Beigbeders pfiffig mit 'Letzte Inventur vor dem Ausverkauf' betiteltes Werk ist eine Sammlung von ebenso unterhaltsamen wie knappen Aufsätzen zu den 50 wichtigsten Büchern des 20. Jahrhunderts. Basierend auf einer Leserumfrage, wurde die einzelnen Stücke für Beigbeders Literatursendung im französischen Fernsehen geschrieben, was ihren unterhaltsamen Ton erklärt: Nichts liegt Beigbeder ferner als der Kniefall vor Geistesgrößen: "Schluß mit dem Purismus", lautet sein Motto, "ich will zeigen, dass auch die Schriftsteller ein Anrecht auf ihre Top Fifty haben."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2003Ich pfeife auf das Universum
Frédéric Beigbeder kürt die fünfzig besten Bücher Frankreichs
Tafelfreuden mit Gedecken aus der internationalen Küche genießt man heute mit Selbstverständlichkeit in jedem Haushalt; die deutsche Hausmannskost, vielgescholten seit je, ist fast ausgestorben. Wem sonst gehört das Verdienst für diese lukullische Revolution als den Fernsehköchen? Frédéric Beigbeder, der französische Kritiker und Erfolgsschriftsteller, hat jetzt so etwas wie ein Kochbuch für die gehobene literarische Küche herausgebracht, das er allabendlich im Fernsehprogramm von "Paris Premier" vorstellte, und es bleibt zu hoffen, daß es für die Geschmacksbildung eine ebenso förderliche Wirkung hat wie die Empfehlungen für den Gaumen.
Beigbeder stellt fünfzig Leserezepte für die "besten Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts" vor. Freilich maßt er sich nicht an, seine eigenen Lieblingsbücher anzupreisen; vielmehr haben die Käufer bei der Buchhandelskette "FNAC" und die Leser von "Le Monde" die Auswahl getroffen. Diese beiden Institutionen hatten 1999 einen Fragebogen verteilt, auf dem die Kunden ihre Lieblingsbücher ankreuzen durften; sechstausend haben sich an dem Spiel beteiligt. Daraus entstand die literarische Weltrangliste mit den Top fifty der Franzosen; worauf der deutsche Leser seinen Geschmack abzustimmen hat, ist also, reichlich unzeitgemäß, wieder einmal französische Kost.
Internationalität nämlich kann man den Lesern, die da gewählt haben, in der Tat nicht nachsagen, zumal, wenn man davon ausgehen muß, daß bei "FNAC" viele Touristen kaufen, die den Zettel in die Hand bekamen, und daß "Le Monde" eine weltweit gelesene Zeitung ist. Knapp die Hälfte der erwählten Bücher gehören in die französische Literatur; fast den gesamten Rest nimmt die angelsächsische ein. Die Deutschen sehen sich von ihren Nachbarn wieder einmal gründlich verachtet, auch wenn sie mit Kafkas "Prozeß" immerhin einen ehrenwerten dritten Platz belegen. Sonst gelingt es nur Freud mit den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie", sich in der Mitte des Feldes zu halten - immerhin noch vor Joyce' "Ulysses" -, während außer diesen beiden nur Stefan Zweig mit "Verwirrung der Gefühle" und Thomas Mann mit dem "Zauberberg" Aufnahme in die Bestenliste gefunden haben (und ziemlich an ihrem Ende rangieren).
Beigbeder, der sich als belesener Kritiker vorstellt und vor allem das Werk Stefan Zweigs genau kennt, rückt bei der Besprechung der "Verwirrung der Gefühle" immerhin eine Anzahl anderer deutscher Autoren in den Blick, die einer Beachtung wert gewesen wären: "Zu Beginn des Jahrhunderts hatte die Habsburgermonarchie noch einiges aufzubieten: Schnitzler, Hofmannsthal, Kraus, Musil, aber auch Rilke und Kafka."
Beigbeder hätte vielleicht auch noch Brecht einfallen können, wenn überhaupt Dramenautoren für die Liste in Betracht gekommen wären. Doch gehören diese Werke auf die Bühne, werden gesehen, nicht gelesen und brauchen also nicht als Bücher zu gelten, so zumindest scheinen es sich die Veranstalter der Umfrage gedacht zu haben. Seit der Jahrhundertwende ist der Roman die bevorzugte Gattung, die Vorschläge haben sich dieser Vorliebe weitgehend anbequemt. Wie sonst hätte Apollinaires "Alcools" das einzige lyrische OEuvre sein können, das unter den ausgewählten Werken erschien - es sei denn, man wollte die Sprüche in "Asterix der Gallier", dem Buch auf dem 23. Platz, als freie Rhythmen lesen. Jedenfalls waren, so zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der dieses Werk auf der Liste erscheint, viele Kinder und Intellektuelle unter den Teilnehmern dieses Bildungs- und Verkaufstests.
Die Gegenwartsliteratur, wie sollte es anders sein, hat kaum Beachtung unter den Klassikern der Moderne gefunden. Wenig mehr als ein Dutzend der Bücher sind nach 1950, nur drei - Perecs "Das Leben - Gebrauchsanweisung", Solschenizyns "Archipel GULag" und Ecos "Der Name der Rose" - nach 1970 erschienen.
Beigbeder hat nach dieser Vorgabe allabendlich je ein Buch präsentiert "in persönlicher, unabhängiger, nicht akademischer Manier" und, wie es Showmaster eben tun, seine Empfehlungen zur Nacharbeit in einem 51. Buch zusammengefaßt, das allerdings das erste sein sollte, das der Leser zur Hand zu nehmen hätte. Zuverlässig wie ein gutes Sachbuch, weckt es mit den je anderthalb Seiten Kommentar Appetit aufs Lesen von Literatur: Den Inhalten der Werke, der Aufzählung vielversprechender Ingredienzien also, folgen die geistreichen Einfälle, Gewürze gewissermaßen, mit denen Beigbeder seine Vorschläge abschmeckt.
Er arbeitet sich so vom fünfzigsten zum ersten Platz vor und freut sich, seinen Hörern, unter denen er zu Recht viele Lesefaulenzer vermutet, an der Spitze der Lieblingsbücher ein sehr schmales Werk und noch dazu einen Erstlingsroman ans Herz legen zu dürfen: Camus' "Der Fremde". Beigbeders Erleichterung über diese zeitsparende Entscheidung der Leser entbehrt nicht gewisser Ironie, sieht er doch seine leise Verachtung ihnen gegenüber dadurch bestätigt, daß sich Prousts monströses Werk mit dem zweiten Rang begnügen muß. Beigbeder rühmt den erstplazierten "Fremden", diesen Text der "sonnigen Verzweiflung" (besser zu übersetzen als "besonnte" oder "sonnenbeschienene Verzweiflung"), seines "messerscharfen Stils" wegen, rügt aber an ihm den "freundlichen Humanismus". Solch präzise Wendungen, mit denen er in wenigen gut kombinierten Wörtern den Charakter eines Werkes zu umreißen weiß, paart Beigbeder mit der Schnoddrigkeit des jungen Mannes, der Größe nie zu hoch achtet und, wenn er sie anerkennen muß, auf sie mit der niedrigsten Sprache zielt. Dem fühllosen Helden von Camus' Romänchen, der einen Mord begeht, ohne jegliche Schuld zu empfinden, stimmt Beigbeder forsch bei: "Man kann auf das Universum pfeifen und es trotzdem annehmen, ja sogar lieben."
Diese Mischung aus Bildungsernst und jugendlicher Frechheit macht den Autor Beigbeder schier unangreifbar für alle Liebhaber der Literatur, die seriösen wie die Gelegenheitsleser. Wer es nun schon gar nicht leiden kann, Stefan Zweig als einen "sensiblen Jungen" neben seinen "Kumpel Sigmund Freud" gestellt zu sehen, wem es zu salopp klingt, wenn Prousts Erinnerung zum "flashback" modernisiert wird, der möchte sich doch die knappe Charakteristik von Fitzgeralds "Großem Gatsby" nicht entgehen lassen: "Seinen Smoking zu beflecken ist eine politische Geste." Oder die Einsicht, daß Prousts Erinnerungsarbeit nicht die Vergangenheit sucht, sondern die Wahrheit findet, und daß es Zeit gar nicht gibt, weil "wir bis zu unserem Tod jedes Alter unseres Lebens haben. Und daß es nur an uns liegt, uns die Minute auszusuchen, die uns am besten gefällt". Die Klientel von "FNAC" und "Le Monde" jedenfalls hat schon bekundet, wie sie solche Glücksmomente gestalten wird: eben mit ihrem Lieblingsbuch, das sie aus der Zeit herausführen wird.
HANNELORE SCHLAFFER
Frédéric Beigbeder: "Letzte Inventur vor dem Ausverkauf". Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts. Aus dem Französischen übersetzt von Juliane Gräbner-Müller. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 175 S., geb., 16,90 [Euro].
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Frédéric Beigbeder kürt die fünfzig besten Bücher Frankreichs
Tafelfreuden mit Gedecken aus der internationalen Küche genießt man heute mit Selbstverständlichkeit in jedem Haushalt; die deutsche Hausmannskost, vielgescholten seit je, ist fast ausgestorben. Wem sonst gehört das Verdienst für diese lukullische Revolution als den Fernsehköchen? Frédéric Beigbeder, der französische Kritiker und Erfolgsschriftsteller, hat jetzt so etwas wie ein Kochbuch für die gehobene literarische Küche herausgebracht, das er allabendlich im Fernsehprogramm von "Paris Premier" vorstellte, und es bleibt zu hoffen, daß es für die Geschmacksbildung eine ebenso förderliche Wirkung hat wie die Empfehlungen für den Gaumen.
Beigbeder stellt fünfzig Leserezepte für die "besten Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts" vor. Freilich maßt er sich nicht an, seine eigenen Lieblingsbücher anzupreisen; vielmehr haben die Käufer bei der Buchhandelskette "FNAC" und die Leser von "Le Monde" die Auswahl getroffen. Diese beiden Institutionen hatten 1999 einen Fragebogen verteilt, auf dem die Kunden ihre Lieblingsbücher ankreuzen durften; sechstausend haben sich an dem Spiel beteiligt. Daraus entstand die literarische Weltrangliste mit den Top fifty der Franzosen; worauf der deutsche Leser seinen Geschmack abzustimmen hat, ist also, reichlich unzeitgemäß, wieder einmal französische Kost.
Internationalität nämlich kann man den Lesern, die da gewählt haben, in der Tat nicht nachsagen, zumal, wenn man davon ausgehen muß, daß bei "FNAC" viele Touristen kaufen, die den Zettel in die Hand bekamen, und daß "Le Monde" eine weltweit gelesene Zeitung ist. Knapp die Hälfte der erwählten Bücher gehören in die französische Literatur; fast den gesamten Rest nimmt die angelsächsische ein. Die Deutschen sehen sich von ihren Nachbarn wieder einmal gründlich verachtet, auch wenn sie mit Kafkas "Prozeß" immerhin einen ehrenwerten dritten Platz belegen. Sonst gelingt es nur Freud mit den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie", sich in der Mitte des Feldes zu halten - immerhin noch vor Joyce' "Ulysses" -, während außer diesen beiden nur Stefan Zweig mit "Verwirrung der Gefühle" und Thomas Mann mit dem "Zauberberg" Aufnahme in die Bestenliste gefunden haben (und ziemlich an ihrem Ende rangieren).
Beigbeder, der sich als belesener Kritiker vorstellt und vor allem das Werk Stefan Zweigs genau kennt, rückt bei der Besprechung der "Verwirrung der Gefühle" immerhin eine Anzahl anderer deutscher Autoren in den Blick, die einer Beachtung wert gewesen wären: "Zu Beginn des Jahrhunderts hatte die Habsburgermonarchie noch einiges aufzubieten: Schnitzler, Hofmannsthal, Kraus, Musil, aber auch Rilke und Kafka."
Beigbeder hätte vielleicht auch noch Brecht einfallen können, wenn überhaupt Dramenautoren für die Liste in Betracht gekommen wären. Doch gehören diese Werke auf die Bühne, werden gesehen, nicht gelesen und brauchen also nicht als Bücher zu gelten, so zumindest scheinen es sich die Veranstalter der Umfrage gedacht zu haben. Seit der Jahrhundertwende ist der Roman die bevorzugte Gattung, die Vorschläge haben sich dieser Vorliebe weitgehend anbequemt. Wie sonst hätte Apollinaires "Alcools" das einzige lyrische OEuvre sein können, das unter den ausgewählten Werken erschien - es sei denn, man wollte die Sprüche in "Asterix der Gallier", dem Buch auf dem 23. Platz, als freie Rhythmen lesen. Jedenfalls waren, so zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der dieses Werk auf der Liste erscheint, viele Kinder und Intellektuelle unter den Teilnehmern dieses Bildungs- und Verkaufstests.
Die Gegenwartsliteratur, wie sollte es anders sein, hat kaum Beachtung unter den Klassikern der Moderne gefunden. Wenig mehr als ein Dutzend der Bücher sind nach 1950, nur drei - Perecs "Das Leben - Gebrauchsanweisung", Solschenizyns "Archipel GULag" und Ecos "Der Name der Rose" - nach 1970 erschienen.
Beigbeder hat nach dieser Vorgabe allabendlich je ein Buch präsentiert "in persönlicher, unabhängiger, nicht akademischer Manier" und, wie es Showmaster eben tun, seine Empfehlungen zur Nacharbeit in einem 51. Buch zusammengefaßt, das allerdings das erste sein sollte, das der Leser zur Hand zu nehmen hätte. Zuverlässig wie ein gutes Sachbuch, weckt es mit den je anderthalb Seiten Kommentar Appetit aufs Lesen von Literatur: Den Inhalten der Werke, der Aufzählung vielversprechender Ingredienzien also, folgen die geistreichen Einfälle, Gewürze gewissermaßen, mit denen Beigbeder seine Vorschläge abschmeckt.
Er arbeitet sich so vom fünfzigsten zum ersten Platz vor und freut sich, seinen Hörern, unter denen er zu Recht viele Lesefaulenzer vermutet, an der Spitze der Lieblingsbücher ein sehr schmales Werk und noch dazu einen Erstlingsroman ans Herz legen zu dürfen: Camus' "Der Fremde". Beigbeders Erleichterung über diese zeitsparende Entscheidung der Leser entbehrt nicht gewisser Ironie, sieht er doch seine leise Verachtung ihnen gegenüber dadurch bestätigt, daß sich Prousts monströses Werk mit dem zweiten Rang begnügen muß. Beigbeder rühmt den erstplazierten "Fremden", diesen Text der "sonnigen Verzweiflung" (besser zu übersetzen als "besonnte" oder "sonnenbeschienene Verzweiflung"), seines "messerscharfen Stils" wegen, rügt aber an ihm den "freundlichen Humanismus". Solch präzise Wendungen, mit denen er in wenigen gut kombinierten Wörtern den Charakter eines Werkes zu umreißen weiß, paart Beigbeder mit der Schnoddrigkeit des jungen Mannes, der Größe nie zu hoch achtet und, wenn er sie anerkennen muß, auf sie mit der niedrigsten Sprache zielt. Dem fühllosen Helden von Camus' Romänchen, der einen Mord begeht, ohne jegliche Schuld zu empfinden, stimmt Beigbeder forsch bei: "Man kann auf das Universum pfeifen und es trotzdem annehmen, ja sogar lieben."
Diese Mischung aus Bildungsernst und jugendlicher Frechheit macht den Autor Beigbeder schier unangreifbar für alle Liebhaber der Literatur, die seriösen wie die Gelegenheitsleser. Wer es nun schon gar nicht leiden kann, Stefan Zweig als einen "sensiblen Jungen" neben seinen "Kumpel Sigmund Freud" gestellt zu sehen, wem es zu salopp klingt, wenn Prousts Erinnerung zum "flashback" modernisiert wird, der möchte sich doch die knappe Charakteristik von Fitzgeralds "Großem Gatsby" nicht entgehen lassen: "Seinen Smoking zu beflecken ist eine politische Geste." Oder die Einsicht, daß Prousts Erinnerungsarbeit nicht die Vergangenheit sucht, sondern die Wahrheit findet, und daß es Zeit gar nicht gibt, weil "wir bis zu unserem Tod jedes Alter unseres Lebens haben. Und daß es nur an uns liegt, uns die Minute auszusuchen, die uns am besten gefällt". Die Klientel von "FNAC" und "Le Monde" jedenfalls hat schon bekundet, wie sie solche Glücksmomente gestalten wird: eben mit ihrem Lieblingsbuch, das sie aus der Zeit herausführen wird.
HANNELORE SCHLAFFER
Frédéric Beigbeder: "Letzte Inventur vor dem Ausverkauf". Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts. Aus dem Französischen übersetzt von Juliane Gräbner-Müller. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 175 S., geb., 16,90 [Euro].
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Man liest die 50 kurzen Texte leicht und lächelnd. Stuttgarter Nachrichten