Ein klassisches Alterswerk: Neue Kurzgeschichten von James Salter
Stärke ist stets eine Täuschung. Der Starke selbst weiß das am besten. In welcher Form sie auch nach außen auftreten mag - als formvollendete Selbstbeherrschung, als Bescheidenheit oder Arroganz oder als coolness, deren zeitgemäße Melange - am Ende verbirgt sich dahinter doch immer eine Verletzlichkeit. Vielleicht erklärt die Suche nach dieser Achillesferse unsere anhaltende Faszination durch Stars. "Ich verehre keine Götter, aber ich bin froh zu wissen, daß es sie gibt. Schwäche, so menschlich sie auch sein mag, interessiert mich weniger" - für einen Schriftsteller sind diese ehrlichen Sätze James Salters aus dem Vorwort zu seinen Erinnerungen heftiger Tobak, ist doch die Literatur eigentlich das Medium, das die Bausubstanz hinter der Verblendung erkundet, die Sollbruchstellen in der Persönlichkeitsfassade.
Dem 1925, heute vor achtzig Jahren, in New York geborenen Autor war das Schreiben nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Auf Wunsch seines Vaters, eines jüdischen Geschäftsmanns, ging er zum Militär, durchlief die berüchtigte Hochschule West Point und machte nach 1945 als Jagdflieger Karriere, diente im Korea-Krieg, bis er nach Erscheinen seines ersten Buchs, des Fliegerromans "The Hunters"(1956), seinen Abschied nahm und hauptberuflich Schriftsteller wurde. Die Welt seiner frühen Romane scheint der Selbstaussage zu entsprechen - es ist eine Männerwelt, in der Schwäche nicht nur geächtet, sondern geradezu tödlich ist; ihr zentrales Thema bis hin zum Bergsteigerroman "Solo Faces" von 1979 (dt. "In der Wand", 1999) ist die Spannung zwischen unbändigem Ehrgeiz und moralischer Integrität.
Salter ist beileibe kein Vielschreiber; sein Werk ist relativ schmal, was man hierzulande durch die verzögerte Rezeption leicht übersehen könnte. Bekannt wurde er in Deutschland erst durch die um über zwanzig Jahre verspätete Übersetzung seines Eheromans "Light Years" (dt. Lichtjahre, 1998), dem danach fast im Jahresrhythmus im Berlin Verlag die übrigen Bücher folgten. Ein neuer Band mit Kurzgeschichten, erst sein zweiter nach "Dusk" von 1976 (Dämmerung, 1999), ist schon deswegen ein Ereignis, weil wirklich neue fiction von Salter auf deutsch lange nicht mehr zu lesen war - von der Dichtung und Wahrheit seiner eindrücklichen Autobiographie "Brennende Tage" einmal abgesehen.
"Letzte Nacht" versammelt zehn Geschichten in bester amerikanischer Short-story-Tradition, ein klassisches Alterswerk, das viele Motive aus früheren Büchern aufnimmt und variiert. Wie ihr Autor ziehen auch die Figuren Bilanz. Immer wieder stellt Salter die Frage, was ein gelungenes Dasein ausmacht - ob ein einziger Augenblick absoluter Erfüllung (sprich: eine Affäre) eine andauernde Zufriedenheit (sprich: eine Ehe) aufwiegen kann und umgekehrt oder ob nicht das einzige Glück in der Erinnerung selbst liegt.
In "Palm Court" hat Arthur, ein erfolgreicher Börsenmakler, plötzlich Noreen, die große, die einzige Liebe seines Lebens, am Telefon, die ihn vor Jahren verließ, um einen anderen zu heiraten. Damals hatte Arthur, die vermeintlich unendlichen Möglichkeiten seines Lebens vor Augen, sich nicht zur festen Bindung entschließen können; heute erkennt er, daß das damals Versäumte nicht mehr nachzuholen ist. Für die gealterte Frau, die gerade ihrer unglücklichen Ehe entkam, kann er die Gefühle von einst nicht mehr aufbringen - als sie sich doch treffen, gibt Arthur vor, sich gerade verlobt zu haben. Der tief vom Existentialismus der fünfziger Jahre geprägte Salter beschreibt, darin Max Frisch vergleichbar, immer wieder jenen Scheitelpunkt, in dem die scheinbare Leichtigkeit eines Lebens voller Optionen umschlägt - und sich eine beiläufige Entscheidung als schwerwiegende Weichenstellung entpuppt.
Salters Antworten sind freilich nie definitiv. In "Die Augen der Stars" blickt eine Filmproduzentin - der Glamour Hollywoods hat Salter stets angezogen - auf ihre Karriere zurück: "Sie hatte nie wirklich einen Film produziert, aber sie hatte Dinge vorgeschlagen und sie bis zu ihrer Verwirklichung oder ihrem Scheitern begleitet, manchmal zu beidem." Was als Versäumnis gilt, ist eine Frage der Perspektive. In "Bangkok" trifft ein Familienvater seine Liebhaberin aus wilden Tagen, die ihn zu einer erotischen Eskapade zu dritt überreden will und dabei an ultimative Männerphantasien appelliert. Dem fleischgewordenen inneren Dämon und ihren Vorwürfen der Verspießerung begegnet der Mann, der ausgerechnet als Antiquar arbeitet, mit einem trotzigen Bekenntnis zur Entsagung - "Man kann Ekstase nicht täglich haben" -, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwendet und eine Neuerwerbung aufnimmt: "Jack Kerouac, schreibmaschinengeschriebener Brief, gezeichnet ("Jack"), 1 Seite, an seine Freundin, die Lyrikerin Lois Sorrells, einzeilig, mit Bleistift gezeichnet, leichte Kerbung vom Zusammenfalten". Doch gerade der letzte Satz, autosuggestiv-beschwörend zu sich selbst gesprochen, klingt eher wie ein Dementi als eine Moral: "Es war kein Scheinleben."
Während für die Männer bei Salter das Versprechen sexueller Befreiung (durch junge Mädchen) der ewige Stachel ist, zeigen sich die Frauen bei ihm eher fasziniert von unangepaßten Künstlerfiguren, die als Projektionsfläche der Sehnsüchte von anderen Leben herhalten - etwa in "My Lord" der leicht verwahrloste und alkoholabhängige Lyriker aus der Nachbarschaft, der, Pound zitierend, die Dinnerparty aufmischt. Diese Muster haben heute zweifellos etwas Patina angesetzt, jene amerikanische upper middle class mit ihren Vorortvillen und Golfclubs - womit nicht gesagt sein soll, daß es dieses Milieu nicht auch hier und heute noch gibt und moderne Lyrik zum rechten Zeitpunkt manche Chirurgengattin in Wallungen versetzen kann. Aber mitunter geraten die Figuren doch allzu schematisch. Die drei verzweifelt-fröhlichen Freundinnen in "So viel Spaß", die sich über ihre Männer unterhalten, wirken wie ein bitterer Gegenentwurf zu "Sex and the City". Wenn die attraktivste der drei am Ende im Taxi zusammenbricht - sie hat ihre tödliche Krebserkrankung vor den beiden anderen verheimlicht -, dann kommt dieses memento mori sehr aufdringlich und effektheischend daher.
Doch auch die schwächeren Geschichten schlagen durch ihre stilistische Souveränität und die tiefe Kenntnis der menschlichen Seele in ihren Bann. Salter läßt uns durch die Akzidentien der Personen auf die existentiellen Konflikte dahinter blicken. Seine Geschichten sind Versuchsanordnungen einer Alchimie des Glücks. Im Leben ist früher oder später die Zeit für Experimente vorbei. Dann kann man immer noch davon lesen.
RICHARD KÄMMERLINGS
James Salter: "Letzte Nacht". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Malte Friedrich. Berlin Verlag, Berlin 2005. 152 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Lakonischer, nüchterner, "bilanztechnischer" als bei James Salter geht es nicht, stellt Thomas Laux mit Bewunderung fest. Der inzwischen 80-jährige Amerikaner spreche in seinen jüngsten Erzählungen über letzte Dinge, womit Laux das Ende oder Scheitern von Paarbeziehungen meint. Salters Geschichten nähern sich ihnen immer von ihrem Ende her, so Laux, markierten die "Schwundstufen des Vertrauens, des Begehrens". Liebe kommt und Liebe geht, kommentiert Laux ebenso lakonisch wie sein Vorbild; Salter spüre den sich anbahnenden Veränderungen nach, die in winzigsten Nuancen sich ausdrücken könnten: einem falschen Wort, einem kurzem Zögern, einer falschen oder fehlenden Geste zum falschen Zeitpunkt. Das Schöne an Salters Erzählungen ist für Laux, dass ihr Verfasser nicht moralisiert, auch wenn sie genügend Stoff dafür böten. Das Versagen, das Scheitern aber schwingt als Unterton stets mit, da ist Salter "einfach gnadenlos", endet Laux' Rezension.
© Perlentaucher Medien GmbH
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