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Wer kennt nicht Alices Abenteuer im Wunderland mit dem weißen Kaninchen, der Kartenkönigin oder dem Goggelmoggel? Ihr Schöpfer, Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll (1832 - 1898) ist dagegen unauffällig geblieben. Der Erzähler phantasievoll-vertrackter Geschichten war Dozent für Mathematik in Oxford und beliebter Porträtfotograf vor allem junger Mädchen. Sein -Doppelleben- zwischen öffentlichen Erfolgen und geheimen Wünschen blieb im Widerspruch zur offiziellen Moral des viktorianischen England gefangen. In seiner Begeisterung für Technik und Medien war er jedoch seiner Zeit weit vorraus.…mehr

Produktbeschreibung
Wer kennt nicht Alices Abenteuer im Wunderland mit dem weißen Kaninchen, der Kartenkönigin oder dem Goggelmoggel? Ihr Schöpfer, Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll (1832 - 1898) ist dagegen unauffällig geblieben. Der Erzähler phantasievoll-vertrackter Geschichten war Dozent für Mathematik in Oxford und beliebter Porträtfotograf vor allem junger Mädchen. Sein -Doppelleben- zwischen öffentlichen Erfolgen und geheimen Wünschen blieb im Widerspruch zur offiziellen Moral des viktorianischen England gefangen. In seiner Begeisterung für Technik und Medien war er jedoch seiner Zeit weit vorraus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.1997

Bulletins aus dem Wunderland
Im Bann des Regelwerks: Eine Monographie zu Lewis Carroll

Die Welten der Fantasy und des Nonsense haben sich dem Zugriff des Computers gegenüber als besonders dankbar erwiesen. Nirgendwo blüht der Unsinn wie im Internet, und wer tiefer in die Geschichte der Datenverarbeitung hineinschaut, könnte auf die Idee kommen, Nietzsche umzuschreiben: Die Geburt des Computers aus dem Geiste des Nonsense. Der Nonsense hat eben eine stark abstrakt-theoretische, vielleicht auch binäre Komponente, und so ist es kein Wunder, daß Lewis Carrolls Wunderland nicht nur in viele, auch entlegenste Sprachen übersetzt wurde, sondern auch Kultbuch von Hackern und Techno-Wizards geworden ist.

Die Alice-Bücher des Oxforder Dons haben in den letzten hundert Jahren immer wieder fruchtbar gewirkt - auf die Surrealisten um Breton, auf Joyce und Nabokov ebenso wie auf Popmusiker und Chaosforscher. Ihr Überleben hat sich die kleine Alice bei den Kindern durch ihre Revolte gegen den Unsinn des Erwachsenseins, bei den Erwachsenen durch die zahlreichen zitierfähigen Paradoxien gesichert, mit denen mathematische und naturwissenschaftliche Bücher sich schmücken.

Wie das Buch bei Kindern und Wissenschaftlern fortlebt, so führte sein Autor ein Doppelleben. Auf der einen Seite bevölkerte er sein Wunderland mit Exzentrikern, verrückten Mathematikern und anderen melancholischen Tieren. Auf der anderen Seite, im Leben nämlich, wäre er, wie Chesterton einmal schrieb, auf jeden losgegangen, der auf der falschen Wiese spazierte. Aber Logik und Absurdität sind eben zwei Seiten derselben Münze, die Ordnung heißt und die uns gerade im zwanzigsten Jahrhundert vertraut abgründig geworden ist. Von Kafka etwa könnte diese Beschreibung einer Unterrichtssituation sein, die Carroll in einem Brief mitteilt: "So sitze ich also in der äußersten Ecke des Zimmers; vor der Tür (die geschlossen ist) sitzt der Diener; vor der äußeren Tür (ebenfalls geschlossen) sitzt der Unter-Diener; eine halbe Treppe tiefer sitzt der Unter-Unter-Diener; und draußen im Hof sitzt der Schüler. Die Fragen werden von einem zum anderen gebrüllt, und die Antworten kommen genauso zurück." Distanz und Nähe, Gebrüll und Flüstern, das sind die Koordinaten, mit denen sich Thomas Kleinspehn in seiner Biographie auseinandersetzt.

Lewis Carroll, der eigentlich Charles Lutwidge Dodgson hieß, wollte Kind bleiben und mußte doch ein anstrengendes Erwachsenenleben führen, das von Gehemmtheit und Stottern geprägt war. Mark Twain, der ihn einmal traf, beschrieb ihn als einen der stillsten und schüchternsten Menschen, die er kannte. Der Rückzug in die innere Kindheit mag viele Gründe gehabt haben, etwa, wie der Biograph vermutet, das Aufwachsen mit vier Schwestern oder die frühe Übernahme von Verantwortung. Aber es muß noch mehr hinzukommen, das sich wohl nicht ergründen läßt. Jedenfalls verlor er immer Stottern und Schüchternheit, wenn er mit kleinen Mädchen zusammen war und mit ihnen fantastische Szenarien und Geschichten entwickelte. So muß man auch die Alice-Bücher als gemeinsames Werk von Carroll mit einigen Kindern ansehen.

Ein weiterer Bereich, der ihm Fluchtraum bot, waren neue Technologien und Medien, Eisenbahn und Fotografie. Mit elf entwickelte er in dem isolierten Pfarrhaus, in dem er aufwuchs, ein Eisenbahnspiel, das nach festen Regeln ablief, wie überhaupt Regelwerk und Ritual dazu dienten, das emotionale Chaos zu beherrschen. Kleinspehn, der ein anregendes Buch über das Sehen in der Neuzeit verfaßt hat ("Der flüchtige Blick", 1989), geht denn auch den Spuren dieser Technikbegeisterung nach, die wiederum im Kontrast stehen zur konservativen Haltung Carrolls gegenüber den Naturwissenschaften, die er nicht als universitäres Fach in Oxford akzeptieren wollte.

Carroll war nicht nur einer der ersten, sondern auch einer der bedeutendsten Vertreter der Fotografie. Seine liebsten Objekte waren Prominente, Tierskelette und kleine Mädchen. In der Verfolgung der ersteren - zu seiner Beute gehörten Präraffaeliten, Ruskin, MacDonald und Thackeray - erwies er sich als ebenso strategisch und hartnäckig wie bei der Jagd auf vorpubertäre Mädchen. Die Mütter hatten oft nichts dagegen, wenn er ihre Töchter spärlich bekleidet oder gar nackt ablichtete. Die viktorianische Prüderie zog andere Sehgrenzen. Aber zu Brüchen und Hausverboten kam es auch.

Carroll entwickelte mit der Zeit eine Obsession. Er näherte sich fremden Mädchen und verführte sie mit Geschenken und Geschichten zu Fototerminen. Allein für das Jahr 1863 finden sich 102 Mädchen aufgelistet, mit denen er in Kontakt getreten war. Der Blick des Fotografen wandert unablässig zwischen Unschuld und (wohl nie eingelöster) Sexualität hin und her. Am 15. Juli 1889 aber findet das Fotografieren abrupt ein Ende; wir wissen bis heute nicht, warum. Aber wie in den vielen englischsprachigen Biographien bleibt Carroll/Dodgson letztlich auch in dieser Lebensbeschreibung fern und kühl wie die Schachbretter, Spiegelwelten und Paradoxien, die er entwarf; wie jene Katze im Wunderland, deren Körper längst verschwunden ist, während ihr Grinsen weiter in der Luft schwebt und uns ein Rätsel aufgibt. ELMAR SCHENKEL

Thomas Kleinspehn: "Lewis Carroll". Rowohlts Monographien.Rowohlt Verlag, Reinbek 1997. 160 Seiten, Abb., br., 12,90 DM.

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