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30 Jahre Brooklyn, von den 70ern bis heute, umfasst diese epische Geschichte der Freundschaft von Dylan und Mingus, ihren Familien und der gesamten Nachbarschaft. Dabei erzählt Lethem geistreich auch die Geschichte der Soulmusik, der Graffiti-Kunst, der Comics und des Experimentalfilms. Ein mitreißender Gesellschaftsroman.

Produktbeschreibung
30 Jahre Brooklyn, von den 70ern bis heute, umfasst diese epische Geschichte der Freundschaft von Dylan und Mingus, ihren Familien und der gesamten Nachbarschaft. Dabei erzählt Lethem geistreich auch die Geschichte der Soulmusik, der Graffiti-Kunst, der Comics und des Experimentalfilms. Ein mitreißender Gesellschaftsroman.
Autorenporträt
Jonathan Lethem, geb. 1964, lebt in Brooklyn, New York. Für "Motherless Brooklyn" hat er den National Book Critics Circle Award 2000 und den Gold Dagger-Literaturpreis 2000 erhalten, außerdem wurde es von der American Library Association zum besten Buch des Jahres gewählt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2004

Es war neulich in Amerika
Brooklyn, mutterlos und angsterfüllt: Jonathan Lethems neuer Roman erzählt die eigene Biographie als Popgeschichte

Wer jemals versucht hat, Baseball zwischen Häuserblocks zu spielen, der weiß, wie schwer es im Leben fallen kann, nicht anzuecken. In der Dean Street, im Brooklyn der Siebziger, war das Objekt der Begierde ein "Spaldeen", eine Art Tennisball ohne Filzhülle, der sich für alle möglichen Spiele eignete. Beim Wandball etwa schleudert man den Spaldeen gegen die Fassade eines leerstehenden Hauses, während ein Fänger den Ball auf der Straße zwischen den fahrenden Autos erhaschen muß. Bei einem Homerun flog der Spaldeen bis auf die gegenüberliegende Straßenseite. Mit zu viel Kraft aber landet er in der Regenrinne, und jemand muß zum Kiosk des alten Ramirez, um einen neuen zu kaufen.

In Jonathan Lethems neuem Roman wird das Ballspiel der Kindheit zu einem allegorischen Emblem, dem Ursprung eines amerikanischen Trauerspiels. Den Spielern in der Dean Street, vorwiegend Schwarze oder Puertoricaner, wird im Leben nichts geschenkt, und so werden manche von ihnen lernen, sich einfach zu nehmen, was sie brauchen. Henry, der als bester Werfer stets den Ton angibt, wird es später zum Staatsanwalt bringen. Sein Kumpel Alberto wird Cop. Robert, ein streitsüchtiger Schwarzer aus den Sozialbauten in der Nähe, der bei seinen ersten Versuchen gleich ein Fenster einwirft, wird einmal im Gefängnis enden. Am Flug des Balles läßt sich die Bahn des Lebens schon erahnen, die schiefe zumal. Dylan Ebdus, die Hauptfigur des Romans, ist der Junge, der zum Kiosk laufen darf, einen neuen Spaldeen zu holen - um ihn danach nicht mehr in die Finger zu bekommen. Dylan ist weiß, und das ist in dieser Umgebung die schwerste Bürde.

Seine Eltern sind typische Repräsentanten der amerikanischen counter culture der Sechziger, deren Ausläufer als Speerspitze späterer Gentrifizierung auch diesen heruntergekommenen Teil Brooklyns erreichten. Dylans Vater Abraham, der es als avantgardistischer Maler zu Insiderruhm gebracht hat, widmet seine gesamte Energie einem mysteriösen work-in-progress, einem experimentellen Zeichentrickfilm, der täglich nur um Sekunden wächst. Die Mutter Rachel, eine kettenrauchende, bücherverschlingende Hippiefrau, glaubt ihrem Sohn etwas Gutes zu tun, indem sie ihn der sozialen Realität der Straße und der öffentlichen Schule aussetzt, und muß mit zunehmender Verzweiflung feststellen, daß sie ihn damit nur zum ewigen Außenseiter verdammt.

Die ethnischen Grenzen, im aufgeklärten Milieu der Eltern längst durchlässig geworden, erweisen sich in der unerbittlichen Hierarchie des Bürgersteigs als unüberwindlich. Als die Mutter einmal die Nerven verliert und Dylans Widersacher Robert auf offener Straße verhaut, ist der whiteboy von Stunde an nur noch mehr stigmatisiert. Die Angst vor den kleinen Schikanen und Erpressungen, vor dem rituellen "Würgen" um eines Dollars willen, ist Dylans ständiger Begleiter, erst recht, nachdem Rachel die Familie sitzenläßt: Brooklyn, mutterlos und einsam. Bis eines Tages Mingus, der sportliche, schwarze Nachbarsjunge, auftaucht und Dylan als ersten in seine Mannschaft wählt.

Die Geschichte dieser schwierigen, eigentlich unmöglichen Freundschaft steht im Mittelpunkt des Buchs. "Die Festung der Einsamkeit" ist insgesamt Lethems sechster Roman (noch unübersetzt sind neben einem Erzählungsband die beiden Science-fiction-Hybriden "Amnesia Moon" und "Girl in Landscape") und schon der vierte, der innerhalb kurzer Zeit auf deutsch erschienen ist. Es ist sicherlich das persönlichste Buch des selbst im Brooklyn der siebziger Jahre aufgewachsenen Autors, ein Buch, das weitgehend ohne die spielerische Variation und die kühne Vermischung von Genremustern auskommt, die Lethem zu einem der aufregendsten jüngeren Autoren gemacht haben. Und es zeigt eine weitere Facette dieses verblüffenden erzählerischen Multitalents: die Fähigkeit, in aller Sinnlichkeit die verklungene Welt der eigenen Kindheit wiederzubeleben.

Die erste Hälfte dieses umfangreichen Romans ist eine bewegende Coming-of-Age-Geschichte, voller anschaulicher Details und zugleich überaus exakt in der Analyse der komplizierten Gruppendynamik und der soziologischen Hintergründe der eigenen Herkunft. Sie führt von den Superhelden-Comics, die Dylan und seine Freunde fanatisch sammeln, über die Anfänge der HipHop-Kultur und den Siegeszug der Sprayer bis in die Abgründe von Drogen und Gewalt. Selten wurde der Übergang von kindlichem Spiel zu tödlichem Ernst, von Omnipotenzphantasie zu brutaler Machtausübung, von pubertärer Großsprecherei zum Selbstbetrug so erschreckend nachvollziehbar. Nebenbei erzählt Lethem die Geschichte der schwarzen Popkultur der siebziger Jahre: Mingus' Vater Barrett Rude Jr. ist nämlich eine lebende Legende der Motown-Ära, mit Goldenen Schallplatten dekoriert, dem allerdings der Sprung in die Ära von Disco und Funk nicht gelungen ist - er endet als koksendes Wrack. Die Hits jener Tage, die schon von den Vorschulkindern gesungen werden, legen einen durchgängigen Soundtrack unter die Geschichte, von den R-&-B-Klassikern der frühen Siebziger bis zu den frühen Punk- und New-Wave-Stücken der High-School-Zeit. Schon die Vornamen der Freunde, Dylan und Mingus, verweisen auf Pop und Jazz. Der Plattenschrank ersetzt hier wieder einmal ein ganzes Archiv für Zeitgeschichte.

Diese Vergegenwärtigung gipfelt im Intermezzo des zweiten Romanteils, der aus einem von Dylan viel später verfaßten Booklet zu einer CD-Neuauflage der Songs von Mingus' Vater besteht. Nach seiner verkrachten Unizeit arbeitet Dylan inzwischen als freier Musikkritiker an der Westküste. Seine Spezialisierung auf alle Arten von black music ist das Erbe seiner nie verwundenen Herkunft, der nachträgliche Versuch, sich mimetisch seiner ethnischen Umgebung anzupassen und die Barriere zu seinem bewunderten schwarzen Freund und Vorbild Mingus zu überwinden. Dem Booklet, das die Biographie Barrett Rude Juniors erzählt, läßt sich entnehmen, wie die Jugend zu Ende ging: Kurz bevor Dylan auf das beschauliche Elitecollege wechselte, erschoß Mingus in Notwehr den eigenen Großvater, einen Frömmler, der dem lasterhaften Treiben im eigenen Haus ein Ende setzen wollte.

Hier, nach gut zwei Dritteln, könnte der Roman enden, vielleicht versehen mit einem Epilog, der das weitere Schicksal der Figuren andeutet: die Gefängnislaufbahn von Mingus, der nie mehr aus der Drogenspirale herauskommt, und die auf andere Weise ebenfalls scheiternde Biographie Dylans, der darunter leidet, mit dem Weggang aus Brooklyn den schwarzen Freund verraten zu haben - die tragische Ironie seines Lebens liegt darin, daß die leidvoll erworbene streetwiseness, die Härte der Straße, niemanden, nicht einmal die schwarze Freundin. interessiert. All das könnte man andeuten, subtil, versteckt; es ist im Grunde aber in der Geschichte der Kindheit schon enthalten, in der Wahl der High School, in Dylans neuen, weißen Mod- und Punkfreunden, im Bild der "Festung der Einsamkeit".

Doch setzt Lethem noch einmal neu an. Die Erzählung springt in die neunziger Jahre, als Dylan, inzwischen um die Vierzig, einen Kongreß für Comicfans als Begleitung seiner Vaters besucht, der vom verkrachten Boheme-Maler zu einer Kultfigur der Undergroundszene avanciert ist. Dylan selbst spricht bei einem Produzenten von "Dreamworks" vor, um sein Drehbuch über die tragische Geschichte einer Soulband im Knast anzupreisen. Eine eskalierende Beziehungs- und Identitätskrise bewegt ihn zu einer Reise nach Brooklyn, die nicht nur an die kaum wiederzuerkennenden, inzwischen schick und teuer gewordenen Orte seiner Kindheit führt, sondern auch zu Mingus ins Gefängnis.

Dieser Schlußteil, in dem die bislang imaginäre Suche nach der verlorenen Zeit zur realen Recherche wird, fällt qualitativ in mehrfacher Hinsicht ab. Es ist schon unklar, wieso die bis dahin virtuos gehandhabte multiperspektivische Erzählweise plötzlich der Ich-Form weicht (die doch dann nicht wirklich durchgehalten werden kann). Wie schon in der campus novel "Als sie über den Tisch kletterte", einer eher müden Wissenschaftsfarce, kippen Lethems satirische Seitenhiebe - die lächerlich fanatische Comicszene, das Bewerbungsgespräch in Hollywood - leicht ins Klischee. Viele der neu eigeführten Personen, wie die schnatternde neue Freundin des Vaters oder der jovial-gönnerhafte Kongreßveranstalter, sind reine Chargen. Der Rückhalt in Genre-Konventionen (wie die Marlow-Gestalt in "Der kurze Schlaf") verdeckt etwas, daß Lethem kein psychologischer Erzähler ist. Dort, wo er außerdem den autobiographischen Boden verläßt, wird die erzählerische Glaubwürdigkeit dünner.

Das gleiche gilt leider für die phantastischen Elemente des Romans, die im ersten Teil noch durch die kindliche Einbildungskraft (und durch den Drogenkonsum) legitimiert waren. Schon der Titel "Die Festung der Einsamkeit" zitiert mit dem Domizil Supermans die Welt der Heldencomics. Der Flugkräfte verleihende Zauberring, den Dylan von einem Penner erhält, wird zwar schon früh gelegentlich genutzt - etwa zur Herstellung eines überdimensionalen Graffito -, ist aber vor allem so etwas wie das geheime Dingsymbol der Freundschaft zwischen Dylan und Mingus. Doch plötzlich wird der Ring zum zentralen Motor der Handlung; nun wiederum macht er seinen Träger unsichtbar. Das kann man wohlwollend interpretieren, als unübersehbares Fiktionalitätssignal etwa oder auch als ein weiteres Zitat afroafrikanischer Kulturtradition (Ralph Ellisons "Invisible Man"). Das ändert nichts daran, daß es in einem durchweg realistischen Kontext als narrative Notlösung wirkt, als deus ex machina, der nach eher langweiligen Passagen noch ein dramatisches Finale sichert. Doch wem dient es, wenn der Mann von "Dreamworks" den verlangten filmreifen Schluß bekommt?

Es liegt in der Natur des Autobiographischen, daß es kein zwingendes Ende geben kann. Den Wettlauf mit der Zeit kann der rückblickende Erzähler nicht gewinnen, die Gegenwart nie einholen. Zudem ist nicht alles im Leben gleich interessant; was ist schon eine College-Orgie in Camden gegen ein zünftiges Spaldeen-Match auf New Yorker Straßen, die das geschlossene Wegenetz dieser Erinnerungsarchitektur bilden? Lethem hat ein reiches, vielfach funkelndes und mitreißend groovendes Buch geschrieben - das leider nach dem großartigen "Motherless Brooklyn" doch nur sein zweitbestes über das Viertel seiner Herkunft ist. (In einem jener augenzwinkernden Querverweise zwischen seinen Büchern, die Lethem liebt, hat das Waisenhaus St. Vincent einen Gastauftritt.) Weil Dylan immer nur auf der Straße mit dem Spaldeen spielte, schlägt er beim richtigen Baseball stets genau die mittlere Distanz, nie weiter. Der richtig große Wurf ist Lethem diesmal leider nicht gelungen.

Jonathan Lethem: "Die Festung der Einsamkeit". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Zöllner. Tropen Verlag, Köln 2004. 668 S., geb., 24,90 [Euro].

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