Da ist zunächst ein Friseursalon. Von dort aus beobachtet Vicente, der Erzähler, die Welt. Er beobachtet die Arbeiter, die Gleise der Eisenbahn demontieren. Gleise, auf denen nie mehr ein Zug in dieses verlassene Provinzkaff, weit weg von Buenos Aires, einfahren wird. Gleise, die als Narben in der Erde und in den Köpfen der Einwohner zurückbleiben. Dann ist da das Don Pedrin, die Bar, in der alles kommentiert wird. Man spricht über den Film, der im einzigen Kino des Städtchens gezeigt wurde, und man spricht über das Vergangene und stellt immer wieder Fragen, warum die Negra Mlranda eines Tages den Zug nach Buenos Aires genommen haben soll und nicht mehr zurückgekommen ist? Sie hatte Beine, die jeden Mann, die jungen sowieso, um den Verstand brachten und einen verheirateten Polizisten durchdrehen ließen. Ob gedankenverloren oder im Gespräch mit anderen, jeder erzählt seine Version der Geschichte, verwischte Erinnerungen vom Verlassenwerden, von Rache und Abgründen der Geschichte ... und auf der letzten Zeile erst erschließt sich das Ganze der Geschichte.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nach der Lektüre von Hernan Ronsinos schmalem Buch "Letzter Zug nach Buenos Aires" möchte Rezensentin Cornelia Fiedler am liebsten sofort von vorne beginnen. Denn Ronsino gelinge es in seiner Geschichte, in der mehr unausgesprochen bleibe, als erzählt werde und in der sich Formulierungen wie die Arbeitsroutine wiederholen, mit einfachen, "schnörkellosen" Sätzen eine derart subtile Spannung aufzubauen, dass sich die Kritikerin schnell in den Bann ziehen lässt. Ausgehend von dem Tatsachenbericht des Journalisten Rodolfo Walsh über "Das Massaker von San Martin" aus dem Jahre 1956, in dem Polizisten nach dem Sturz eine Gruppe unbeteiligter Zivilisten erschossen, liest die Rezensentin hier die von vier Beteiligten geschilderten, nachfolgenden Ereignisse der Jahre 1958 bis 1984: darunter einer der Polizisten, der nun in die Kleinstadt bei Buenos Aires strafversetzt worden ist. Lobend erwähnt die Rezensentin auch die Übersetzung von Luis Ruby, dem es gelinge, Ronsinos "schroffe" Bilder präzise wiederzugeben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.07.2012Lethargie
und Verbrechen
Hernán Ronsinos schmaler,
schnörkelloser Western-Roman
Wenn wortkarge Männer die Geschichte eines Mordes erzählen, dann füllt das nicht sehr viele Seiten, neunzig, um genau zu sein – und selbst die sind nicht voll: Ein Gedanke – ein Absatz, ein Absatz – eine Seite, das muss genügen. Oft ist da mehr weiße Fläche als Text, in „Letzter Zug nach Buenos Aires“, mehr Unausgesprochenes als Erzähltes. Man starrt in diese Leere unter oder über dem großzügig gesetzten Textblock, und der Blick wandert weiter, hinaus auf die staubige Straße einer argentinischen Provinzstadt. Nach und nach füllt sie sich mit Details: eine Baustelle mit rußverschmierten Feuertonnen, Lehmmauern, die Glaxo-Fabrik, eine einfache Bar, ein Friseurladen und Bahngleise, verdeckt hinter dicht wucherndem Schilf. Der Erzähler nimmt einen Schluck Mate, grüßt mit knappem Nicken einen der wenigen, immergleichen Passanten, nimmt seinen inneren Monolog wieder auf.
Der gleichgültigen Ruhe seiner vier Hauptfiguren setzt der Autor Hernán Ronsino das Bild einer willkürlichen Hinrichtung entgegen. Wie ein kurzes Aufblitzen des Verdrängten zitiert er zu Beginn seines Romans einen Tatsachenbericht des Journalisten Rodolfo Walsh, „Das Massaker von San Martín“. Darin rekonstruiert Walsh, wie Polizisten im Jahr 1956, nach dem Sturz Perons, eine Gruppe unbeteiligter Zivilisten erschossen – „Aufstandsbekämpfung“ wurde das genannt. Einen der Mörder von damals lässt Ronsino nun kurz darauf in seiner namenlosen Kleinstadt bei Buenos Aires auftauchen, strafversetzt, als einzige Konsequenz aus dem Dienstvergehen. Dieser Polizist hat nur eines gelernt: beim nächsten Verbrechen den richtigen Zeitpunkt abzuwarten.
Die vier Episoden, erzählt von vier der Beteiligten, sind Momentaufnahmen aus den Jahren 1958 bis 1984. In der Summe werden sie einen Mordfall lösen, an dessen Aufklärung niemand Interesse hat. Schließlich wurde bereits einer von ihnen als schuldig denunziert. Auf Sühne, auf gerechte Strafe wartet man folglich vergebens. Die Männer erzählen in einfachen, schnörkellosen Sätzen: Wie ein Mann ohne Mitleid auf den Tod eines anderen wartet und ihm ein letztes Mal die Haare schneidet; wie eine Frau auf einen Zug aufspringt um für immer zu verschwinden; wie ein „unvergessliches Paar Beine“ das ganze Arbeiterviertel in Aufregung versetzt; wie ein Freund einen Freund ans Messer liefert. Gedanken kreisen, Formulierungen wiederholen sich, so wie die Arbeitsroutine oder die Albträume von entgleisenden Zügen. Lange bleibt unklar, woher die latente Beunruhigung rührt. Aber sie ist da: „Über den Feldern rückt unerbittlich die Nacht vor. Es ist, als würde sie uns umzingeln. Ich lege das Schloss vor und drehe den Schlüssel zweimal um. Bevor ich gehe, rüttle ich daran, um sicherzugehen, dass es richtig zu ist.“
Es dauert nur eine Stunde, das schmale Bändchen durchzulesen, danach möchte man am liebsten von vorne beginnen. Wie seine Figuren braucht Ronsino eben nicht viele Worte. „Letzter Zug nach Buenos Aires“ ist das erste Buch des argentinischen Schriftstellers und Soziologen, das auf Deutsch erscheint und hat es bereits in die Vorauswahl zur Hotlist 2012 der unabhängigen Verlage geschafft. Die präzise Übersetzung von Luis Ruby trifft den optimalen Ton für Ronsinos schroffe Bilder, sie prägen sich so zwingend ein, wie sich das für einen guten Kinofilm gehört.
CORNELIA FIEDLER
HERNÁN RONSINO: Letzter Zug nach Buenos Aires. Aus dem Spanischen von Luis Ruby. Bilgerverlag, Zürich 2012. 104 Seiten, 19 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Verbrechen
Hernán Ronsinos schmaler,
schnörkelloser Western-Roman
Wenn wortkarge Männer die Geschichte eines Mordes erzählen, dann füllt das nicht sehr viele Seiten, neunzig, um genau zu sein – und selbst die sind nicht voll: Ein Gedanke – ein Absatz, ein Absatz – eine Seite, das muss genügen. Oft ist da mehr weiße Fläche als Text, in „Letzter Zug nach Buenos Aires“, mehr Unausgesprochenes als Erzähltes. Man starrt in diese Leere unter oder über dem großzügig gesetzten Textblock, und der Blick wandert weiter, hinaus auf die staubige Straße einer argentinischen Provinzstadt. Nach und nach füllt sie sich mit Details: eine Baustelle mit rußverschmierten Feuertonnen, Lehmmauern, die Glaxo-Fabrik, eine einfache Bar, ein Friseurladen und Bahngleise, verdeckt hinter dicht wucherndem Schilf. Der Erzähler nimmt einen Schluck Mate, grüßt mit knappem Nicken einen der wenigen, immergleichen Passanten, nimmt seinen inneren Monolog wieder auf.
Der gleichgültigen Ruhe seiner vier Hauptfiguren setzt der Autor Hernán Ronsino das Bild einer willkürlichen Hinrichtung entgegen. Wie ein kurzes Aufblitzen des Verdrängten zitiert er zu Beginn seines Romans einen Tatsachenbericht des Journalisten Rodolfo Walsh, „Das Massaker von San Martín“. Darin rekonstruiert Walsh, wie Polizisten im Jahr 1956, nach dem Sturz Perons, eine Gruppe unbeteiligter Zivilisten erschossen – „Aufstandsbekämpfung“ wurde das genannt. Einen der Mörder von damals lässt Ronsino nun kurz darauf in seiner namenlosen Kleinstadt bei Buenos Aires auftauchen, strafversetzt, als einzige Konsequenz aus dem Dienstvergehen. Dieser Polizist hat nur eines gelernt: beim nächsten Verbrechen den richtigen Zeitpunkt abzuwarten.
Die vier Episoden, erzählt von vier der Beteiligten, sind Momentaufnahmen aus den Jahren 1958 bis 1984. In der Summe werden sie einen Mordfall lösen, an dessen Aufklärung niemand Interesse hat. Schließlich wurde bereits einer von ihnen als schuldig denunziert. Auf Sühne, auf gerechte Strafe wartet man folglich vergebens. Die Männer erzählen in einfachen, schnörkellosen Sätzen: Wie ein Mann ohne Mitleid auf den Tod eines anderen wartet und ihm ein letztes Mal die Haare schneidet; wie eine Frau auf einen Zug aufspringt um für immer zu verschwinden; wie ein „unvergessliches Paar Beine“ das ganze Arbeiterviertel in Aufregung versetzt; wie ein Freund einen Freund ans Messer liefert. Gedanken kreisen, Formulierungen wiederholen sich, so wie die Arbeitsroutine oder die Albträume von entgleisenden Zügen. Lange bleibt unklar, woher die latente Beunruhigung rührt. Aber sie ist da: „Über den Feldern rückt unerbittlich die Nacht vor. Es ist, als würde sie uns umzingeln. Ich lege das Schloss vor und drehe den Schlüssel zweimal um. Bevor ich gehe, rüttle ich daran, um sicherzugehen, dass es richtig zu ist.“
Es dauert nur eine Stunde, das schmale Bändchen durchzulesen, danach möchte man am liebsten von vorne beginnen. Wie seine Figuren braucht Ronsino eben nicht viele Worte. „Letzter Zug nach Buenos Aires“ ist das erste Buch des argentinischen Schriftstellers und Soziologen, das auf Deutsch erscheint und hat es bereits in die Vorauswahl zur Hotlist 2012 der unabhängigen Verlage geschafft. Die präzise Übersetzung von Luis Ruby trifft den optimalen Ton für Ronsinos schroffe Bilder, sie prägen sich so zwingend ein, wie sich das für einen guten Kinofilm gehört.
CORNELIA FIEDLER
HERNÁN RONSINO: Letzter Zug nach Buenos Aires. Aus dem Spanischen von Luis Ruby. Bilgerverlag, Zürich 2012. 104 Seiten, 19 Euro.
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