Zwei Endspiele, die das Grauen des Krieges vergegenwärtigen. In LEVIATHAN würfeln die letzten Kriegstage des Jahres 1945 eine Schar Verlorener zusammen. Der Schauplatz: ein Güterwaggon, der am Schluß der Katastrophe auf einer zerstörten Brücke hängenbleibt und die todgeweihten Insassen zwischen Himmel und Abgrund aussetzt. In SCHWARZE SPIEGEL durchstreift der letzte Überlebende des drit-ten Weltkriegs die von A-, B- und C-Waffen verwüstete Gegend zwi-schen Hamburg und Soltau.
In beiden Texten - LEVIATHAN war die erste Publikation Arno Schmidts 1949, SCHWARZE SPIEGEL erschien zuerst 1951 - verarbeitet der Autor Kriegserfahrungen und räsoniert über die Chancen der menschlichen Gattung. Rückblickend im einen, mit unheilvoller Prophetie im anderen Fall. In der besten aller Welten bleibt der Mensch des Menschen schlimmster Feind.
In beiden Texten - LEVIATHAN war die erste Publikation Arno Schmidts 1949, SCHWARZE SPIEGEL erschien zuerst 1951 - verarbeitet der Autor Kriegserfahrungen und räsoniert über die Chancen der menschlichen Gattung. Rückblickend im einen, mit unheilvoller Prophetie im anderen Fall. In der besten aller Welten bleibt der Mensch des Menschen schlimmster Feind.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2006Glückliches Gezwitscher der Geläufigkeit
Für alle, die Robinson, RIAS und „Reader’s Digest” nicht mehr kennen: Der Literaturwissenschaftler Oliver Jahn kommentiert Arno Schmidts Erzählung „Schwarze Spiegel” Von Georg Klein
Es gibt starke Leser. Und es wird auch weiterhin jenen unbedarften, aber wagemutigen jungen Menschen geben, der ein Prosastück Arno Schmidts wie irgendeinen anderen Text, den ihm der Zufall oder die Schule in den Schoß wirft, einfach auf Teufel-komm-raus zu lesen beginnt.
Der Teufel, den ich meine, zeigt in Schmidts langer Erzählung „Schwarze Spiegel” schnell Schwanz und Hörner. Dem Ich-Erzähler, der als einsam Versprengter einen Atomkrieg überlebt hat, gefällt es nämlich, fremdsprachige Zitate unübersetzt und ohne Hinweis auf ihre Herkunft in seinen Bericht einzubauen: „Si, quis tota die currens, pervenit ad vesperam: satis est.” Wer diese Spruchweisheit nicht verstand, musste sich, bevor die nun vorliegende kommentierte Ausgabe erschien, Aufklärung im Internet suchen.
Aber auch alle, die den nicht genannten Francesco Petrarca einen guten Mann sein lassen und ebenso leichtfertig über die folgenden lateinischen, englischen, französischen, italienischen und spanischen Zitate hinweglesen, entkommen der Zwickmühle der Unwissenheit nicht. Das Tagebuch dieses postapokalyptischen Robinson stellt sie Seite für Seite auf dichtgestaffelte Proben. Man könnte dieses Verfahren im Zeitalter der Quiz-Shows humorig nehmen und eine Skala von Schwierigkeitsgraden aufstellen. Zehn-Euro-Frage: Wer war Odysseus? Hundert- Euro-Frage: Warum betete man zur Heiligen Apollonia? Und einen Tausender erringt derjenige, für den „Pneumatomache” kein böhmisches Dorf, sondern ein frühchristlicher Ketzer ist. Wäre Arno Schmidt eine Art Günther Jauch und „Schwarze Spiegel” ein Ratespiel, könnte man auf den neunzig Seiten der Erzählung mühelos zum Millionär werden – so man nur den Großen Brockhaus, das Grimmsche Wörterbuch und Büchmanns Geflügelte Worte auswendig im Kopf hat.
Aber selbst eine solche Universal-Koryphäe, deren Kenntniswurzeln in alle Winkel bürgerlicher Bildung wuchern, würde letztlich vor den Kopf gestoßen. Denn der Autodidakt Schmidt, dem kein Universitätsstudium vergönnt war, hat sich sich auf diversen Sondergebieten besonders tief in die Materie gegraben. Vergessene Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts, Wegbereiter der modernen Astronomie, Festungsbau und Ballistik! Wer außer einem ergrauten Arno-Schmidt-Forscher könnte auf all diesen Gebieten mit dem Autor mithalten? Allerspätestens, wenn der seinen Erzähler bei der Beschreibung fliegender Vögel die Formel zur Berechnung der Drehzahl einer Granate zitieren lässt, bricht jeder Leser in die Knie – es sei denn, er hätte gleich Schmidt bei der Artillerie der verflossenen Wehrmacht gedient und das einst in der Ausbildung Gepaukte noch immer parat.
Wie packt man es also an, wenn man einen Text von Arno Schmidt für Jedermann kommentieren will? Oliver Jahn, Literaturwissenschaftler und Kritiker, geht von den Lesern aus, mit denen heutzutage in einem Deutschleistungskurs oder in einem germanistischen Proseminar zu rechnen ist. Folglich macht er es gründlich. Am Seitenrand des Erzählungstextes finden sich gut 150 kurze Worterklärungen, dazu kommen knapp 200 ausführliche Erläuterungen im Anmerkungsteil. Falls man das Gymnasium vor zwanzig oder dreißig Jahren absolviert hat, mag man darüber staunen, was inzwischen nicht mehr als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden kann. Muss man wirklich erklären, was ein „Vließ”, ein „Vagant” oder eine „Karawanserai” ist? Brauchen „Herkules”, „Ikarus” und „Robinson” eine eigene Anmerkung? Kann man nicht von Grundkentnissen im Englischen und einem geschichtlichen Basiswissen ausgehen? Wer indes gelegentlich mit den gegenwärtigen Abiturienten und Literaturstudenten zu tun hat, wird die Genauigkeit des Kommentars keinesfalls für übertrieben kleinlich halten.
Jahn weiß auch, dass es nicht genügt, den gesunkenen Kenntnisstand in Sachen Mythologie, Literatur und Historie zu bedenken. Die Handlung von „Schwarze Spiegel” spielt in einem Europa, das von ABC-Waffen entvölkert wurde. Aber da das große Abschlachten um 1955 stattgefunden hat, zeigt die Welt, die der Überlebende durchstreift, das Inventar dieser Epoche. In der vergangenen Zukunft Schmidts führte eine „Tommy-Brücke” über den Fluss, man floh aus dem Alltag in die Lektüre von „Reader’s Digest” und lauschte dem Berliner „RIAS” im Radio. Wie alt muss man heute sein, um aus dem „Tommy” den britischen Soldaten, aus dem „Schupo” den Polizisten, aus dem „Abort” die Toilette und aus dem Wortspiel „Umstandswauwau” noch den „Anstandswauwau” herausklingen zu hören? Die vierzig Jahre, die auch der Held Schmidts auf dem Buckel hat, sollten es sicherheitshalber schon sein.
Der vielleicht größte Gewinn dieser so sorgfältig kommentierten Ausgabe liegt darin, dass sie auch das Welt- und Wortwissen des gebildeten und erfahrenen Lesers zu etwas Bedenkenswertem, ja zu etwas in seinem Wert Fragwürdigem macht. Wer ist mehr zu loben: Derjenige, der „La donna è mobile” als den Beginn einer Verdi-Arie erkennt, oder der, der weiß, woher der Vers „Ich küsse ihre Hand, Madame” stammt? Schmidts letzter Mensch, der wie ein Trapper mit Flinte und Rucksack durch ein verwilderndes Norddeutschland schweift, kennt beides. Aber er ist sich zumindest im ersten Teil der Erzählung – bitter-sicher, dass er in Zukunft weder mit der einen noch mit der anderen Wissensfrucht Staat machen kann, dass beide Lieder, der schlichte Schlager wie die raffinierte Arie, mit ihm das Zeitliche segnen werden.
Man mag Schmidts Vorgehen für üble Bildungshuberei halten. Der Kritiker und Dichter Hans Egon Holthusen hat dem gleichaltrigen Kollegen schon 1951, im Erscheinungsjahr der Erzählung, nicht ohne Grund vorgeworfen, seine Prosa sei „mit Literatur und gebildeter Reminiszenz, mit fremdsprachlichen Zitaten und Redensarten geradezu verseucht.” Aber mindestens ebenso berechtigt ist der Verdacht, dass das scheinbar besserwisserische Verfahren in Wirklichkeit den gültigen Ausdruck einer großen, humanen Sehnsucht darstellt. Das kalte Wissen panzert einen schutzbedürftigen warmen Kern. Als im zweiten Teil der Erzählung eine nomadisierende Frau auftaucht, beginnt eine anrührend spröde, schmerzlich zarte Liebesgeschichte. Der provokant trutzige Tagebuchschreiber wandelt auf Freiersfüßen. Wie wirbt man nach der Apokalypse um seine Liebste? Nun, wie einst im Mai, indem man ihr die ganze Welt in Worten zu Füßen legt.
„Worte meine einzigen Kenntnisse.”, sagt er kurz und bündig, als ihm seine Lisa auf den Zahn fühlt und wissen will, warum er überhaupt noch schreibt. Dabei an mögliche Leser zu denken, weist er empört zurück. Aber alles, was er über und für die Geliebte in Worte fasst, sein ganzes intimes Weltopfer, vollzieht sich, wie es sich für die Literatur gehört, vor den Augen just jener geschmähten Leserschaft. Und alle Kenntnisse, die der Autor und sein wesensverwandter Erzähler aufbieten, haben dabei unverkennbar dienenden Charakter. Das Wissen wird die Magd der Liebe. Wie fromm und demütig es seinen Dienst verrichtet, mag folgende Passage andeuten, in der der Erzähler Lisa bei der Morgentoilette zur Hand geht: „Ich gab gewissenhaft jede gewünschte Auskunft, stellte auch das gefüllte Aluminiumwännchen auf den Hocker in der Küche, und floh dann ein bißchen den Weg auf und ab : cibiat ischtinem : es waren doch keine größeren Flächen zu waschen (aber kompliziertere fiel mir ein, fiel mir ein; ...”
Der wortgewaltige Erzähler stottert. Und sein Kommentator Oliver Jahn vermerkt zu „cibiat ischtinem” in verschämt philologischer Diktion: „Nicht ermittelt.” Weiß er es wirklich nicht? Auch ich will auf nacktem Zeitungspapier nicht spekulieren, was die bestimmt heikel-delikate Wendung bedeuten könnte. Stattdessen behaupte ich, ohne jede Erläuterung, nur noch: Diese Erzählung ist ein hinreißendes Stück Literatur, ein Meisterwerk der deutschen Sprache. Und sogar wenn sich ihr steiles, ihr nur scheinbar hochmütiges Firmament aus Weltwissen eines Tages völlig verdunkelt hat, wenn selbst der ausführlichste Kommentar nur noch für die Katz ist, wird ihr Wortlaut – sinnlos und unnütz schön – noch so geläufig zwitschern wie die Schnäbel der glücklich ungebildeten Vögel.
„Die Hundert-Euro-Frage: Warum betete man zur Heiligen Apollonia?”
„Das kalte Wissen panzert einen schutzbedürftigen warmen Kern.”
Arno Schmidt
Schwarze Spiegel
Mit einem Kommentar von Oliver Jahn. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 155 Seiten, 7 Euro.
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Für alle, die Robinson, RIAS und „Reader’s Digest” nicht mehr kennen: Der Literaturwissenschaftler Oliver Jahn kommentiert Arno Schmidts Erzählung „Schwarze Spiegel” Von Georg Klein
Es gibt starke Leser. Und es wird auch weiterhin jenen unbedarften, aber wagemutigen jungen Menschen geben, der ein Prosastück Arno Schmidts wie irgendeinen anderen Text, den ihm der Zufall oder die Schule in den Schoß wirft, einfach auf Teufel-komm-raus zu lesen beginnt.
Der Teufel, den ich meine, zeigt in Schmidts langer Erzählung „Schwarze Spiegel” schnell Schwanz und Hörner. Dem Ich-Erzähler, der als einsam Versprengter einen Atomkrieg überlebt hat, gefällt es nämlich, fremdsprachige Zitate unübersetzt und ohne Hinweis auf ihre Herkunft in seinen Bericht einzubauen: „Si, quis tota die currens, pervenit ad vesperam: satis est.” Wer diese Spruchweisheit nicht verstand, musste sich, bevor die nun vorliegende kommentierte Ausgabe erschien, Aufklärung im Internet suchen.
Aber auch alle, die den nicht genannten Francesco Petrarca einen guten Mann sein lassen und ebenso leichtfertig über die folgenden lateinischen, englischen, französischen, italienischen und spanischen Zitate hinweglesen, entkommen der Zwickmühle der Unwissenheit nicht. Das Tagebuch dieses postapokalyptischen Robinson stellt sie Seite für Seite auf dichtgestaffelte Proben. Man könnte dieses Verfahren im Zeitalter der Quiz-Shows humorig nehmen und eine Skala von Schwierigkeitsgraden aufstellen. Zehn-Euro-Frage: Wer war Odysseus? Hundert- Euro-Frage: Warum betete man zur Heiligen Apollonia? Und einen Tausender erringt derjenige, für den „Pneumatomache” kein böhmisches Dorf, sondern ein frühchristlicher Ketzer ist. Wäre Arno Schmidt eine Art Günther Jauch und „Schwarze Spiegel” ein Ratespiel, könnte man auf den neunzig Seiten der Erzählung mühelos zum Millionär werden – so man nur den Großen Brockhaus, das Grimmsche Wörterbuch und Büchmanns Geflügelte Worte auswendig im Kopf hat.
Aber selbst eine solche Universal-Koryphäe, deren Kenntniswurzeln in alle Winkel bürgerlicher Bildung wuchern, würde letztlich vor den Kopf gestoßen. Denn der Autodidakt Schmidt, dem kein Universitätsstudium vergönnt war, hat sich sich auf diversen Sondergebieten besonders tief in die Materie gegraben. Vergessene Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts, Wegbereiter der modernen Astronomie, Festungsbau und Ballistik! Wer außer einem ergrauten Arno-Schmidt-Forscher könnte auf all diesen Gebieten mit dem Autor mithalten? Allerspätestens, wenn der seinen Erzähler bei der Beschreibung fliegender Vögel die Formel zur Berechnung der Drehzahl einer Granate zitieren lässt, bricht jeder Leser in die Knie – es sei denn, er hätte gleich Schmidt bei der Artillerie der verflossenen Wehrmacht gedient und das einst in der Ausbildung Gepaukte noch immer parat.
Wie packt man es also an, wenn man einen Text von Arno Schmidt für Jedermann kommentieren will? Oliver Jahn, Literaturwissenschaftler und Kritiker, geht von den Lesern aus, mit denen heutzutage in einem Deutschleistungskurs oder in einem germanistischen Proseminar zu rechnen ist. Folglich macht er es gründlich. Am Seitenrand des Erzählungstextes finden sich gut 150 kurze Worterklärungen, dazu kommen knapp 200 ausführliche Erläuterungen im Anmerkungsteil. Falls man das Gymnasium vor zwanzig oder dreißig Jahren absolviert hat, mag man darüber staunen, was inzwischen nicht mehr als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden kann. Muss man wirklich erklären, was ein „Vließ”, ein „Vagant” oder eine „Karawanserai” ist? Brauchen „Herkules”, „Ikarus” und „Robinson” eine eigene Anmerkung? Kann man nicht von Grundkentnissen im Englischen und einem geschichtlichen Basiswissen ausgehen? Wer indes gelegentlich mit den gegenwärtigen Abiturienten und Literaturstudenten zu tun hat, wird die Genauigkeit des Kommentars keinesfalls für übertrieben kleinlich halten.
Jahn weiß auch, dass es nicht genügt, den gesunkenen Kenntnisstand in Sachen Mythologie, Literatur und Historie zu bedenken. Die Handlung von „Schwarze Spiegel” spielt in einem Europa, das von ABC-Waffen entvölkert wurde. Aber da das große Abschlachten um 1955 stattgefunden hat, zeigt die Welt, die der Überlebende durchstreift, das Inventar dieser Epoche. In der vergangenen Zukunft Schmidts führte eine „Tommy-Brücke” über den Fluss, man floh aus dem Alltag in die Lektüre von „Reader’s Digest” und lauschte dem Berliner „RIAS” im Radio. Wie alt muss man heute sein, um aus dem „Tommy” den britischen Soldaten, aus dem „Schupo” den Polizisten, aus dem „Abort” die Toilette und aus dem Wortspiel „Umstandswauwau” noch den „Anstandswauwau” herausklingen zu hören? Die vierzig Jahre, die auch der Held Schmidts auf dem Buckel hat, sollten es sicherheitshalber schon sein.
Der vielleicht größte Gewinn dieser so sorgfältig kommentierten Ausgabe liegt darin, dass sie auch das Welt- und Wortwissen des gebildeten und erfahrenen Lesers zu etwas Bedenkenswertem, ja zu etwas in seinem Wert Fragwürdigem macht. Wer ist mehr zu loben: Derjenige, der „La donna è mobile” als den Beginn einer Verdi-Arie erkennt, oder der, der weiß, woher der Vers „Ich küsse ihre Hand, Madame” stammt? Schmidts letzter Mensch, der wie ein Trapper mit Flinte und Rucksack durch ein verwilderndes Norddeutschland schweift, kennt beides. Aber er ist sich zumindest im ersten Teil der Erzählung – bitter-sicher, dass er in Zukunft weder mit der einen noch mit der anderen Wissensfrucht Staat machen kann, dass beide Lieder, der schlichte Schlager wie die raffinierte Arie, mit ihm das Zeitliche segnen werden.
Man mag Schmidts Vorgehen für üble Bildungshuberei halten. Der Kritiker und Dichter Hans Egon Holthusen hat dem gleichaltrigen Kollegen schon 1951, im Erscheinungsjahr der Erzählung, nicht ohne Grund vorgeworfen, seine Prosa sei „mit Literatur und gebildeter Reminiszenz, mit fremdsprachlichen Zitaten und Redensarten geradezu verseucht.” Aber mindestens ebenso berechtigt ist der Verdacht, dass das scheinbar besserwisserische Verfahren in Wirklichkeit den gültigen Ausdruck einer großen, humanen Sehnsucht darstellt. Das kalte Wissen panzert einen schutzbedürftigen warmen Kern. Als im zweiten Teil der Erzählung eine nomadisierende Frau auftaucht, beginnt eine anrührend spröde, schmerzlich zarte Liebesgeschichte. Der provokant trutzige Tagebuchschreiber wandelt auf Freiersfüßen. Wie wirbt man nach der Apokalypse um seine Liebste? Nun, wie einst im Mai, indem man ihr die ganze Welt in Worten zu Füßen legt.
„Worte meine einzigen Kenntnisse.”, sagt er kurz und bündig, als ihm seine Lisa auf den Zahn fühlt und wissen will, warum er überhaupt noch schreibt. Dabei an mögliche Leser zu denken, weist er empört zurück. Aber alles, was er über und für die Geliebte in Worte fasst, sein ganzes intimes Weltopfer, vollzieht sich, wie es sich für die Literatur gehört, vor den Augen just jener geschmähten Leserschaft. Und alle Kenntnisse, die der Autor und sein wesensverwandter Erzähler aufbieten, haben dabei unverkennbar dienenden Charakter. Das Wissen wird die Magd der Liebe. Wie fromm und demütig es seinen Dienst verrichtet, mag folgende Passage andeuten, in der der Erzähler Lisa bei der Morgentoilette zur Hand geht: „Ich gab gewissenhaft jede gewünschte Auskunft, stellte auch das gefüllte Aluminiumwännchen auf den Hocker in der Küche, und floh dann ein bißchen den Weg auf und ab : cibiat ischtinem : es waren doch keine größeren Flächen zu waschen (aber kompliziertere fiel mir ein, fiel mir ein; ...”
Der wortgewaltige Erzähler stottert. Und sein Kommentator Oliver Jahn vermerkt zu „cibiat ischtinem” in verschämt philologischer Diktion: „Nicht ermittelt.” Weiß er es wirklich nicht? Auch ich will auf nacktem Zeitungspapier nicht spekulieren, was die bestimmt heikel-delikate Wendung bedeuten könnte. Stattdessen behaupte ich, ohne jede Erläuterung, nur noch: Diese Erzählung ist ein hinreißendes Stück Literatur, ein Meisterwerk der deutschen Sprache. Und sogar wenn sich ihr steiles, ihr nur scheinbar hochmütiges Firmament aus Weltwissen eines Tages völlig verdunkelt hat, wenn selbst der ausführlichste Kommentar nur noch für die Katz ist, wird ihr Wortlaut – sinnlos und unnütz schön – noch so geläufig zwitschern wie die Schnäbel der glücklich ungebildeten Vögel.
„Die Hundert-Euro-Frage: Warum betete man zur Heiligen Apollonia?”
„Das kalte Wissen panzert einen schutzbedürftigen warmen Kern.”
Arno Schmidt
Schwarze Spiegel
Mit einem Kommentar von Oliver Jahn. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 155 Seiten, 7 Euro.
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