"Wir wussten genau, wer wir waren und wo wir hingingen. Das war großartig." (Stephen King) Von der Gewalt in der Schule - oder: Wollen wir werden wie die Erwachsenen? Eine Schule in der französischen Provinz: Ein junger Lehrer stürzt sich aus dem Fenster seines Klassenzimmers in den Tod. Als sein Nachfolger Pierre Hoffman Kontakt mit seiner neuen Klasse aufnimmt, entdeckt er ein rätselhaft zusammengeschweißtes Schülerkollektiv, Heranwachsende voller Feindseligkeit und dumpfer Gewalt. An pubertäre Aufsässigkeit glaubt Hoffman nur solange, bis er von einem jungen Schüler, der ihn warnen will, mit einem Messer verletzt wird, bis er eine Videokassette rätselhaften Inhalts in den Händen hält. Aber die gesamte Schule scheint die Situation herunterspielen zu wollen. So scharf blickend wie gelähmt nimmt Hoffman an der Ausführung eines bedrohlichen Planes teil: der tadellosen Inszenierung eines Abschieds dieser Schüler von der Welt. Mit brillanter Sprache fesselt Christophe Dufosse den Leser in seinem mit dem französischen Preis für das "Beste Debüt 2002" ausgezeichneten Roman Letzte Stunde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2004Klasse 7f ist unausstehlich
Christophe Dufossés Debütroman kämpft mit der Gruppendynamik
Das Thema birst schier vor Aktualität: Ein junger Lehrer springt kurz vor Unterrichtsbeginn aus dem Klassenfenster und stirbt wenig später. Sein Nachfolger, ein ebenfalls junger, alleinstehender Lehrer, merkt rasch, daß mit der Klasse 7f etwas nicht in Ordnung, ja daß sie an dem Vorfall mitschuldig ist. Und wieder wird die Schule zum Spiegel der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft. Hier werden die angehenden Staatsbürger geformt, und was im Klassenzimmer schiefläuft, das bringt die bürgerliche Gesellschaft ins Rutschen. Christophe Dufossés Roman "Letzte Stunde" könnte also unter die Haut gehen.
Nach dem drastischen Einstieg holt der Erzähler jedoch erst mal Atem. Wir erfahren mehr über Pierre Hoffmann, 32, der eine halbe Stelle im Collège des (fiktiven) Orts Clerval im etwas öden Herzen Frankreichs bekleidet und nebenher an seiner Dissertation arbeitet. Ein Einzelgänger in seiner Sozialbauwohnung, der sich nach Selbstauskunft in der "inneren Emigration" befindet. Die finstere Atmosphäre verdichtet sich mit der Schilderung der inzestuösen Beziehung zu seiner Schwester und des zweifelhaften Treibens der Kollegen. Das entstehende Mosaik integriert grelle Bilder der Tagespresse - die Katastrophen in deutschen Schulen werden erwähnt - in einen mattdüster glänzenden Fond von Einsamkeit, menschlicher Schwäche, Provinz und trister Urbanität.
Dann schickt Dufossé die Kutsche los: Hoffmann besucht die gleichgültigen Eltern des verstorbenen Kollegen, geht zur Beerdigung. Kurz nach Ferienbeginn erhält er erste Warnzeichen: rätselhafte Anrufe, ein ekelerregendes Paket. Eine Schülerin, die ihn warnen wollte, wird verstümmelt. Der Beschluß einer Klassenfahrt läutet das Finale ein. Der Antiheld Hoffmann, wider Willen im Zentrum des Geschehens, entdeckt, daß sich in der Klasse 7f zwar alle Sekundärtugenden glänzend entfalten, dabei aber die Primärtugenden auf der Strecke geblieben sind. Die Klasse existiert nur als Gruppe, läßt keine Individualität aufkommen, ja befleißigt sich "eines totalen Krieges gegen die Außenwelt", die sie für feindselig und grausam hält. Das alles ist symptomatisch, mysteriös, abgründig, und dem Autor gelingt es, die schwebende Drohung suggestiv zu vermitteln. Das muß die Juroren dazu bewogen haben, ihn 2002 mit dem "Prix du premier roman" auszuzeichnen.
Viele Details sind tatsächlich geglückt. So kulminiert die Beschreibung eines düsteren Zimmers in der Schilderung von Klaustrophobie: "Die Textur des Raumes schien sich in sich selbst zu verschließen." Oft jedoch gelingen eben gerade solche Wendungen nicht. Den Beschreibungen und Figurenanalysen pfropft Dufossé allgemeinste Schlüsse auf: "Ihr Geschmack an solchen verbalen Spielen hatte vor allem eine bestätigende Funktion." Ja und? Sätze dieser Art sind unnötig und schwammig obendrein; noch die präziseste Beobachtung wird mit ihnen abgewürgt. Störende Abstrakta wuchern auch in den Dialogen: Wenn ein Dreizehnjähriger "wie ein künftiger Semiotiker" spricht, dann ahnt man dahinter den Autor selbst. Ähnliches gilt für die Manie, kleinsten Dingen eine Reflexion des Erzählers anzupappen. Schwerer aber wiegt, daß die Gesamtkonzeption ausfasert: Zu viele Einzelheiten, Szenen und Figuren finden nicht zueinander. In der unheilschwangeren Atmosphäre liegt das Versprechen eines versteckten Zusammenhanges in der Luft, das dann aber nicht eingelöst wird, schon gar nicht vom Romanschluß, der banal und vollends enttäuschend ist.
Dufossé, der sein Mosaik durchaus spannend angelegt hat, gelingt es nicht, seine Elemente kohärent zu entfalten: Sie strecken sich gequält, werden erstickt oder auseinandergerissen. Das Thema juveniler Regression und Kollektivitätszwangs, das faszinierende Bearbeitungen ermöglicht - man denke an William Goldings "Herr der Fliegen" oder an "Die Welle" - ist dem Autor bei verliebter Betrachtung der Maschen seines Rollkragenpullovers entglitten.
NIKLAS BENDER
Christophe Dufossé: "Letzte Stunde". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003. 346 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christophe Dufossés Debütroman kämpft mit der Gruppendynamik
Das Thema birst schier vor Aktualität: Ein junger Lehrer springt kurz vor Unterrichtsbeginn aus dem Klassenfenster und stirbt wenig später. Sein Nachfolger, ein ebenfalls junger, alleinstehender Lehrer, merkt rasch, daß mit der Klasse 7f etwas nicht in Ordnung, ja daß sie an dem Vorfall mitschuldig ist. Und wieder wird die Schule zum Spiegel der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft. Hier werden die angehenden Staatsbürger geformt, und was im Klassenzimmer schiefläuft, das bringt die bürgerliche Gesellschaft ins Rutschen. Christophe Dufossés Roman "Letzte Stunde" könnte also unter die Haut gehen.
Nach dem drastischen Einstieg holt der Erzähler jedoch erst mal Atem. Wir erfahren mehr über Pierre Hoffmann, 32, der eine halbe Stelle im Collège des (fiktiven) Orts Clerval im etwas öden Herzen Frankreichs bekleidet und nebenher an seiner Dissertation arbeitet. Ein Einzelgänger in seiner Sozialbauwohnung, der sich nach Selbstauskunft in der "inneren Emigration" befindet. Die finstere Atmosphäre verdichtet sich mit der Schilderung der inzestuösen Beziehung zu seiner Schwester und des zweifelhaften Treibens der Kollegen. Das entstehende Mosaik integriert grelle Bilder der Tagespresse - die Katastrophen in deutschen Schulen werden erwähnt - in einen mattdüster glänzenden Fond von Einsamkeit, menschlicher Schwäche, Provinz und trister Urbanität.
Dann schickt Dufossé die Kutsche los: Hoffmann besucht die gleichgültigen Eltern des verstorbenen Kollegen, geht zur Beerdigung. Kurz nach Ferienbeginn erhält er erste Warnzeichen: rätselhafte Anrufe, ein ekelerregendes Paket. Eine Schülerin, die ihn warnen wollte, wird verstümmelt. Der Beschluß einer Klassenfahrt läutet das Finale ein. Der Antiheld Hoffmann, wider Willen im Zentrum des Geschehens, entdeckt, daß sich in der Klasse 7f zwar alle Sekundärtugenden glänzend entfalten, dabei aber die Primärtugenden auf der Strecke geblieben sind. Die Klasse existiert nur als Gruppe, läßt keine Individualität aufkommen, ja befleißigt sich "eines totalen Krieges gegen die Außenwelt", die sie für feindselig und grausam hält. Das alles ist symptomatisch, mysteriös, abgründig, und dem Autor gelingt es, die schwebende Drohung suggestiv zu vermitteln. Das muß die Juroren dazu bewogen haben, ihn 2002 mit dem "Prix du premier roman" auszuzeichnen.
Viele Details sind tatsächlich geglückt. So kulminiert die Beschreibung eines düsteren Zimmers in der Schilderung von Klaustrophobie: "Die Textur des Raumes schien sich in sich selbst zu verschließen." Oft jedoch gelingen eben gerade solche Wendungen nicht. Den Beschreibungen und Figurenanalysen pfropft Dufossé allgemeinste Schlüsse auf: "Ihr Geschmack an solchen verbalen Spielen hatte vor allem eine bestätigende Funktion." Ja und? Sätze dieser Art sind unnötig und schwammig obendrein; noch die präziseste Beobachtung wird mit ihnen abgewürgt. Störende Abstrakta wuchern auch in den Dialogen: Wenn ein Dreizehnjähriger "wie ein künftiger Semiotiker" spricht, dann ahnt man dahinter den Autor selbst. Ähnliches gilt für die Manie, kleinsten Dingen eine Reflexion des Erzählers anzupappen. Schwerer aber wiegt, daß die Gesamtkonzeption ausfasert: Zu viele Einzelheiten, Szenen und Figuren finden nicht zueinander. In der unheilschwangeren Atmosphäre liegt das Versprechen eines versteckten Zusammenhanges in der Luft, das dann aber nicht eingelöst wird, schon gar nicht vom Romanschluß, der banal und vollends enttäuschend ist.
Dufossé, der sein Mosaik durchaus spannend angelegt hat, gelingt es nicht, seine Elemente kohärent zu entfalten: Sie strecken sich gequält, werden erstickt oder auseinandergerissen. Das Thema juveniler Regression und Kollektivitätszwangs, das faszinierende Bearbeitungen ermöglicht - man denke an William Goldings "Herr der Fliegen" oder an "Die Welle" - ist dem Autor bei verliebter Betrachtung der Maschen seines Rollkragenpullovers entglitten.
NIKLAS BENDER
Christophe Dufossé: "Letzte Stunde". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003. 346 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Christoph Schröder kann kaum fassen, dass Christophe Dufosse eine derart interessante Figur wie den scharfsinnigen und rücksichtslos analytischen Provinzlehrer Pierre Hoffmann - und seinen Roman dennoch "so frontal an die Wand fahren kann". Nach einem guten Einstieg wusste der Rezensent bald nicht mehr, was er vor sich hatte: einen pädagogischen Psychothriller, eine Anklage auf das marode Schulsystem oder den gescheiterten Versuch eines philosophischen Roman. Für Letzteres sprechen ein "verschwiemelter, geheimnisvoll raunender Duktus" und die altkluge Rede der ansonsten eher gewalttätigen Schüler, die der Rezensent vorgefunden haben will. Arg gestört hat er sich auch an einem Showdown von hohem Peinlichkeitsgrad, so dass als Hausaufgabe nur bleibt herauszufinden, wie dieser Roman als bestes Debüt des Jahres 2002 ausgezeichnet werden konnte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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