Großartig und bewegend: Per Olov Enquist erzählt die Geschichte der schwedischen Pfingstbewegung: Lewi Petrus - der Gründer - und Sven Lidmann - der Verkünder, Schriftsteller und Dichter der Gemeinschaft - könnten unterschiedlicher nicht sein. Und doch erschaffen beide eine der größten Glaubensbewegungen des 20. Jahrhunderts. Ein Roman über Freundschaft, Leidenschaft, Macht und Machtmissbrauch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003Gottes ungleiche Zwillinge
Alte Schweden: Per Olov Enquist auf den Spuren der Pfingstbewegung / Von Felicitas von Lovenberg
Die entscheidende Frage stellt der Erzähler sich erst am Schluß: "Wie erklärt man die Köpfe, das Denken. Damit ist es wie mit der Liebe. Sie sind unmöglich zu erklären. Aber wer wären wir, wenn wir es nicht versuchten." Das Unmögliche erklären, das Entrückte von nahem betrachten und das Vereinzelte beispielhaft machen: Darum geht es in Per Olov Enquists neuem Buch "Lewis Reise", das sich Roman nennt, aber eigentlich keiner ist. In einer gewagten, mitunter fulminanten Mischung aus theologischem Essay, journalistischer Recherche, zweifelndem Selbstgespräch und historischem Drama von Shakespearschen Ausmaßen schildert es die Geschichte von Lewi Pethrus, dem Gründer der schwedischen Pfingstbewegung, und seinem Gefährten im Glauben, dem Poeten Sven Lidman. Es ist eine schwierige, spannungsreiche und sonderbare Geschichte, die den Autor so gepackt hat, daß er sie über Jahre erforschte.
Per Olov Enquist, einer der bedeutendsten europäischen Erzähler der Gegenwart, hat uns anhand der Verstrickungen, Motivationen und Lebensläufe seiner unterschiedlichen Protagonisten stets auch sein Land erklärt. Diesmal tut er es unumwundener denn je. Für sein Tableau Schwedens im zwanzigsten Jahrhundert hat er zwei ebenso ungewöhnliche wie fragwürdige Persönlichkeiten ausgesucht. Der Arbeiterjunge Lewi Pethrus stellt sich 1910 an die Spitze einer Erweckungsbewegung, die durch ihn zur Volksbewegung, zu einem geistlichen Imperium mit eigener Kirche, eigenen Zeitungen, später auch mit einem Radiosender und einer Bank wird. In der Tat: Will man die schwedische Gesellschaft verstehen, kann man vielleicht mit ihm anfangen. Doch wie alle einflußreichen Führer und Enquist-Figuren ist auch Lewi Pethrus nicht denkbar ohne ein Pendant, einen Gegenspieler, der zunächst sein Freund, dann sein Partner und schließlich zu seinem Herausforderer wird: der Dichter Sven Lidman, der 1921 der Pfingstgemeinde beitritt und durch seine Arbeit als Redakteur des "Evangelii Härold" rasch zur rhethorischen Geheimwaffe der Bewegung wird.
"Lewis Reise" stellt die Summe aller Bücher dar, die Per Olov Enquist bisher geschrieben hat; die Bezüge etwa zu "Kapitän Nemos Bibliothek", dem "Fünften Winter des Magnetiseurs" und, vor allem, zum "Besuch des Leibarztes" sind aufschlußreich. Nun ist das Ganze nicht immer größer als die Summe seiner Teile. Möglich, daß dies das "kühnste" Buch Enquists ist, wie an anderer Stelle geschrieben wurde, mancher mag es auch für das stilistisch raffinierteste halten. Ganz gewiß ist es Enquists persönlichstes Werk. Denn der Ich-Erzähler im Hintergrund ist der Schriftsteller selbst, der sich nach dem Tod seiner Mutter mit den Ursprüngen ihres radikalen Pietismus auseinandersetzt und von dem Lebensbericht eines gewissen Efraim Markström, eines entfernten Verwandten, auf die Spur der Pfingstbewegung gesetzt wird. Diese Sekte, die innerhalb eines Jahrhunderts von einer Gruppierung zur Weltgemeinschaft anschwoll, hatte in Europa vor allem in Norwegen und Schweden Erfolg, anders als in Deutschland, wo das Thema denn auch etwas abseitig erscheint. Nicht umsonst hat der Verlag einen Beiband zu "Lewis Reise" herausgebracht, der beifällige Stimmen aus der skandinavischen Presse, eine Erklärung des Autors und eine Erläuterung zum Verständnis der Pfingstbewegung in Schweden versammelt.
Enquist entwickelt das Panorama der religiösen Volksbewegung aus den Biographien von Lewi Pethrus und Sven Lidman, diesen ungleichen "Zwillingen Gottes", und ihres loyalen Gefolgsmanns Efraim Markström, der die Widersprüchlichkeiten der Bewegung schließlich am eigenen Leib erfährt. Doch während literarische Biographien geistlicher Führer sonst danach trachten, das Erfolgsgeheimnis zu lüften und zu deuten, bleibt "Lewis Reise" nüchtern - so nüchtern, daß sich der Reiz dieser Erweckungsbewegung, welche die Menschen zeitweilig zu Tausenden anzog, nie recht nachvollziehen läßt. Zwar beschreibt Enquist die Geisttaufe, das Zungenreden, die Ekstasen der Gemeinde, doch da der Erzähler selbst skeptisch bleibt, ist auch der Leser eher mild erstaunt als fasziniert. Das liegt nicht nur an der Ausführlichkeit, mit der Enquist einige Episoden schildert und über anderes hinweghuscht, sondern vor allem am Ton. "Lewi war, wie gesagt, ein anderer." Absatz. "Wer war er denn." Da steht kein Fragezeichen, da ist kein Drängen zu spüren, auch kein wirkliches Verlangen danach, diese Fragen, die den Text durchsetzen, tatsächlich zu beantworten. "Immer umfassenderes soziales Wirken. Es wuchs." Solche mal resümierenden, mal zweifelnden Einschübe sagen wenig aus - anders als Sätze wie dieser: "Die Schlangen wurden immer länger, und da wurden die Gebete kürzer."
Enquist, schon als Biograph etwa von Selma Lagerlöf, Knut Hamsun oder Hans Christian Andersen auf der Suche nach dem innersten Antrieb, der Motivation, begreift Pethrus und Lidman als "zwei auf irgendeine Weise verbundene Planeten, die sich einander langsam nähern" - sehr langsam. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Da ist zunächst Pethrus, ein großes organisatorisches und strategisches Talent, ein begabter Prediger, der sozialdemokratisch denkt und seine Gefühle im Zaum hält, eine Krämerseele. Ihm gegenüber und doch nicht ganz auf gleicher Höhe steht die schillernde Figur des Dichters Lidman mit seinen Büchern, seinen Frauengeschichten, seinen "Frostschäden an der Seele".
Das größte Manko des Buchs ist eines, für das Enquist nichts kann: Beide Männer sind zutiefst unsymphatisch. Es müssen charismatische Figuren gewesen sein, doch auf dem Papier kann man es sich nicht vorstellen. Der eine riskiert, ja provoziert den Tod seiner Frau, um ihre Heilung später als Gottesbeweis anführen zu können; der andere ist ein Parasit, der nur den eigenen Vorteil sieht und durch sein "Brennen", das sich eher als Flackern liest, Menschen für sich einzunehmen weiß. Was fehlt - und hier wäre Enquist gefordert -, ist eine Erklärung, warum so viele Menschen, vor allem Frauen, an diese beiden Männer glaubten, sie sogar liebten. Schließlich war es wahrlich kein konsequenzloser, gemütlicher Glaube, den die Pfingstbewegung forderte: angefangen mit mystischen Erlebnissen wie Geisttaufe und Zungenreden, gehörte das öffentliche Bekenntnis persönlicher Erlebnisse, von Träume und Visionen vor der Gemeinde ebenso dazu wie ekstatische Inbrunst und strengste Verneinung der Sinnlichkeit. Nichts für Katholiken im Geiste oder im Temperament. Zwar wird immer wieder erwähnt, daß die Bewegung in die Schlagzeilen gerät und angefeindet wird, dabei aber stetig wächst und Gutes bewirkt. Doch welche gesellschaftliche Rolle diese Gemeinschaft spielte, die ja in erster Linie eine Bewegung der Arbeiterschicht war, vermag Enquist nicht zu veranschaulichen. Gewiß, Lidmans erste Frau, die einer wohlhabenden, liberalen Familie entstammt, ist entsetzt über dessen späteren Eintritt in die Pfingstgemeinde, doch der Grund dafür ist wohl weniger in der zutiefst umstrittenen Bewegung als in Lidmans Charakter zu suchen. Selbst der dramaturgische Höhepunkt des Buchs, der Konflikt zwischen Pethrus und Lidman - nicht zufällig ein Streit über die Schrift und das Schriftstellertum -, rührt nicht als das schmerzhafte Ende einer Lebensfreundschaft, das Enquist darin sieht, sondern wirkt nur wie die logische Konsequenz eines Machtkampfs zwischen zwei moralisch längst kompromittierten Männern. Efraim, so verzeichnet Enquist gegen Ende, vermißt die Barmherzigkeit, die sich die Bewegung einst auf die Fahnen geschrieben hatte. Der Leser vermißt die Seele - der Bewegung, ihrer Gründerväter, des Romans.
Denn auch Bücher sind geistige, spirituelle Führer: Den einen folgt man gern, anderen widerwillig gebannt, einigen mißtraut man oder verweigert ihnen gar den Gehorsam. Letztlich ist jeder mit seiner Lektüre so allein wie vor Gott. Per Olov Enquist ist ein wunderbarer Schriftsteller, von dem man glaubte, ihm überallhin folgen zu wollen. Diese Reise jedoch war zu beschwerlich, ihr Ziel zu entlegen. Vielleicht war aber auch der Glaube zu schwach.
Per Olov Enquist: "Lewis Reise". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt. Hanser Verlag, München 2003. 573 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alte Schweden: Per Olov Enquist auf den Spuren der Pfingstbewegung / Von Felicitas von Lovenberg
Die entscheidende Frage stellt der Erzähler sich erst am Schluß: "Wie erklärt man die Köpfe, das Denken. Damit ist es wie mit der Liebe. Sie sind unmöglich zu erklären. Aber wer wären wir, wenn wir es nicht versuchten." Das Unmögliche erklären, das Entrückte von nahem betrachten und das Vereinzelte beispielhaft machen: Darum geht es in Per Olov Enquists neuem Buch "Lewis Reise", das sich Roman nennt, aber eigentlich keiner ist. In einer gewagten, mitunter fulminanten Mischung aus theologischem Essay, journalistischer Recherche, zweifelndem Selbstgespräch und historischem Drama von Shakespearschen Ausmaßen schildert es die Geschichte von Lewi Pethrus, dem Gründer der schwedischen Pfingstbewegung, und seinem Gefährten im Glauben, dem Poeten Sven Lidman. Es ist eine schwierige, spannungsreiche und sonderbare Geschichte, die den Autor so gepackt hat, daß er sie über Jahre erforschte.
Per Olov Enquist, einer der bedeutendsten europäischen Erzähler der Gegenwart, hat uns anhand der Verstrickungen, Motivationen und Lebensläufe seiner unterschiedlichen Protagonisten stets auch sein Land erklärt. Diesmal tut er es unumwundener denn je. Für sein Tableau Schwedens im zwanzigsten Jahrhundert hat er zwei ebenso ungewöhnliche wie fragwürdige Persönlichkeiten ausgesucht. Der Arbeiterjunge Lewi Pethrus stellt sich 1910 an die Spitze einer Erweckungsbewegung, die durch ihn zur Volksbewegung, zu einem geistlichen Imperium mit eigener Kirche, eigenen Zeitungen, später auch mit einem Radiosender und einer Bank wird. In der Tat: Will man die schwedische Gesellschaft verstehen, kann man vielleicht mit ihm anfangen. Doch wie alle einflußreichen Führer und Enquist-Figuren ist auch Lewi Pethrus nicht denkbar ohne ein Pendant, einen Gegenspieler, der zunächst sein Freund, dann sein Partner und schließlich zu seinem Herausforderer wird: der Dichter Sven Lidman, der 1921 der Pfingstgemeinde beitritt und durch seine Arbeit als Redakteur des "Evangelii Härold" rasch zur rhethorischen Geheimwaffe der Bewegung wird.
"Lewis Reise" stellt die Summe aller Bücher dar, die Per Olov Enquist bisher geschrieben hat; die Bezüge etwa zu "Kapitän Nemos Bibliothek", dem "Fünften Winter des Magnetiseurs" und, vor allem, zum "Besuch des Leibarztes" sind aufschlußreich. Nun ist das Ganze nicht immer größer als die Summe seiner Teile. Möglich, daß dies das "kühnste" Buch Enquists ist, wie an anderer Stelle geschrieben wurde, mancher mag es auch für das stilistisch raffinierteste halten. Ganz gewiß ist es Enquists persönlichstes Werk. Denn der Ich-Erzähler im Hintergrund ist der Schriftsteller selbst, der sich nach dem Tod seiner Mutter mit den Ursprüngen ihres radikalen Pietismus auseinandersetzt und von dem Lebensbericht eines gewissen Efraim Markström, eines entfernten Verwandten, auf die Spur der Pfingstbewegung gesetzt wird. Diese Sekte, die innerhalb eines Jahrhunderts von einer Gruppierung zur Weltgemeinschaft anschwoll, hatte in Europa vor allem in Norwegen und Schweden Erfolg, anders als in Deutschland, wo das Thema denn auch etwas abseitig erscheint. Nicht umsonst hat der Verlag einen Beiband zu "Lewis Reise" herausgebracht, der beifällige Stimmen aus der skandinavischen Presse, eine Erklärung des Autors und eine Erläuterung zum Verständnis der Pfingstbewegung in Schweden versammelt.
Enquist entwickelt das Panorama der religiösen Volksbewegung aus den Biographien von Lewi Pethrus und Sven Lidman, diesen ungleichen "Zwillingen Gottes", und ihres loyalen Gefolgsmanns Efraim Markström, der die Widersprüchlichkeiten der Bewegung schließlich am eigenen Leib erfährt. Doch während literarische Biographien geistlicher Führer sonst danach trachten, das Erfolgsgeheimnis zu lüften und zu deuten, bleibt "Lewis Reise" nüchtern - so nüchtern, daß sich der Reiz dieser Erweckungsbewegung, welche die Menschen zeitweilig zu Tausenden anzog, nie recht nachvollziehen läßt. Zwar beschreibt Enquist die Geisttaufe, das Zungenreden, die Ekstasen der Gemeinde, doch da der Erzähler selbst skeptisch bleibt, ist auch der Leser eher mild erstaunt als fasziniert. Das liegt nicht nur an der Ausführlichkeit, mit der Enquist einige Episoden schildert und über anderes hinweghuscht, sondern vor allem am Ton. "Lewi war, wie gesagt, ein anderer." Absatz. "Wer war er denn." Da steht kein Fragezeichen, da ist kein Drängen zu spüren, auch kein wirkliches Verlangen danach, diese Fragen, die den Text durchsetzen, tatsächlich zu beantworten. "Immer umfassenderes soziales Wirken. Es wuchs." Solche mal resümierenden, mal zweifelnden Einschübe sagen wenig aus - anders als Sätze wie dieser: "Die Schlangen wurden immer länger, und da wurden die Gebete kürzer."
Enquist, schon als Biograph etwa von Selma Lagerlöf, Knut Hamsun oder Hans Christian Andersen auf der Suche nach dem innersten Antrieb, der Motivation, begreift Pethrus und Lidman als "zwei auf irgendeine Weise verbundene Planeten, die sich einander langsam nähern" - sehr langsam. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Da ist zunächst Pethrus, ein großes organisatorisches und strategisches Talent, ein begabter Prediger, der sozialdemokratisch denkt und seine Gefühle im Zaum hält, eine Krämerseele. Ihm gegenüber und doch nicht ganz auf gleicher Höhe steht die schillernde Figur des Dichters Lidman mit seinen Büchern, seinen Frauengeschichten, seinen "Frostschäden an der Seele".
Das größte Manko des Buchs ist eines, für das Enquist nichts kann: Beide Männer sind zutiefst unsymphatisch. Es müssen charismatische Figuren gewesen sein, doch auf dem Papier kann man es sich nicht vorstellen. Der eine riskiert, ja provoziert den Tod seiner Frau, um ihre Heilung später als Gottesbeweis anführen zu können; der andere ist ein Parasit, der nur den eigenen Vorteil sieht und durch sein "Brennen", das sich eher als Flackern liest, Menschen für sich einzunehmen weiß. Was fehlt - und hier wäre Enquist gefordert -, ist eine Erklärung, warum so viele Menschen, vor allem Frauen, an diese beiden Männer glaubten, sie sogar liebten. Schließlich war es wahrlich kein konsequenzloser, gemütlicher Glaube, den die Pfingstbewegung forderte: angefangen mit mystischen Erlebnissen wie Geisttaufe und Zungenreden, gehörte das öffentliche Bekenntnis persönlicher Erlebnisse, von Träume und Visionen vor der Gemeinde ebenso dazu wie ekstatische Inbrunst und strengste Verneinung der Sinnlichkeit. Nichts für Katholiken im Geiste oder im Temperament. Zwar wird immer wieder erwähnt, daß die Bewegung in die Schlagzeilen gerät und angefeindet wird, dabei aber stetig wächst und Gutes bewirkt. Doch welche gesellschaftliche Rolle diese Gemeinschaft spielte, die ja in erster Linie eine Bewegung der Arbeiterschicht war, vermag Enquist nicht zu veranschaulichen. Gewiß, Lidmans erste Frau, die einer wohlhabenden, liberalen Familie entstammt, ist entsetzt über dessen späteren Eintritt in die Pfingstgemeinde, doch der Grund dafür ist wohl weniger in der zutiefst umstrittenen Bewegung als in Lidmans Charakter zu suchen. Selbst der dramaturgische Höhepunkt des Buchs, der Konflikt zwischen Pethrus und Lidman - nicht zufällig ein Streit über die Schrift und das Schriftstellertum -, rührt nicht als das schmerzhafte Ende einer Lebensfreundschaft, das Enquist darin sieht, sondern wirkt nur wie die logische Konsequenz eines Machtkampfs zwischen zwei moralisch längst kompromittierten Männern. Efraim, so verzeichnet Enquist gegen Ende, vermißt die Barmherzigkeit, die sich die Bewegung einst auf die Fahnen geschrieben hatte. Der Leser vermißt die Seele - der Bewegung, ihrer Gründerväter, des Romans.
Denn auch Bücher sind geistige, spirituelle Führer: Den einen folgt man gern, anderen widerwillig gebannt, einigen mißtraut man oder verweigert ihnen gar den Gehorsam. Letztlich ist jeder mit seiner Lektüre so allein wie vor Gott. Per Olov Enquist ist ein wunderbarer Schriftsteller, von dem man glaubte, ihm überallhin folgen zu wollen. Diese Reise jedoch war zu beschwerlich, ihr Ziel zu entlegen. Vielleicht war aber auch der Glaube zu schwach.
Per Olov Enquist: "Lewis Reise". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt. Hanser Verlag, München 2003. 573 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Väter der schwedischen Pfingstbewegung
In seinem neuen Roman setzt sich Per Olov Enquist mit der schwedischen Pfingstbewegung und ihren beiden Führern auseinander.
Eigentlich sind sie sich gar nicht sehr ähnlich: der strenge, glatt gekämmte Lewi Pethrus und der charmante, leichtsinnige, dekadente Dichter Sven Lidmann. Doch als "Zwillinge im Geiste" machen sie die Pfingstbewegung in Schweden groß, die bis heute zur drittgrößten christlichen Gemeinschaft weltweit wuchs.
Der Verkünder
Lewi Pethrus, der Vater der schwedischen Pfingstbewegung, wird am 11. März 1884 in Västra Tunhem, Älvsborg geboren. Seine berufliche Karriere beginnt der Sohn einer armen Arbeiterfamilie als Schäferjunge. Nach seiner Ausbildung zum Schuhmacher, organisiert er sich in der Gewerkschaft. Begeistert von den Gedanken und Ideen der Arbeiterbewegung fühlt sich Lewi zu höherem berufen. Er will eine eigene Bewegung gründen und hält seine ersten Predigten. Die schwedische Pfingstbewegung hat das Licht der Welt erblickt. In ihr sieht Lewi Pethrus unter anderem eine Möglichkeit, sozialen Missständen entgegenzuwirken. Der Arbeitersohn, der mit den ärmsten Verhältnissen Schwedens gut vertraut ist, organisiert Wohnheime und Essensausgaben für Obdachlose.
Der Dichter
Sven Lidman, heute ein berühmter Schriftsteller, wird am 30. Juni 1881 geboren und stammt aus einem Pastorengeschlecht. Bevor er mit vierzig Jahren der Pfingstbewegung beitritt, entwirft er zahlreiche Lebenskonzepte. Sven Lidman wächst bei seiner verwitweten Mutter in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften durchläuft er eine Offiziersausbildung und avanciert dann zum Jet-Setter und Enfant terrible der kulturellen und finanziellen Elite Stockholms. Durch seine Heirat mit einer Millionärstochter gehört Sven Lidman bald zu Schwedens oberster Gesellschaftsschicht. Nach nur wenigen Jahren distanziert er sich wieder von der Oberklasse und der Art ihrer Lebensführung. Er lässt sich scheiden und wendet sich der Religion zu. In die Pfingstbewegung bringt sich Lidmann als charismatischer Prediger ein.
Eine Freundschaft zerbricht
Aber nach und nach verwandelt sich die Bewegung, die immer mehr Anhänger - v.a. Frauen findet - in ein fundamentalistisches Unternehmen. Aus einer zentrumslosen Vereinigung wird eine von der Spitze aus regierte Theokratie, mit ansehnlichem Vermögen, eigener Tageszeitung und politischen Zielen. Lidmann erhebt sich in den 40er Jahren gegen Lewis autokratische Führung. Daran zerbricht die Freundschaft zwischen Lidmann und Lewi. Lidmann wird, wie schon vorher andere Zweifler und Zauderer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. "Die Spalter müssen aus dem Mund der Gemeinde ausgespien werden..." Lewi lässt sich von niemandem aufhalten.
Leidenschaftlich, illustrativ und genial
Per Olov Enquist neuer Roman erzählt die Geschichte der Erweckungsbewegung in Schweden und umgreift dabei die zentralen religiösen und politischen Fragen des 20. Jahrhunderts. Er erzählt nicht nur von den beiden charismatischen Führern Lewi und Lidmann, sondern auch vom Schicksal der kleinen Leute, von den unzähligen Frauen, die sich der Bewegung anschlossen, von den Männern, die sie führten, von Mystik und Selbstaufgabe, Zweifel und Trost. Enquist, selbst "ein Kind der Erweckungsbewegung", hat das Buch seiner Mutter gewidmet. Damit ist es sicherlich auch Enquists persönlichster Roman.
(Wibke Garbarukow)
In seinem neuen Roman setzt sich Per Olov Enquist mit der schwedischen Pfingstbewegung und ihren beiden Führern auseinander.
Eigentlich sind sie sich gar nicht sehr ähnlich: der strenge, glatt gekämmte Lewi Pethrus und der charmante, leichtsinnige, dekadente Dichter Sven Lidmann. Doch als "Zwillinge im Geiste" machen sie die Pfingstbewegung in Schweden groß, die bis heute zur drittgrößten christlichen Gemeinschaft weltweit wuchs.
Der Verkünder
Lewi Pethrus, der Vater der schwedischen Pfingstbewegung, wird am 11. März 1884 in Västra Tunhem, Älvsborg geboren. Seine berufliche Karriere beginnt der Sohn einer armen Arbeiterfamilie als Schäferjunge. Nach seiner Ausbildung zum Schuhmacher, organisiert er sich in der Gewerkschaft. Begeistert von den Gedanken und Ideen der Arbeiterbewegung fühlt sich Lewi zu höherem berufen. Er will eine eigene Bewegung gründen und hält seine ersten Predigten. Die schwedische Pfingstbewegung hat das Licht der Welt erblickt. In ihr sieht Lewi Pethrus unter anderem eine Möglichkeit, sozialen Missständen entgegenzuwirken. Der Arbeitersohn, der mit den ärmsten Verhältnissen Schwedens gut vertraut ist, organisiert Wohnheime und Essensausgaben für Obdachlose.
Der Dichter
Sven Lidman, heute ein berühmter Schriftsteller, wird am 30. Juni 1881 geboren und stammt aus einem Pastorengeschlecht. Bevor er mit vierzig Jahren der Pfingstbewegung beitritt, entwirft er zahlreiche Lebenskonzepte. Sven Lidman wächst bei seiner verwitweten Mutter in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften durchläuft er eine Offiziersausbildung und avanciert dann zum Jet-Setter und Enfant terrible der kulturellen und finanziellen Elite Stockholms. Durch seine Heirat mit einer Millionärstochter gehört Sven Lidman bald zu Schwedens oberster Gesellschaftsschicht. Nach nur wenigen Jahren distanziert er sich wieder von der Oberklasse und der Art ihrer Lebensführung. Er lässt sich scheiden und wendet sich der Religion zu. In die Pfingstbewegung bringt sich Lidmann als charismatischer Prediger ein.
Eine Freundschaft zerbricht
Aber nach und nach verwandelt sich die Bewegung, die immer mehr Anhänger - v.a. Frauen findet - in ein fundamentalistisches Unternehmen. Aus einer zentrumslosen Vereinigung wird eine von der Spitze aus regierte Theokratie, mit ansehnlichem Vermögen, eigener Tageszeitung und politischen Zielen. Lidmann erhebt sich in den 40er Jahren gegen Lewis autokratische Führung. Daran zerbricht die Freundschaft zwischen Lidmann und Lewi. Lidmann wird, wie schon vorher andere Zweifler und Zauderer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. "Die Spalter müssen aus dem Mund der Gemeinde ausgespien werden..." Lewi lässt sich von niemandem aufhalten.
Leidenschaftlich, illustrativ und genial
Per Olov Enquist neuer Roman erzählt die Geschichte der Erweckungsbewegung in Schweden und umgreift dabei die zentralen religiösen und politischen Fragen des 20. Jahrhunderts. Er erzählt nicht nur von den beiden charismatischen Führern Lewi und Lidmann, sondern auch vom Schicksal der kleinen Leute, von den unzähligen Frauen, die sich der Bewegung anschlossen, von den Männern, die sie führten, von Mystik und Selbstaufgabe, Zweifel und Trost. Enquist, selbst "ein Kind der Erweckungsbewegung", hat das Buch seiner Mutter gewidmet. Damit ist es sicherlich auch Enquists persönlichster Roman.
(Wibke Garbarukow)
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
""Zu beschwerlich" findet Rezensentin Felicitas von Lovenberg die Reise dieses Buchs, und "ihr Ziel zu entlegen". Vor allem vermisste sie die Seele: des Romans, aber auch seines Gegenstandes. Zwar erklärt Per Olov Enquist ihr mit seiner "gewagten, mitunter fulminanten Mischung aus theologischem Essay, journalistischer Recherche, zweifelndem Selbstgespräch und historischem Drama von Shakespeareschen Ausmaßen" sein Land "unumwundener denn je". Auch empfindet sie diese Geschichte der Gründer der schwedischen Pfingstbewegung als "ganz gewiss Enquists persönlichstes Werk", mit aufschlussreichen Bezügen auch zu anderen Enquist-Büchern. Doch dieses Buch krankt ihrer Beschreibung nach am Widerspruch, dass es "den Reiz dieser Erweckungsbewegung" nicht nachvollziehbar werden lässt. Zu nüchtern, zu ausführlich beschrieben, "kein Drängen" im Ton, "kein Fragezeichen", zählt die Rezensentin die Mankos des Buches auf, deren größtes in ihren Augen darin besteht, dass beide Protagonisten, Lidman und Lewi, zutiefst unsympathisch sind. Angesichts dieses Sachverhalts vermisst sie eine Erklärung des Autors, "warum so viele Menschen, vor allem Frauen, an diese beiden Männer glaubten, sie sogar liebten". Zweifel am Erfolg des Romans hierzulande hat sie aber auch wegen der Abseitigkeit des Themas selbst, woran, wie die Rezensentin vermutet, auch der vom Verlag herausgebrachte Begleitband mit Erklärungen und schwedischen Stimmen zum Roman, nicht viel ändern wird.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"Per Olov Enquists kühnster Roman. ... Es ist eine seiner großen Fähigkeiten, die Widersprüche im Einzelnen und in den Beziehungen der Personen, aber auch in historischen Ereignissen und Konstellationen aufzudecken. ... Eine bewundernswerte literarische Leistung!" Karl-Markus Gauß, Neue Zürcher Zeitung, 06.03.03
"Schwedens großer Schriftsteller Per Olov Enquist versteht es in seinem neuesten Roman "Lewis Reise" auf meisterhafte Weise, Interesse und Neugier, ja Wissbegier für die Pfingstbewegung zu entfachen ... faszinierend zu lesende Mischung aus Fakten und Fiktionen. ... Ungemein klug und behutsam ... faszinierende Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts." Jeanette Stickler, Rheinischer Merkur, 20.03.03
"Eine große Parabel über die Kraft des Glaubens, die Bereitschaft zum Opfer und die Verführbarkeit durch die Macht." Claus-Ulrich Bielefeld, Focus, 17.03.03
"Per Olov Enquists persönlichstes Buch ... ideenreich und ansprechend." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 16.04.03
"Wer in die theologischen Hinterwelten der Moderne, nicht nur in Schweden, blicken will, der muss dieses Buch lesen." Christoph Bartmann, Die Presse, 26.04.03
"Es gelingt ihm, jenen Zauber zu verbreiten, den nur er mit der typischen Prosamixtur aus Ironie, Pathos und knochentrockenem Registrieren von aberwitzigen Vorgängen zu verbreiten vermag. Diesen beißenden und im Leser schmerzhaft schön sich ausbreitenden Glanz bekommen seine Sätze immer, wenn er sich mit den Spielarten der Liebe unter verzückten Pfingstbewegten beschäftigt." Klaus Siblewski, Die Welt, 03.05.03
"Schwedens großer Schriftsteller Per Olov Enquist versteht es in seinem neuesten Roman "Lewis Reise" auf meisterhafte Weise, Interesse und Neugier, ja Wissbegier für die Pfingstbewegung zu entfachen ... faszinierend zu lesende Mischung aus Fakten und Fiktionen. ... Ungemein klug und behutsam ... faszinierende Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts." Jeanette Stickler, Rheinischer Merkur, 20.03.03
"Eine große Parabel über die Kraft des Glaubens, die Bereitschaft zum Opfer und die Verführbarkeit durch die Macht." Claus-Ulrich Bielefeld, Focus, 17.03.03
"Per Olov Enquists persönlichstes Buch ... ideenreich und ansprechend." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 16.04.03
"Wer in die theologischen Hinterwelten der Moderne, nicht nur in Schweden, blicken will, der muss dieses Buch lesen." Christoph Bartmann, Die Presse, 26.04.03
"Es gelingt ihm, jenen Zauber zu verbreiten, den nur er mit der typischen Prosamixtur aus Ironie, Pathos und knochentrockenem Registrieren von aberwitzigen Vorgängen zu verbreiten vermag. Diesen beißenden und im Leser schmerzhaft schön sich ausbreitenden Glanz bekommen seine Sätze immer, wenn er sich mit den Spielarten der Liebe unter verzückten Pfingstbewegten beschäftigt." Klaus Siblewski, Die Welt, 03.05.03