengesetzten Enden der Welt, jede auf ihre Weise seelig machen?
Am Wirken der Vorsehung wie am Ziel des Selig-Werdens wird freilich kaum gezweifelt, das Modell der globalen Welt auch ins Kosmische übertragen: Die Seele könne nach dem Tode von Planet zu Planet eilen, dabei vollkommener werden: „interplanetarischer Seelentourismus mit Gott als dem Reiseberater von bewährter Fachkompetenz”. Und doch löst Lessing nicht alle Gegensätze mit Hilfe des Vervollkommnungsgedankens auf. Mag die Vorsehung universal herrschen, auch bei unseren Irrtümern die Hand im Spiel haben: Es gibt den Zufall, es gibt Götzendienst der heidnischen Völker, die in der „Erziehung des Menschengeschlechts” abseits stehen. Die modische Idealisierung der kanadischen Kannibalen, die das zarte Fleisch der Franzosen dem zähen der Engländer vorgezogen haben, war Lessing „Geschwätz”, Orthodoxie und Neologie „unreines Wasser” und „Mistjauche”. Er war „selektiv tolerant”, was das Fortschreiten hemmte, sittliches Handeln hinderte, hat er wohl schärfer attackiert als ein Goeze es je vermocht hätte. Man mag mit Guthke darin Widersprüche, nicht zu Ende sondiertes Terrain sehen oder die Gestalt einer Toleranz entdecken, der nicht gleichgültig war, was sie tolerierte.
JENS BISKY
KARL S. GUTHKE: Lessings Horizonte. Grenzen und Grenzenlosigkeit der Toleranz. Wallstein Verlag, Göttingen 2003, 71 Seiten, 16 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Über tausend, tausend Jahre: Lessings Horizonte
Gewiss, Lessing „ist keiner von den deutschen Aufklärern, bei denen man befürchtet, daß, wenn sie den Mund auftun, eine Motte herausflattert”, aber seine Bemerkungen über Toleranz scheinen doch an Kraft so sehr verloren zu haben, dass sie zur willfährigen Beute der Sonntagsredner geworden sind. Sie können, da sie auf dem Zweifel an der Allgemeinheit der eigenen Religion beruhen, denen keine Zumutung sein, die im eigenen Glauben oder Unglauben nie auf den Gedanken kämen, irgend einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben. Was kann Toleranz da mehr sein als eine Frage des Lebensstils? So beginnt Karl S. Guthkes Essay über „Lessings Horizonte” auch mit der uns angenehmen Stimmung des Aufbruchs in die weite Welt. Es geht um die Entdeckung der Fremden, um das Lesen von Reiseberichten. Völkerkunde wird zur Kunde von Menschen, die ohne eigene Schuld nichts vom Evangelium vernahmen. Dem zweiten der Reimarus-Fragmente gibt Lessing den Titel: „Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten”. Könnten nicht verschiedene Religionen an entgegengesetzten Enden der Welt, jede auf ihre Weise seelig machen?
Am Wirken der Vorsehung wie am Ziel des Selig-Werdens wird freilich kaum gezweifelt, das Modell der globalen Welt auch ins Kosmische übertragen: Die Seele könne nach dem Tode von Planet zu Planet eilen, dabei vollkommener werden: „interplanetarischer Seelentourismus mit Gott als dem Reiseberater von bewährter Fachkompetenz”. Und doch löst Lessing nicht alle Gegensätze mit Hilfe des Vervollkommnungsgedankens auf. Mag die Vorsehung universal herrschen, auch bei unseren Irrtümern die Hand im Spiel haben: Es gibt den Zufall, es gibt Götzendienst der heidnischen Völker, die in der „Erziehung des Menschengeschlechts” abseits stehen. Die modische Idealisierung der kanadischen Kannibalen, die das zarte Fleisch der Franzosen dem zähen der Engländer vorgezogen haben, war Lessing „Geschwätz”, Orthodoxie und Neologie „unreines Wasser” und „Mistjauche”. Er war „selektiv tolerant”, was das Fortschreiten hemmte, sittliches Handeln hinderte, hat er wohl schärfer attackiert als ein Goeze es je vermocht hätte. Man mag mit Guthke darin Widersprüche, nicht zu Ende sondiertes Terrain sehen oder die Gestalt einer Toleranz entdecken, der nicht gleichgültig war, was sie tolerierte.
JENS BISKY
KARL S. GUTHKE: Lessings Horizonte. Grenzen und Grenzenlosigkeit der Toleranz. Wallstein Verlag, Göttingen 2003, 71 Seiten, 16 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Karl S. Guthkes Essay über "Lessings Horizonte" hat Rezensent Jens Bisky gut gefallen. Wie Bisky berichtet, geht es um Entdeckung der Fremden, um das Lesen von Reiseberichten und um Völkerkunde, die von Menschen erzählt, die nichts vom Evangelium wussten. So lag denn auch für Lessing die Gedanke nahe, ob nicht verschiedene Religionen an entgegengesetzten Enden der Welt, jede auf ihre Weise selig machen könnten, hält Bisky fest. Zwar zweifle Lessing kaum am Wirken der Vorsehung wie am Ziel des Selig-Werdens. Dennoch löse er nicht alle Gegensätze auf. Schließlich gab es heidnischen Völker, die für Lessing in der "Erziehung des Menschengeschlechts" abseits standen. Als "selektiv tolerant" bezeichnetet ihn Bisky daher. "Man mag", schließt Bisky, "mit Guthke darin Widersprüche, nicht zu Ende sondiertes Terrain sehen oder die Gestalt einer Toleranz entdecken, der nicht gleichgültig war, was sie tolerierte."
© Perlentaucher Medien GmbH
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