Die Angst ist ein Alleskönner, deshalb kennt sie jeder: Sie lähmt uns, sie hält uns den Spiegel vor, sie frisst uns auf, und sie befeuert uns. Dabei nimmt sie jede nur erdenkliche Gestalt an, lauert uns auf oder schlägt uns in die Magengrube. Annette Pehnt hat sie beobachtet und belauscht, sie kennt die Angst von A bis Z: Mit schriftstellerischer Leidenschaft nimmt sie alles auf in ihr "Lexikon der Angst", was das Leben zu bieten hat - von der Existenzangst bis zur Todesangst. Und in kurzen Geschichten lesen wir von leisen, lächerlichen, bestürzenden Momenten der Angst zwischen Müttern und Kindern, der Angst vor Tsunamis, der Finanzkrise und, natürlich, Fahrstühlen, Hunden und Einsamkeit.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ohne Angst ist in diesen Geschichten fast niemand, und so rät Kathleen Hildebrand denn auch davon ab, den Band von Annette Pehnt am Stück zu lesen. Es könnte Angst machen. Allerdings, so ganz treffend ist das alles nicht oder nicht mehr, wenn Pehnt in ordnenden "Mini-Exorzismen" von Ängsten erzählt, vor Milch, vor Stille, vor Aal. Wo bleiben Terror, Überwachung und Klimawandel, fragt sich die Rezensentin. Etwas gestrig auch Pehnts Sprache, die findet Hildebrand mitunter betulich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2013Die Furcht vor freundlichen Verwechslungen ist nicht zu unterschätzen
Therapie für Phobiephobiker: Annette Pehnt hat mit ihrem "Lexikon der Angst" einen der schönsten Erzählbände des Jahres vorgelegt. Es ist ein Reigen von fünfundvierzig kleinen Bewusstseinsnovellen.
Im ersten Moment stellt sich eine gewisse Skepsis ein. "Lexikon der Angst"? Hat jetzt auch Annette Pehnt die Zeit zwischen zwei Romanen dazu genutzt, die auf dem Buchmarkt erfolgreiche Form des "Lexikons" zu einem möglichst gewitzten Spezialthema zu bedienen? Bei der Lektüre dann die erfreuliche Einsicht: Die alphabetische Reihung ist nur ein Spiel, das Ordnung bei einem unordentlichen Thema vorgaukelt. In Wahrheit handelt es sich um einen der schönsten Erzählbände des Jahres, einen Reigen von fünfundvierzig kleinen Bewusstseinsnovellen, zusammengehalten vom Thema der Ängste, das eines der vielfältigsten ist.
Die alte, von Kierkegaard herkommende Definition, nach der Angst etwas Unbestimmtes sei im Gegensatz zur Furcht, die sich auf viele konkrete Dinge beziehen könne, wird ja schon durch den Gebrauch des Wortes in der Alltagssprache aufgeweicht, die zahlreiche Komposita mit "Angst" kennt. Wir leben im Zeitalter der Ängste.
Das Spektrum der 1967 in Köln geborenen Schriftstellerin, deren letzter Roman "Chronik der Nähe" im Jahr 2012 erschien, reicht von Phobien, Aversionen, Vermeidungsreaktionen und Zwängen, die die Betroffenen auf Dauer verkauzen lassen, bis zu sozialen Ängsten mit wahnhaften Ausbuchtungen. Da ist die Frau, die sich von ihrem Vermieter verfolgt glaubt und schließlich bestürzt feststellen darf, dass ihr der Mann offenbar die Unterwäsche aus der Waschmaschine im Keller stibitzt. Handelt es sich hier schon um eine Form der Angstlust wie in den Geschichten über die Taschendiebin oder den Mann, der notorisch seine Frau betrügt?
Die Frau in der Erzählung "Buch des Lebens" leidet an der Angst vor freundlichen Verwechslungen. Fremde beharren auf Vertrautheit, man kenne sich doch, habe vor längerer Zeit einen schönen Abend miteinander verbracht. Eine dieser Verwechslungsszenen, die die Frau in lächelnder Schreckstarre erduldet, spielt sich im Speisewagen ab. Ein Unbekannter nähert sich freudig, greift sie am Arm, steigert sich dann in eine fuchtelnde, verärgerte Suada, weil sie sich partout nicht erinnern will: "Diese Nacht, die kann keiner vergessen, die ist eingeschrieben ins Buch des Lebens." Hat sie die Seite im Buch ihres Lebens versehentlich überblättert? Es ist eine perfekte Kurzgeschichte, die an die Art erinnert, wie Botho Strauss in seinem Beobachtungskunstwerk "Paare, Passanten" Grimassen des Sozialen sezierte.
Die Geschichten springen mitten hinein ins Angstgeschehen. Das je spezifische Angstmotiv zwingt zur erzählerischen Konzentration, ohne Umschweife wird die Figur in ihrem wunden Punkt erwischt, und am Ende steht meist eine effektvolle Pointierung. Es verstärkt den Reiz, dass die Titel die jeweilige Angst nicht verraten, höchstens andeuten. "Knospen" zum Beispiel erzählt von einem Mann mit Frühlingsphobie: Er fürchtet "die flächendeckende Beglückung, wenn in jedem Café Leute ihre bleichen Gesichter verklärt lächelnd in die fahle Sonne recken".
Die großen, epochalen Ängste, die oft eher Hysterien sind, hat Annette Pehnt weiträumig umgangen. Die Ängste, die von Horrorroman oder Krimi bewirtschaftet werden, spielen keine Rolle, und auch die Paranoia - Angst ins System getrieben - bleibt Pynchon überlassen. Es geht hier stattdessen um die Furcht auf kleiner, dauerhafter Flamme, etwa um den Horror vor dem Schweigen mit anderen Menschen in geschlossenen Räumen. Oder um den Klassiker des Zwangsverhaltens: Habe ich die Herdplatte wirklich ausgemacht? Einige Ängste wirken allerdings ziemlich ausgedacht wie die Milchphobie oder die Schattenfurcht. Andere sind so allgemein und wuchtig wie die Angst, die jeder empfindet, wenn das eigene Kind operiert werden muss. Der Anblick all des jungen Elends in den Krankenzimmern zerrt an den Nerven der Mutter in der Geschichte "Hirn".
Annette Pehnt erzählt psychologisch genau, auch wenn sie die Ängste nicht psychologisch erklären und auflösen will. Die Angst ist kein Gegner; sie ist die Freundin des Erzählens, eine phantasietreibende Kraft. Die Dramaturgie des Angstgeschehens ist dabei immer wieder ähnlich: Eine Beunruhigung wächst sich aus zu einem Sog, der am Pfahlbau des Selbst zieht, bis die Schutzdämme versagen und der ganze Mensch weggeschwemmt wird.
Die Geschichten sind in der dritten Person verfasst, obwohl sie sich ins angstverseuchte Bewusstsein der Figuren einschreiben, in panischen Räsonnements, die gelegentlich zu Dreißig-Zeilen-Sätzen führen, wie in der Geschichte "Fort", in der ein Mann Horror vorm Autofahren hat und von Unfallphantasien heimgesucht wird. Eigentlich eine rationale Angst, denn die Verkehrstotenstatistik belegt, dass der Autoverkehr ein Bürgerkrieg mit schauerlichen Opferzahlen ist. Dann aber bietet die junge, attraktive Kollegin an, ihn zur Buchmesse in ihrem Wagen mitzunehmen, und der Mann ist in einen inneren Konflikt gestürzt, den kein vernünftiger Mensch aushält.
Angst vor Nähe ist ein Leitmotiv der Geschichten. Da ist die Frau, die nicht zweimal zum selben Friseur gehen kann, weil ihr die entstehende Intimität unerträglich ist. Da ist der Mann, dem jeder Vorwand recht ist, um dem Sex mit seiner Frau auszuweichen. "Schleim" handelt von einem Paar, in dessen Beziehung Fürsorge im Krankheitsfall nicht vorgesehen ist. Plötzlich bekommt der Mann eine Lungenentzündung, und als er nach Wochen zum ersten Mal die Freundin wieder anruft, sagt er in entschuldigendem Ton: "Ich war krank, schwer krank" - und will ausholen. Aber die Frau würgt seinen Leidensbericht ab: "Das dachte ich mir." Und geht zum gewohnten, unternehmungslustigen Beziehungsalltag über.
Annette Pehnt erweist sich als genuine Geschichtenerzählerin. Auch ihre Romane - "Mobbing" wurde gerade erst verfilmt - sind ja eher lakonisch veranlagt. Es weht durch sie nicht der große epische Atem, sondern der knappe Windstoß einer treffenden Szene, eines prägnanten Moments, eines psychologischen Schlaglichts. Für Phobophobiker - Menschen, die Angst vor der Angst haben - ist dieser Erzählband eine gute Konfrontationstherapie. Aber angstfrei ist keiner, und deshalb ist dies ein Lesevergnügen mit hohem Wiedererkennungswert.
WOLFGANG SCHNEIDER
Annette Pehnt: "Lexikon der Angst".
Piper Verlag, München 2013. 176 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Therapie für Phobiephobiker: Annette Pehnt hat mit ihrem "Lexikon der Angst" einen der schönsten Erzählbände des Jahres vorgelegt. Es ist ein Reigen von fünfundvierzig kleinen Bewusstseinsnovellen.
Im ersten Moment stellt sich eine gewisse Skepsis ein. "Lexikon der Angst"? Hat jetzt auch Annette Pehnt die Zeit zwischen zwei Romanen dazu genutzt, die auf dem Buchmarkt erfolgreiche Form des "Lexikons" zu einem möglichst gewitzten Spezialthema zu bedienen? Bei der Lektüre dann die erfreuliche Einsicht: Die alphabetische Reihung ist nur ein Spiel, das Ordnung bei einem unordentlichen Thema vorgaukelt. In Wahrheit handelt es sich um einen der schönsten Erzählbände des Jahres, einen Reigen von fünfundvierzig kleinen Bewusstseinsnovellen, zusammengehalten vom Thema der Ängste, das eines der vielfältigsten ist.
Die alte, von Kierkegaard herkommende Definition, nach der Angst etwas Unbestimmtes sei im Gegensatz zur Furcht, die sich auf viele konkrete Dinge beziehen könne, wird ja schon durch den Gebrauch des Wortes in der Alltagssprache aufgeweicht, die zahlreiche Komposita mit "Angst" kennt. Wir leben im Zeitalter der Ängste.
Das Spektrum der 1967 in Köln geborenen Schriftstellerin, deren letzter Roman "Chronik der Nähe" im Jahr 2012 erschien, reicht von Phobien, Aversionen, Vermeidungsreaktionen und Zwängen, die die Betroffenen auf Dauer verkauzen lassen, bis zu sozialen Ängsten mit wahnhaften Ausbuchtungen. Da ist die Frau, die sich von ihrem Vermieter verfolgt glaubt und schließlich bestürzt feststellen darf, dass ihr der Mann offenbar die Unterwäsche aus der Waschmaschine im Keller stibitzt. Handelt es sich hier schon um eine Form der Angstlust wie in den Geschichten über die Taschendiebin oder den Mann, der notorisch seine Frau betrügt?
Die Frau in der Erzählung "Buch des Lebens" leidet an der Angst vor freundlichen Verwechslungen. Fremde beharren auf Vertrautheit, man kenne sich doch, habe vor längerer Zeit einen schönen Abend miteinander verbracht. Eine dieser Verwechslungsszenen, die die Frau in lächelnder Schreckstarre erduldet, spielt sich im Speisewagen ab. Ein Unbekannter nähert sich freudig, greift sie am Arm, steigert sich dann in eine fuchtelnde, verärgerte Suada, weil sie sich partout nicht erinnern will: "Diese Nacht, die kann keiner vergessen, die ist eingeschrieben ins Buch des Lebens." Hat sie die Seite im Buch ihres Lebens versehentlich überblättert? Es ist eine perfekte Kurzgeschichte, die an die Art erinnert, wie Botho Strauss in seinem Beobachtungskunstwerk "Paare, Passanten" Grimassen des Sozialen sezierte.
Die Geschichten springen mitten hinein ins Angstgeschehen. Das je spezifische Angstmotiv zwingt zur erzählerischen Konzentration, ohne Umschweife wird die Figur in ihrem wunden Punkt erwischt, und am Ende steht meist eine effektvolle Pointierung. Es verstärkt den Reiz, dass die Titel die jeweilige Angst nicht verraten, höchstens andeuten. "Knospen" zum Beispiel erzählt von einem Mann mit Frühlingsphobie: Er fürchtet "die flächendeckende Beglückung, wenn in jedem Café Leute ihre bleichen Gesichter verklärt lächelnd in die fahle Sonne recken".
Die großen, epochalen Ängste, die oft eher Hysterien sind, hat Annette Pehnt weiträumig umgangen. Die Ängste, die von Horrorroman oder Krimi bewirtschaftet werden, spielen keine Rolle, und auch die Paranoia - Angst ins System getrieben - bleibt Pynchon überlassen. Es geht hier stattdessen um die Furcht auf kleiner, dauerhafter Flamme, etwa um den Horror vor dem Schweigen mit anderen Menschen in geschlossenen Räumen. Oder um den Klassiker des Zwangsverhaltens: Habe ich die Herdplatte wirklich ausgemacht? Einige Ängste wirken allerdings ziemlich ausgedacht wie die Milchphobie oder die Schattenfurcht. Andere sind so allgemein und wuchtig wie die Angst, die jeder empfindet, wenn das eigene Kind operiert werden muss. Der Anblick all des jungen Elends in den Krankenzimmern zerrt an den Nerven der Mutter in der Geschichte "Hirn".
Annette Pehnt erzählt psychologisch genau, auch wenn sie die Ängste nicht psychologisch erklären und auflösen will. Die Angst ist kein Gegner; sie ist die Freundin des Erzählens, eine phantasietreibende Kraft. Die Dramaturgie des Angstgeschehens ist dabei immer wieder ähnlich: Eine Beunruhigung wächst sich aus zu einem Sog, der am Pfahlbau des Selbst zieht, bis die Schutzdämme versagen und der ganze Mensch weggeschwemmt wird.
Die Geschichten sind in der dritten Person verfasst, obwohl sie sich ins angstverseuchte Bewusstsein der Figuren einschreiben, in panischen Räsonnements, die gelegentlich zu Dreißig-Zeilen-Sätzen führen, wie in der Geschichte "Fort", in der ein Mann Horror vorm Autofahren hat und von Unfallphantasien heimgesucht wird. Eigentlich eine rationale Angst, denn die Verkehrstotenstatistik belegt, dass der Autoverkehr ein Bürgerkrieg mit schauerlichen Opferzahlen ist. Dann aber bietet die junge, attraktive Kollegin an, ihn zur Buchmesse in ihrem Wagen mitzunehmen, und der Mann ist in einen inneren Konflikt gestürzt, den kein vernünftiger Mensch aushält.
Angst vor Nähe ist ein Leitmotiv der Geschichten. Da ist die Frau, die nicht zweimal zum selben Friseur gehen kann, weil ihr die entstehende Intimität unerträglich ist. Da ist der Mann, dem jeder Vorwand recht ist, um dem Sex mit seiner Frau auszuweichen. "Schleim" handelt von einem Paar, in dessen Beziehung Fürsorge im Krankheitsfall nicht vorgesehen ist. Plötzlich bekommt der Mann eine Lungenentzündung, und als er nach Wochen zum ersten Mal die Freundin wieder anruft, sagt er in entschuldigendem Ton: "Ich war krank, schwer krank" - und will ausholen. Aber die Frau würgt seinen Leidensbericht ab: "Das dachte ich mir." Und geht zum gewohnten, unternehmungslustigen Beziehungsalltag über.
Annette Pehnt erweist sich als genuine Geschichtenerzählerin. Auch ihre Romane - "Mobbing" wurde gerade erst verfilmt - sind ja eher lakonisch veranlagt. Es weht durch sie nicht der große epische Atem, sondern der knappe Windstoß einer treffenden Szene, eines prägnanten Moments, eines psychologischen Schlaglichts. Für Phobophobiker - Menschen, die Angst vor der Angst haben - ist dieser Erzählband eine gute Konfrontationstherapie. Aber angstfrei ist keiner, und deshalb ist dies ein Lesevergnügen mit hohem Wiedererkennungswert.
WOLFGANG SCHNEIDER
Annette Pehnt: "Lexikon der Angst".
Piper Verlag, München 2013. 176 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die ganze Palette menschlicher Angst-Entfaltung kommt in diesem Lexikon zu Wort - verstörend, bisweilen amüsant, erschreckend und mit Wiedererkennungswert.", Nürnberger Nachrichten, 30.11.2013 20151120
»Einer der schönsten Erzählbände des Jahres, ein Reigen von fünfundvierzig kleinen Bewusstseinsnovellen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung 20131028