„Letzte Tage mit meinem Vater“
Mit wenigen Worten und außergewöhnlichen Fotos lässt Phillip Toledano, der Sohn, den Leser an den letzten Lebenstagen seines 97-jährigen Vaters teilhaben.
„Er leidet nicht an Alzheimer, doch er hat kein Kurzzeitgedächtnis mehr und ist oft verwirrt“, so der Sohn
über seinen Vater. Der plötzliche Tod der Mutter, lässt den Sohn näher an ihn herantreten.
Ich…mehr„Letzte Tage mit meinem Vater“
Mit wenigen Worten und außergewöhnlichen Fotos lässt Phillip Toledano, der Sohn, den Leser an den letzten Lebenstagen seines 97-jährigen Vaters teilhaben.
„Er leidet nicht an Alzheimer, doch er hat kein Kurzzeitgedächtnis mehr und ist oft verwirrt“, so der Sohn über seinen Vater. Der plötzliche Tod der Mutter, lässt den Sohn näher an ihn herantreten.
Ich denke:
Mit 97 muss der Speicherplatz von den Ereignissen des Lebens randvoll sein. Nichts kann mehr gehen, schon gar nicht etwas, das schmerzt. Wie soll man denn mit dieser Wahrheit umgehen, dieser unumkehrbaren? Mit dem Tod, der den Vater nicht unberührt lassen kann? Dem Sohn aber bietet es die Chance einer Annäherung an den Prozess des Älterwerdens.
„Da meine Eltern mich so spät bekamen, war mein Dad eigentlich schon in Rente, als ich erwachsen wurde, so erzählt Phillip Toledano, und berichtet weiter:
„Doch mein ehrgeiziger, getriebener Vater sah sich selbst ganz und gar nicht als Rentner, sondern als jemand, der an seiner nächsten Karriere bastelte: ein Künstler zu werden.
Ich habe so viele Erinnerungen an ihn, wie er eine Oper hört, zeichnet, malt und bildhauert.“
Wie sehr diese Erinnerungen kreative Spuren hinterlassen haben zeigt dieses sensible, einmalige Fotobuch. Es berührt,
wenn der Sohn an anderer Stelle erzählt:
„Ich bat meinen Vater, in den Spiegel zu schauen, als ich ihn fotografierte. Sie müssen wissen, dass mein Vater in jungen Jahren sehr attraktiv war …“
Ich denke:
Wie soll man denn mit dieser Wahrheit umgehen, dieser unumkehrbaren, mit der Veränderung des Körpers, wenn man sich gerne im Spiegel gesehen hat? Da muss man doch erschrecken, wenn nichts mehr ist, wie es war.
Keinesfalls aber muss der Leser erschrecken, denn die Porträts und Momentaufnahmen zeigen eine Persönlichkeit voller Fassetten, Bewegungen der Seele, die der Herbst des Lebens mit sich bringt, Verwandlung, Lebendigkeit reich an Gefühlen.
…und wieder erzählt der Sohn:
„Zwar malt er nicht mehr, doch er hat noch ein gutes Auge. Er bewunderte den Sonnenaufgang und sagte, er könnte eine ganze Gemäldeserie zu diesen wundervollen Farben anfertigen …
Der Drang ist noch da. Auch wenn der Körper nicht mehr mitspielt.“
Vom Essen, vom zu langen auf-der-Toilette-sitzen, vom Sterben und der Sehnsucht, alles sollte wie früher sein, vom Zeugnis der Liebe zwischen Vater und Sohn, als Tagebuch wird es erzählt. Momentaufnahmen eines Lebens an der Schwelle des Unumkehrbaren, des Sterbens.
Immer aber ist auch der Verlust der Mutter präsent. Zurückgehaltene Trauer wenn der Sohn über seinen Schmerz schreibt:
„Ich habe mich lange davor gedrückt, doch heute habe ich den Wandschrank meiner Mutter ausgeräumt.
Ich weiß dass es seltsam klingt, doch manchmal wenn mein Vater ein Nickerchen macht, gehe ich ins Schlafzimmer, öffne ihren Kleiderschrank und schließe die Augen.
Ich atme tief ein. Jeder Atemzug eine Erinnerung.“
Der Abschied vom Vater naht, die Worte und Fotos werden, wie eine Melodie leiser, eindringlicher, geben Raum für eigene Gedanken, wenn der Sohn festhält:
„Wenn wir uns unterhalten, verstummt mein Vater manchmal und seufzt und schließt die Augen.
Dann weiß ich, dass er Bescheid weiß.
Über meine Mutter.
Über alles.“
Das Foto zeigt einen Mann, dessen Antlitz Ruhe ausstrahlt.
Eine Seite später - den trauernden Sohn:
„Mein Dad ist gestern gestorben.“
Was aber bleibt?
Ein leerer Sessel, eine einsame Zahnbürste – ein Zettel mit einem Liebesgedicht an Helene, die vorausgegangene Ehefrau.
Man muss das Buch in den Händen halten, sich von den wenigen Worten inspirieren lassen, eintauchen in Fotos, die den Blick von Klischees befreien.
Wer da glaubt, dieses Zeugnis vom Älterwerden in dieListe von Demenzbüchern aufnehmen, empfehlen zu müssen, sollte inne halten, den Spuren eines fast 100 jährigen Lebens auf dieser so wankelmütigen Welt folgen.
Wer sich das Buch schenkt, wird reich beschenkt!