Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • Seitenzahl: 205
  • Deutsch
  • Abmessung: 185mm
  • Gewicht: 234g
  • ISBN-13: 9783250103578
  • ISBN-10: 3250103578
  • Artikelnr.: 24763735
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.1997

Auf Ischia vom Roman geheilt
Kein Urlaub von der Geschichte: von Salis' "Letzte Aufzeichnungen"

Der im vergangenen Jahr im Alter von 95 Jahren verstorbene Jean Rudolf von Salis hat "Letzte Aufzeichnungen" hinterlassen. Sie schließen mit einem nur wenige Wochen vor seinem Tod geschriebenen Kapitel "Rechenschaft". Der Schweizer Historiker berichtet darin von seinem Studium am Pariser "Centre de Synthèse" von Henri Berr, der ein Vorläufer der Nouvelle Histoire war. Die "Annales"-Schule, schreibt von Salis, "unterschied sich von dem toleranteren Meister durch ihre polemische und doktrinäre Haltung, die sich insbesondere gegen die traditionelle Staaten- und politisch-diplomatische Geschichtsauffassung richtete. Insbesondere bekämpfte diese Schule die ,Ereignisgeschichte'."

Doch "Politik ist das Schicksal". Von Salis zitiert das durch Goethe überlieferte Wort Napoleons am Anfang seiner "Rechenschaft". Er hat in Paris als Journalist gearbeitet, wie Raymond Aron wäre der "engagierte Beobachter" gerne Politiker geworden. Doch davor hatte ihn schon seine Mutter gewarnt. Sein Schicksal blieb die Geschichte.

Und die Literatur ein Traum. Der mit vielen Dichtern - von Rilke bis Paul Nizon - befreundete "Homme de lettres" träumte ihn noch als alter Mann. Während der zehn Tage eines Urlaubs auf Ischia entstand 1971 die Skizze zu einem Roman: "Was schreiben? Endlich detachiert vom ,Fach'. Nicht mehr Wissenschaft, sondern freie Gedankengänge." Das Projekt wird täglich vorangetrieben und enthält manchmal naive, gelegentlich verblüffende - stets kenntnisreiche Bemerkungen zur Literatur. "Wie konstruiere ich den Roman? Ein Schema, einige Daten, ein Personenverzeichnis sind unerläßlich." Er weiß, daß es ohne "Fabulieren" nicht geht. Der Historiker Herbert Lüthy hatte ihm einen Sinn für das Dramatische in der Geschichte, "ja, auch für das Dramatische im Leben der Menschen" bescheinigt: "Aber ich habe diese Dramen nie erfunden, sondern nur vorgefunden."

Der geträumte Roman ermöglicht dem alten Mann im Urlaub vom Alltag die Beschäftigung mit der Familie. Die Annäherung an das eigene Ich über die Flucht in die Fiktion erlaubt es ihm, autobiographische Details festzuhalten. Er schreibt vom Umgang der Eltern mit dem Geld, das so tabu war wie die Sexualität. Man lebte im Schloß - aber bescheiden, großbürgerlich nur an besonderen Tagen. Dann wurde das Personal aus dem Dorf engagiert. "Alles voller Widersprüche: draußen und drinnen." Es herrschte ein "stummer Consensus".

Die Pläne für die Hauptperson schwanken: "Als richtiger Dilettant ist X beeinflußbar. Weil kein praktischer Beruf sich auf den angesammelten Kenntnissen verschiedener Art aufbauen läßt, wird er Journalist. Also mündet die Geschichte in einen Journalistenroman. Mit allem, was daran interessant und schlimm ist." Vier Jahre nach diesem "Versuch eines Entwurfs" ist der erste Band von Jean Rudolf von Salis' auch stilistisch beeindruckenden Lebenserinnerungen erschienen. Den "Grenzüberschreitungen" folgten später die "Notizen eines Müßiggängers".

Das nicht folgenlos gebliebene Projekt eines Romans, dessen aufrichtige Unbeholfenheit dem Leser großen Respekt abnötigt, stellt die "Trouvaille" dieser "Letzten Aufzeichnungen" dar. Bei den weiteren Stücken handelt es sich um sehr unterschiedliche Aufsätze über Keller, Fontane, Gershom Scholem, Ricarda Huch, Thomas Mann und auch Peter Ustinov. Den Anfang macht eine bereits l995 veröffentlichte Studie "Über Europa" am Ende des Kalten Kriegs.

Dieser weitschweifende Aufsatz ist Jean Rudolf von Salis' historisches Testament und politisches Glaubensbekenntnis. "Politique d'abord!" - nach Napoleon ist Clemenceau der Kronzeuge. Churchill hatte bereits in seiner Züricher Rede von l946 die Versöhnung von Frankreich und Deutschland propagiert. Und schon in den fünfziger Jahren forderte er, "eine politische Brücke zur Sowjetunion zu bauen". Im Stile seiner "Weltchronik", einer wöchentlichen Rundfunkanalyse des Kriegsverlaufs, skizziert von Salis ein Panorama Europas vom Atlantik bis zum Ural. Nur als politische Union habe das "kleine Vorgebirge des asiatischen Kontinents" (Paul Valéry) eine Chance, sich gegen Wirtschaftsräume wie Amerika, Rußland, China, Brasilien, Indien zu behaupten; auch in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Mit Maastricht seien der "point de non-retour" erreicht und "eine Katastrophe als Möglichkeit schwer denkbar". Vereinigt kann Europa mehr erbringen als die einzelnen Nationen zusammen, "es wäre kein Zwerg mehr in der internationalen Politik".

Von Salis betreibt aus nächster zeitlicher Nähe "Ereignisgeschichte" in Reinkultur, und er tut es, als hätte es die Mode und Methoden der Nouvelle Histoire nie gegeben. Sein scharfer Blick über die Daten der Aktualität auf die großen Zusammenhänge verleiht seiner optimistischen Prognose eine langfristige Glaubwürdigkeit. Vor ihnen ist der kühne Historiker mit dem weiten Horizont nie zurückgeschreckt: Er hatte "von Henri Berr gelernt, daß Synthesen zu jeder Zeit möglich sind".

Zum Glück hat er sie den Sirenengesängen der Literatur vorgezogen. Einen Lektor brauchte der auf Ischia vom Roman geheilte Publizist nicht. Aber ein dezentes Redigieren der paar stilistischen Ungenauigkeiten hätte zumindest seinem letzten politischen Aufsatz gutgetan. JÜRG ALTWEGG

Jean Rudolf von Salis: "Letzte Aufzeichnungen". Mit einem Vorwort von Thomas von Salis und einem Nachwort von Klara Obermüller. Ammann Verlag, Zürich l996. 208 S., geb., 38,80 DM.

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