Walter Serner: Letzte Lockerung manifest dada
Entstanden 1918. Erstdruck 1920 Hannover, Paul Steegemann. Anton van Hoboken gewidmet.
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth.
Berlin 2016.
Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage unter Verwendung des Bildes: Sophie Taeuber-Arp, Gouache sur papier, 1918.
Gesetzt aus der Minion Pro, 11 pt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Entstanden 1918. Erstdruck 1920 Hannover, Paul Steegemann. Anton van Hoboken gewidmet.
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth.
Berlin 2016.
Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage unter Verwendung des Bildes: Sophie Taeuber-Arp, Gouache sur papier, 1918.
Gesetzt aus der Minion Pro, 11 pt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2021Rüstzeug für
die Zwanziger
„Letzte Lockerung“ von Walter Serner passt
verblüffend in die Gegenwart: eine Re-Lektüre
VON PETER RICHTER
Um einen Feuerball rast eine Kotkugel, auf der Damenseidenstrümpfe verkauft und Gauguins besprochen werden“: Das ist doch wohl bitte immer noch, 100 Jahre später, ein frischer erster Satz – selbst wenn im Moment eher ganztägig Schlafanzughosen getragen werden als Seidenstrümpfe und auch wenn gerade nicht sicher ist, ab wann wieder Gauguins besprochen werden können. (Die nächste Gelegenheit dazu wäre im Juni zwar eine Sonderschau, die die Nationalgalerie in Berlin plant; aber wer kann heute schon noch irgendwas planen.)
Jedenfalls: Wenn dermaßen oft von „Lockerungen“ die Rede ist wie jetzt – und zwar meist in der Formulierung, dass es leider noch nicht an der Zeit sei für „erste Lockerungen“ –, dann sucht man aus Prinzip und Trotz im Regal nach „Letzte Lockerung“, dem kleinen Buch von Walter Serner. Und wenn man es, weil es wirklich ein sehr kleines Buch ist, erst einmal nicht findet, daher schnell nachbestellen will, ist die Überraschung bös: Die hübsche Ausgabe in Manesses „Bibliothek der Weltliteratur“ ist auch schon wieder 14 Jahre alt und nicht mehr zu bekommen. Der Verlag wäre aber gut beraten, nachzudrucken.
Weniges lohnt zur Zeit so die Re-Lektüre, weniges passt so verblüffend gut in die Zeit, und das nicht nur, weil der Titel klingt wie die Schlagzeile, auf die eine coronamüde Welt wartet. Auch die Aphorismen darin lesen sich, als hätte Serner in Wahrheit junge Männer von heute vor Augen, wenn er etwa befindet, „die Mode der schwarzen Hornbrillen, welche der Funktion obliegen, Geist anzuschminken, steht durchaus neben jenen Vollbärten, die aus dreißigjährigen Halunken fünfzigjährige Respektspersonen machen.“ Seine Empfehlung: „Verzichte auf solche Kindereien.“
Bei Serner findet sich sogar nützlicher Rat für Leute, die der Dauerlockdown zum Ausrasten bringt: „Befällt dich die große Wut, unternimm sofort etwas. Wenn du nichts anderes in Griffnähe hast, erkläre einem sechsjährigen Mädchen die Kraft des Mondlichts.“
Umso wichtiger wäre bei einer Neuauflage auch wieder das kluge Nachwort von Georg M. Oswald, schon um immer im Auge zu behalten, dass dieser oft heiter klingende Text in Wahrheit eine bittere Anklageschrift ist und durch die Biografie des Autors zusätzlich politisches Gewicht erhält.
Denn Serner war 1899 unter dem Namen Walter Seligmann zur Welt gekommen, im böhmischen Karlsbad, wo sein Vater erst „Seligmanns israelitische Restauration am Marktplatz“ betrieb und später eine Zeitung herausgab. Der Sohn konvertiert zum Katholizismus, nimmt den Namen Serner an, studiert Jura, wird sogar promoviert, wohl mit einem Plagiat, wie ein Jurist vor ein paar Jahren herausgefunden hat, interessiert sich aber ohnehin eher fürs Schreiben. Der Vater, ein Patriarch mit aufwendig frisiertem Jahrhundertwendebart, zürnt diesen expressionistischen Versuchen. All das lässt bis hierhin an Kafka denken oder auch an Werfel. Serner reagiert aber radikaler als diese beiden: Er entflieht der bürgerlichen Existenz und zugleich dem Ersten Weltkrieg.
Während viele seiner Expressionistenkollegen, oft emotional aufgewühlte Bürgersöhne wie er selbst, sich zunächst noch mit Emphase an die Front werfen, geht Serner in die Schweiz, lernt in Zürich die Dadaisten kennen und schreibt in Lugano selber ein dadaistisches Pamphlet – den ersten Teil der „Letzten Lockerung“. Die Soirée, bei der er es 1919 vorträgt, endet im Tumult; Tristan Tzaras wenig später auf Französisch erschienenes „Manifest dada“ wird verdächtig ähnlich klingen – und viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Serner versucht sich daraufhin an Krimis, schließlich wird in Berlin ein Theaterstück aufgeführt, allerdings nur einmal, und umgehend verrissen. Danach bringt Serner nur noch eine einzige Sache heraus, den zweiten Teil der „Letzten Lockerung“.
Der erste Teil war noch ganz wütende Abrechnung mit den sich im Grabenkrieg selbst desavouierenden „Kultur“-Nationen: „Wie ekelerregend wird von hier aus die knüllige Ambition der Geistportiers, gute Europäer zu sein“, schimpfte Serner am Luganer See: „Globe-Trottel! Globe-Trottel!“ Ein Hund sei keine Hängematte, schreibt er zornig, und dass den Malern ohne diese wichtige Mitteilung „die Schmierfaust herunterfiele.“ Es ist ein Trommelfeuer aus Satzfetzen, das den fernen Krieg in aggressiv pazifistische Literatur übersetzen will. 1927 klingt er dagegen dann so neusachlich und abgeklärt wie Erich Kästners Fabian, nur im Smoking. „Lobe oft. Bewundere selten. Tadele nie“, gibt er jetzt mit auf den Weg, und: „Dein größter Vorteil? Nicht zu sein, was zu scheinst; ja nicht einmal scheinen zu wollen, was du nicht bist.“ Die Stimme dieses Ratgebers wandelt deutlich auf den Pfaden von Georges Manolescu, dem rumänischen Super-Hochstapler, der schon Thomas Mann zu seinem Felix Krull inspiriert hatte und dessen Memoiren gerade ebenfalls bei Menasse auf Deutsch erschienen sind.
Viele von Serners Direktiven betreffen erschlichenes Luxusleben im Grandhotel, lassen sich aber heute auch auf hellhörige Mietwohnungen übertragen: „Wöchentlich einmal beschimpfe in deinem Zimmer bei verschlossener Tür einen Herrn, der nicht bei dir ist, so heftig, daß man es im Korridor hören muß. Mehr noch als dies wird es imponieren, daß niemand den Bedauernswerten weggehen sah.“
Serners Verleger vermarktete das Werk mit dem Untertitel: „Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen“. Er verkaufte auch gleich den Autor als dandyesken Berufskriminellen. Als sich der Publizist Theodor Lessing nach Serner erkundigte, wurde ihm dieser als „internationaler Hochstapler im allergrößten Stil“ und gelernter Zuhälter beschrieben; gegenwärtig reise er als Betreiber mehrerer argentinischer Bordelle durch den Orient. Das war ganz einem Inhalt angepasst, in dem es unter anderem heißt: „Interessante Menschen (sozusagen) sind immer ein wenig brutal.“
Die Nazipresse griff Lessings Lob für den „schriftstellernden Mädchenhändler“ dankbar auf. Lessing wurde bekanntlich gleich 1933 von nationalsozialistischen Attentätern erschossen. Serner ging nach Prag, versuchte mit seiner Frau vergeblich nach China zu emigrieren, wurde im August 1942 deportiert und wenig später bei Riga ermordet. Zum Schweigen gebracht, bemerkt Oswald, wurde Serner allerdings schon in den Zwanzigern durch eine Atmosphäre des geifernden Hasses auf andere Gesinnungen. „Woher dieser Hass? Das Handbrevier predigt weder Revolution noch Mord und Totschlag. Es stiftet nicht zu Straftaten an, noch kommt es ihm sonderlich darauf an, welche gutzuheißen. Täuschung und Betrug sind nur Mittel zu dem immer gleichen Zweck, nicht mitmachen zu müssen.“
Nicht mitmachen zu wollen, gilt allerdings zu vielen Zeiten als ein besonders unverzeihliches Vergehen, vor allem da, wo mit bebender Unterlippe „Haltung“ und „Engagement“ befohlen werden. Dass Serner zur Zeit von Punk und New Wave wiederentdeckt wurde, ist kein Wunder.
Dass es von seiner „Lockerung“ derzeit keine vernünftige Ausgabe zu kaufen gibt, ist leider ebenfalls keins. Denn einerseits lautet zwar die Lehre, niemals irgendetwas mit irgendetwas anderem zu vergleichen, andererseits wird das halt trotzdem dauernd gemacht. Also: Corona ist nicht die Spanische Grippe, der vor 100 Jahren so viele Millionen zum Opfer fielen. Und die feierlichen jungen Menschen, die mit heiliger Überzeugung ihre Granaten aus dem Graben warfen, taten das damals in Flandern und Frankreich und nicht auf Twitter.
Und jetzt das große Aber, auf das Florian Illies neulich in der NZZ sehr zu Recht hingewiesen hat, wo er über die sonderbare Sehnsucht schrieb, mit der viele sich jetzt „unsere Zwanzigerjahre“ nach überstandener Pandemie als genauso rauschende Schampus-Sause herbeiimaginieren wie die „Berlin Babylon“-Version der letzten. Dabei wären, wenn überhaupt, die Analogien zu Inflation, Pleiten und Arbeitslosigkeit erst einmal naheliegender, von den politischen Extremismen und der latenten Bürgerkriegsstimmung zu schweigen.
Vielleicht wird man gerade dann Serners Handbrevier wieder brauchen für Rat oder zumindest Trost: „Habe eine Geheimtasche. Lerne hypnotisieren. Schließe manchmal plötzlich die Augen.“ Vielleicht wird es aber auch schon bald wieder verpönt sein, das Buch nur zu besitzen, denn Serners gelegentlicher Herrenzimmerton – „Wohne mit deiner Geliebten nicht zusammen. Allenfalls in demselben Haus.“ Oder: „Schimpfe auf den Hut einer Frau nur dann, wenn du genau weißt, wer sie ihr zu kaufen pflegt“ – dürfte für manche ein weltanschauliches Problem darstellen.
Andererseits steht bei Serner schon auf den ersten Seiten: „Weltanschauungen sind Vokabelmischungen.“ Und: „Ein Hund ist eine Hängematte.“
Wie ekelerregend ist
die knüllige Ambition
der Geistportiers
Kein Wunder, dass der
Autor von Punk und New Wave
wiederentdeckt wurde
„Lobe oft. Bewundere selten. Tadele nie.“: Walter Serner (1889 – 1942).
Foto: mauritius
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die Zwanziger
„Letzte Lockerung“ von Walter Serner passt
verblüffend in die Gegenwart: eine Re-Lektüre
VON PETER RICHTER
Um einen Feuerball rast eine Kotkugel, auf der Damenseidenstrümpfe verkauft und Gauguins besprochen werden“: Das ist doch wohl bitte immer noch, 100 Jahre später, ein frischer erster Satz – selbst wenn im Moment eher ganztägig Schlafanzughosen getragen werden als Seidenstrümpfe und auch wenn gerade nicht sicher ist, ab wann wieder Gauguins besprochen werden können. (Die nächste Gelegenheit dazu wäre im Juni zwar eine Sonderschau, die die Nationalgalerie in Berlin plant; aber wer kann heute schon noch irgendwas planen.)
Jedenfalls: Wenn dermaßen oft von „Lockerungen“ die Rede ist wie jetzt – und zwar meist in der Formulierung, dass es leider noch nicht an der Zeit sei für „erste Lockerungen“ –, dann sucht man aus Prinzip und Trotz im Regal nach „Letzte Lockerung“, dem kleinen Buch von Walter Serner. Und wenn man es, weil es wirklich ein sehr kleines Buch ist, erst einmal nicht findet, daher schnell nachbestellen will, ist die Überraschung bös: Die hübsche Ausgabe in Manesses „Bibliothek der Weltliteratur“ ist auch schon wieder 14 Jahre alt und nicht mehr zu bekommen. Der Verlag wäre aber gut beraten, nachzudrucken.
Weniges lohnt zur Zeit so die Re-Lektüre, weniges passt so verblüffend gut in die Zeit, und das nicht nur, weil der Titel klingt wie die Schlagzeile, auf die eine coronamüde Welt wartet. Auch die Aphorismen darin lesen sich, als hätte Serner in Wahrheit junge Männer von heute vor Augen, wenn er etwa befindet, „die Mode der schwarzen Hornbrillen, welche der Funktion obliegen, Geist anzuschminken, steht durchaus neben jenen Vollbärten, die aus dreißigjährigen Halunken fünfzigjährige Respektspersonen machen.“ Seine Empfehlung: „Verzichte auf solche Kindereien.“
Bei Serner findet sich sogar nützlicher Rat für Leute, die der Dauerlockdown zum Ausrasten bringt: „Befällt dich die große Wut, unternimm sofort etwas. Wenn du nichts anderes in Griffnähe hast, erkläre einem sechsjährigen Mädchen die Kraft des Mondlichts.“
Umso wichtiger wäre bei einer Neuauflage auch wieder das kluge Nachwort von Georg M. Oswald, schon um immer im Auge zu behalten, dass dieser oft heiter klingende Text in Wahrheit eine bittere Anklageschrift ist und durch die Biografie des Autors zusätzlich politisches Gewicht erhält.
Denn Serner war 1899 unter dem Namen Walter Seligmann zur Welt gekommen, im böhmischen Karlsbad, wo sein Vater erst „Seligmanns israelitische Restauration am Marktplatz“ betrieb und später eine Zeitung herausgab. Der Sohn konvertiert zum Katholizismus, nimmt den Namen Serner an, studiert Jura, wird sogar promoviert, wohl mit einem Plagiat, wie ein Jurist vor ein paar Jahren herausgefunden hat, interessiert sich aber ohnehin eher fürs Schreiben. Der Vater, ein Patriarch mit aufwendig frisiertem Jahrhundertwendebart, zürnt diesen expressionistischen Versuchen. All das lässt bis hierhin an Kafka denken oder auch an Werfel. Serner reagiert aber radikaler als diese beiden: Er entflieht der bürgerlichen Existenz und zugleich dem Ersten Weltkrieg.
Während viele seiner Expressionistenkollegen, oft emotional aufgewühlte Bürgersöhne wie er selbst, sich zunächst noch mit Emphase an die Front werfen, geht Serner in die Schweiz, lernt in Zürich die Dadaisten kennen und schreibt in Lugano selber ein dadaistisches Pamphlet – den ersten Teil der „Letzten Lockerung“. Die Soirée, bei der er es 1919 vorträgt, endet im Tumult; Tristan Tzaras wenig später auf Französisch erschienenes „Manifest dada“ wird verdächtig ähnlich klingen – und viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Serner versucht sich daraufhin an Krimis, schließlich wird in Berlin ein Theaterstück aufgeführt, allerdings nur einmal, und umgehend verrissen. Danach bringt Serner nur noch eine einzige Sache heraus, den zweiten Teil der „Letzten Lockerung“.
Der erste Teil war noch ganz wütende Abrechnung mit den sich im Grabenkrieg selbst desavouierenden „Kultur“-Nationen: „Wie ekelerregend wird von hier aus die knüllige Ambition der Geistportiers, gute Europäer zu sein“, schimpfte Serner am Luganer See: „Globe-Trottel! Globe-Trottel!“ Ein Hund sei keine Hängematte, schreibt er zornig, und dass den Malern ohne diese wichtige Mitteilung „die Schmierfaust herunterfiele.“ Es ist ein Trommelfeuer aus Satzfetzen, das den fernen Krieg in aggressiv pazifistische Literatur übersetzen will. 1927 klingt er dagegen dann so neusachlich und abgeklärt wie Erich Kästners Fabian, nur im Smoking. „Lobe oft. Bewundere selten. Tadele nie“, gibt er jetzt mit auf den Weg, und: „Dein größter Vorteil? Nicht zu sein, was zu scheinst; ja nicht einmal scheinen zu wollen, was du nicht bist.“ Die Stimme dieses Ratgebers wandelt deutlich auf den Pfaden von Georges Manolescu, dem rumänischen Super-Hochstapler, der schon Thomas Mann zu seinem Felix Krull inspiriert hatte und dessen Memoiren gerade ebenfalls bei Menasse auf Deutsch erschienen sind.
Viele von Serners Direktiven betreffen erschlichenes Luxusleben im Grandhotel, lassen sich aber heute auch auf hellhörige Mietwohnungen übertragen: „Wöchentlich einmal beschimpfe in deinem Zimmer bei verschlossener Tür einen Herrn, der nicht bei dir ist, so heftig, daß man es im Korridor hören muß. Mehr noch als dies wird es imponieren, daß niemand den Bedauernswerten weggehen sah.“
Serners Verleger vermarktete das Werk mit dem Untertitel: „Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen“. Er verkaufte auch gleich den Autor als dandyesken Berufskriminellen. Als sich der Publizist Theodor Lessing nach Serner erkundigte, wurde ihm dieser als „internationaler Hochstapler im allergrößten Stil“ und gelernter Zuhälter beschrieben; gegenwärtig reise er als Betreiber mehrerer argentinischer Bordelle durch den Orient. Das war ganz einem Inhalt angepasst, in dem es unter anderem heißt: „Interessante Menschen (sozusagen) sind immer ein wenig brutal.“
Die Nazipresse griff Lessings Lob für den „schriftstellernden Mädchenhändler“ dankbar auf. Lessing wurde bekanntlich gleich 1933 von nationalsozialistischen Attentätern erschossen. Serner ging nach Prag, versuchte mit seiner Frau vergeblich nach China zu emigrieren, wurde im August 1942 deportiert und wenig später bei Riga ermordet. Zum Schweigen gebracht, bemerkt Oswald, wurde Serner allerdings schon in den Zwanzigern durch eine Atmosphäre des geifernden Hasses auf andere Gesinnungen. „Woher dieser Hass? Das Handbrevier predigt weder Revolution noch Mord und Totschlag. Es stiftet nicht zu Straftaten an, noch kommt es ihm sonderlich darauf an, welche gutzuheißen. Täuschung und Betrug sind nur Mittel zu dem immer gleichen Zweck, nicht mitmachen zu müssen.“
Nicht mitmachen zu wollen, gilt allerdings zu vielen Zeiten als ein besonders unverzeihliches Vergehen, vor allem da, wo mit bebender Unterlippe „Haltung“ und „Engagement“ befohlen werden. Dass Serner zur Zeit von Punk und New Wave wiederentdeckt wurde, ist kein Wunder.
Dass es von seiner „Lockerung“ derzeit keine vernünftige Ausgabe zu kaufen gibt, ist leider ebenfalls keins. Denn einerseits lautet zwar die Lehre, niemals irgendetwas mit irgendetwas anderem zu vergleichen, andererseits wird das halt trotzdem dauernd gemacht. Also: Corona ist nicht die Spanische Grippe, der vor 100 Jahren so viele Millionen zum Opfer fielen. Und die feierlichen jungen Menschen, die mit heiliger Überzeugung ihre Granaten aus dem Graben warfen, taten das damals in Flandern und Frankreich und nicht auf Twitter.
Und jetzt das große Aber, auf das Florian Illies neulich in der NZZ sehr zu Recht hingewiesen hat, wo er über die sonderbare Sehnsucht schrieb, mit der viele sich jetzt „unsere Zwanzigerjahre“ nach überstandener Pandemie als genauso rauschende Schampus-Sause herbeiimaginieren wie die „Berlin Babylon“-Version der letzten. Dabei wären, wenn überhaupt, die Analogien zu Inflation, Pleiten und Arbeitslosigkeit erst einmal naheliegender, von den politischen Extremismen und der latenten Bürgerkriegsstimmung zu schweigen.
Vielleicht wird man gerade dann Serners Handbrevier wieder brauchen für Rat oder zumindest Trost: „Habe eine Geheimtasche. Lerne hypnotisieren. Schließe manchmal plötzlich die Augen.“ Vielleicht wird es aber auch schon bald wieder verpönt sein, das Buch nur zu besitzen, denn Serners gelegentlicher Herrenzimmerton – „Wohne mit deiner Geliebten nicht zusammen. Allenfalls in demselben Haus.“ Oder: „Schimpfe auf den Hut einer Frau nur dann, wenn du genau weißt, wer sie ihr zu kaufen pflegt“ – dürfte für manche ein weltanschauliches Problem darstellen.
Andererseits steht bei Serner schon auf den ersten Seiten: „Weltanschauungen sind Vokabelmischungen.“ Und: „Ein Hund ist eine Hängematte.“
Wie ekelerregend ist
die knüllige Ambition
der Geistportiers
Kein Wunder, dass der
Autor von Punk und New Wave
wiederentdeckt wurde
„Lobe oft. Bewundere selten. Tadele nie.“: Walter Serner (1889 – 1942).
Foto: mauritius
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