Am Anfang war das Licht, oder doch die Lumières? Von der Erschaffung der Welt ist es in Ulrike Almut Sandigs neuem Gedichtband nur ein »Feuer, Erde, Wasser, Sprung« zur Sinfonie der Berliner Großstadt. Dort gilt es, Position zu halten vor Lampedusa, Nein zu sagen zum Kühlschranklicht und zu Deutschland als befristetem Aufenthalt. Dienen uns leuchtende Schafe als Nachtspeicher für finstere Stunden, wenn wir uns fürchten vor Gott als Turnlehrer mit Triller pfeife, Müttern mit Augen wie Kakao oder der Staatenbildung unserer Selbst?Sandigs neue Texte sind nicht nur visuelle Poesie auf dem Papier, sondern auch Loops im Ohr und filmische Bild explosionen für alle Sinne. Mit Sprechsoftware rückt sie Gedichten der deutschen Romantik zuleibe und fasst deren koloniale Kehrseite in kunstvolle Anagramme. Vor allem aber schafft die Dichterin in »Leuchtende Schafe« einmal mehr »Welten voller mythischer Bilder, die sich tief ins Bewusstsein eingraben« (Matthias Ehlers, WDR).
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein Gesamtkunstwerk ist diese Gedichtsammlung von Ulrike Almut Sandig, verrät uns Rezensent Fridtjof Küchemann, eines, das verschiedenste Genres und Medien abdecke und das sich auch fremder Texte wie derer Hölderlins bediene. Der Rezensent freut sich über die schwingende Leichtigkeit, den Innovationsgeist der Gedichte, die verschiedenste Themen von Vergänglichkeit über Mutterschaft bis Sexualität abdeckten. Das "Sprachvertrauen" der Autorin wirkt auf Küchemann regelrecht freiheitsstiftend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2022Wo tat's denn weh, Zippelonika?
Distanzierter Blick auf die Gottheit: Ulrike Almut Sandigs Gedichtband "Leuchtende Schafe"
Die Allerschaffende, wieder: Ulrike Almut Sandig, Dichterin, Erzählerin, Vortrags-, Klang- und Videokünstlerin, hat zwei Jahre nach ihrem ersten Roman "Monster wie wir" und sechs Jahre nach ihrem letzten Lyrikband eine neue Sammlung von Gedichten vorgelegt. Zwiesprachen, Anrufungen, Sprachbilder, die auch auf den Seiten gesetzt Grafiken ergeben, ganze Zyklen von Gesängen finden sich in "Leuchtende Schafe". Und als wäre das noch nicht genug, erfährt der Band eine Ausweitung in einigen Videos im Netz, auf denen sich die Dichterin als Performerin zeigt, die ihre Texte illustriert, illuminiert, konterkariert.
In "Friedrich Hölderlin, überarbeitet" mischt Ulrike Almut Sandig Zeilen aus dem im Jahr 1800 verfassten Hölderlin-Werk "Wie wenn am Feiertage" auf, indem sie in den ersten drei Strophen jede zweite Zeile des Dichters durch eine eigene ersetzt. Der Hymnus auf eine nach nächtlichem Unwetter "mit Waffenklang" wiedererwachende Natur ("Die Allerschaffende, wieder - erfrägst du sie?" ist die letzte zitierte Zeile) wird durchsetzt mit ihrer Misshandlung, mit Grausamkeiten der Schafschur. Kleinste Verschiebungen von "schläft" zu "schlägt", von "erfrägst" zu "erträgst" verweben die Zeilen der Gegenwart mit den jahrhundertealten.
Zuletzt wird "Friedrich" mehrfach gedrängt, "leuchtende Schafe" zu sagen, und schließlich angewiesen einzuschlafen: eine lyrische Frechheit, die in der Video-Umsetzung des Gedichts noch eine Fortsetzung findet. Hier werden die Zeilen Hölderlins von einer künstlichen Stimme gesprochen, die naturgemäß nicht wissen kann, was sie da sagt. Weltfremd, verloren, verwirrt wirken die klassischen Zeilen in zufälliger Betonung. Kein Wunder, dass die Dichterin der Ergänzungen, der Überschreibungen in diesem Dialog ihr Gegenüber gewissermaßen bei der Hand nehmen muss, ihm ansagt, was zu tun ist.
"Zippelonika" heißt ein erster Zyklus aus zwölf Gedichten in "Leuchtende Schafe". Hier wird der alte Kinderreim über die Frau "mit Augen wie Kakao", die "dreimal hinterm Mond" wohnt, zum Ausgangspunkt kindlicher Notate aus dem Leben mit einer offenbar alkoholkranken "Losermama", die "hin und wieder ihr Kind verkloppte": "an schlechten Tagen ist Zippelonika ein Zeppelin / so menschenleer wie ihr eigener Hangar", heißt es einmal. "Wo tat's denn weh, als Zippelonika Kind war", fragt ein paar Seiten später ein "Choral" überschriebenes Gedicht, das den Hallraum der Mutter-Tochter-Konstellation um eine Generation erweitert. Auch hier steht der unbekümmerte Klang der Zeilen in krassem Kontrast zu dem Kummer, dem Ausgeliefertsein des lyrischen Ichs.
Wie unterscheiden wir zwischen Hören und Verstehen? In ihren "Sieben Marienliedern mit Hyäne" schließt Ulrike Almut Sandig eine um 1420 geschnitzte Muttergottes aus Lindenholz vom Salzburger Kapuzinerberg mit einer Hyäne und Erinnerungen an eine - wieder diese kleinsten Verschiebungen - Hélène kurz. Die Lieder tragen sexuelle Anspielungen und haben zugleich etwas Uneingelöstes, die Besungenen etwas Unbeholfenes: "gleich muss ich gehen, sagen wir / beide im selben Moment".
Selbst die Wände einer barocken Schlosskapelle im Sächsischen bringt Ulrike Almut Sandig zum Singen: "ich hab so viele Wörter in mir", setzen die drei Gedichte "an einem besucherarmen Tag im 21. Jahrhundert" an, der Zerfall, das Leben in den Mauern, dazu ein distanzierter Blick auf die Gottheit, der zu Ehren die Kirche einst erbaut wurde, sind ihre Themen. Walther Ruttmanns dokumentarischer Stummfilm "Berlin - Sinfonie einer Großstadt" aus dem Jahr 1927 wird bedichtet, Zeilen Wilhelm Lehmanns werden mit einer Sprechsoftware kurzgeschlossen, die Zeitlosigkeit lyrischer Weltaneignung ebenso ausgestellt wie ihre Zeitgebundenheit, ihre Vergänglichkeit.
Die Zeitgebundenheit von Dichtung beschäftigte Ulrike Almut Sandig schon lange. Noch als Studentin hatte sie mit zwei Begleiterinnen Plakate mit Gedichten auf Leipziger Zäune und Masten geklebt, der Witterung ebenso ausgesetzt wie dem Zugriff empörter Bürger oder - zunehmend - interessierter Sammler. Für eine Neuauflage ihres Debütbands "Zunder", 2005 in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung veröffentlicht, hatte die Dichterin vier Jahre später, wie sie Mitte September in der Reihe "Werkseinstellungen" des Hessischen Literaturforums in Frankfurt erzählte, einige Texte umgeschrieben, weil sie ihr inzwischen "zu ungenau" waren - "in freundschaftlichem Einverständnis mit der Autorin, die ich einmal war".
Diese Leichtigkeit trägt auch die Gedichte, die "Leuchtende Schafe" versammelt, bei aller Spannweite, bei allem Gewicht der Themen, die sie berühren. Es liegt ein Zauber in ihnen, ein Gegenzauber vielleicht. Sprachvertrauen. Eine im Buch nicht wiedergegebene Fassung des alten Kinderreims mit der "Zipp Zippelipp Zippelonika" endet mit einem Versprechen: "Wer mir das nachsagen kann", heißt es dort, "ist frei." Ulrike Almut Sandigs Dichtkunst schenkt ihren Lesern Freiheit. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Ulrike Almut Sandig: "Leuchtende Schafe". Gedichte.
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022. 112 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Distanzierter Blick auf die Gottheit: Ulrike Almut Sandigs Gedichtband "Leuchtende Schafe"
Die Allerschaffende, wieder: Ulrike Almut Sandig, Dichterin, Erzählerin, Vortrags-, Klang- und Videokünstlerin, hat zwei Jahre nach ihrem ersten Roman "Monster wie wir" und sechs Jahre nach ihrem letzten Lyrikband eine neue Sammlung von Gedichten vorgelegt. Zwiesprachen, Anrufungen, Sprachbilder, die auch auf den Seiten gesetzt Grafiken ergeben, ganze Zyklen von Gesängen finden sich in "Leuchtende Schafe". Und als wäre das noch nicht genug, erfährt der Band eine Ausweitung in einigen Videos im Netz, auf denen sich die Dichterin als Performerin zeigt, die ihre Texte illustriert, illuminiert, konterkariert.
In "Friedrich Hölderlin, überarbeitet" mischt Ulrike Almut Sandig Zeilen aus dem im Jahr 1800 verfassten Hölderlin-Werk "Wie wenn am Feiertage" auf, indem sie in den ersten drei Strophen jede zweite Zeile des Dichters durch eine eigene ersetzt. Der Hymnus auf eine nach nächtlichem Unwetter "mit Waffenklang" wiedererwachende Natur ("Die Allerschaffende, wieder - erfrägst du sie?" ist die letzte zitierte Zeile) wird durchsetzt mit ihrer Misshandlung, mit Grausamkeiten der Schafschur. Kleinste Verschiebungen von "schläft" zu "schlägt", von "erfrägst" zu "erträgst" verweben die Zeilen der Gegenwart mit den jahrhundertealten.
Zuletzt wird "Friedrich" mehrfach gedrängt, "leuchtende Schafe" zu sagen, und schließlich angewiesen einzuschlafen: eine lyrische Frechheit, die in der Video-Umsetzung des Gedichts noch eine Fortsetzung findet. Hier werden die Zeilen Hölderlins von einer künstlichen Stimme gesprochen, die naturgemäß nicht wissen kann, was sie da sagt. Weltfremd, verloren, verwirrt wirken die klassischen Zeilen in zufälliger Betonung. Kein Wunder, dass die Dichterin der Ergänzungen, der Überschreibungen in diesem Dialog ihr Gegenüber gewissermaßen bei der Hand nehmen muss, ihm ansagt, was zu tun ist.
"Zippelonika" heißt ein erster Zyklus aus zwölf Gedichten in "Leuchtende Schafe". Hier wird der alte Kinderreim über die Frau "mit Augen wie Kakao", die "dreimal hinterm Mond" wohnt, zum Ausgangspunkt kindlicher Notate aus dem Leben mit einer offenbar alkoholkranken "Losermama", die "hin und wieder ihr Kind verkloppte": "an schlechten Tagen ist Zippelonika ein Zeppelin / so menschenleer wie ihr eigener Hangar", heißt es einmal. "Wo tat's denn weh, als Zippelonika Kind war", fragt ein paar Seiten später ein "Choral" überschriebenes Gedicht, das den Hallraum der Mutter-Tochter-Konstellation um eine Generation erweitert. Auch hier steht der unbekümmerte Klang der Zeilen in krassem Kontrast zu dem Kummer, dem Ausgeliefertsein des lyrischen Ichs.
Wie unterscheiden wir zwischen Hören und Verstehen? In ihren "Sieben Marienliedern mit Hyäne" schließt Ulrike Almut Sandig eine um 1420 geschnitzte Muttergottes aus Lindenholz vom Salzburger Kapuzinerberg mit einer Hyäne und Erinnerungen an eine - wieder diese kleinsten Verschiebungen - Hélène kurz. Die Lieder tragen sexuelle Anspielungen und haben zugleich etwas Uneingelöstes, die Besungenen etwas Unbeholfenes: "gleich muss ich gehen, sagen wir / beide im selben Moment".
Selbst die Wände einer barocken Schlosskapelle im Sächsischen bringt Ulrike Almut Sandig zum Singen: "ich hab so viele Wörter in mir", setzen die drei Gedichte "an einem besucherarmen Tag im 21. Jahrhundert" an, der Zerfall, das Leben in den Mauern, dazu ein distanzierter Blick auf die Gottheit, der zu Ehren die Kirche einst erbaut wurde, sind ihre Themen. Walther Ruttmanns dokumentarischer Stummfilm "Berlin - Sinfonie einer Großstadt" aus dem Jahr 1927 wird bedichtet, Zeilen Wilhelm Lehmanns werden mit einer Sprechsoftware kurzgeschlossen, die Zeitlosigkeit lyrischer Weltaneignung ebenso ausgestellt wie ihre Zeitgebundenheit, ihre Vergänglichkeit.
Die Zeitgebundenheit von Dichtung beschäftigte Ulrike Almut Sandig schon lange. Noch als Studentin hatte sie mit zwei Begleiterinnen Plakate mit Gedichten auf Leipziger Zäune und Masten geklebt, der Witterung ebenso ausgesetzt wie dem Zugriff empörter Bürger oder - zunehmend - interessierter Sammler. Für eine Neuauflage ihres Debütbands "Zunder", 2005 in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung veröffentlicht, hatte die Dichterin vier Jahre später, wie sie Mitte September in der Reihe "Werkseinstellungen" des Hessischen Literaturforums in Frankfurt erzählte, einige Texte umgeschrieben, weil sie ihr inzwischen "zu ungenau" waren - "in freundschaftlichem Einverständnis mit der Autorin, die ich einmal war".
Diese Leichtigkeit trägt auch die Gedichte, die "Leuchtende Schafe" versammelt, bei aller Spannweite, bei allem Gewicht der Themen, die sie berühren. Es liegt ein Zauber in ihnen, ein Gegenzauber vielleicht. Sprachvertrauen. Eine im Buch nicht wiedergegebene Fassung des alten Kinderreims mit der "Zipp Zippelipp Zippelonika" endet mit einem Versprechen: "Wer mir das nachsagen kann", heißt es dort, "ist frei." Ulrike Almut Sandigs Dichtkunst schenkt ihren Lesern Freiheit. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Ulrike Almut Sandig: "Leuchtende Schafe". Gedichte.
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022. 112 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ulrike Almut Sandig ist Schriftstellerin, und zwar eine der in der Form wandlungsfähigsten und vielfältigsten, die die deutschsprachige Gegenwartsliteratur derzeit hat.«Christoph Schröder, Laudatio für den Roswitha-Literaturpreis 2021»Der Gedichtband ist variantenreich, sowohl was die Stilistik als auch was die Thematik anbetrifft.«Christian Eidloth, ekz-Publikation