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  • ISBN-13: 9783579002644
  • Artikelnr.: 24401577
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.1999

Wer treibt, braucht Halt
Das Lexikon der Bioethik bemüht sich um moralischen Beistand

"Bioethik" steht auf dem Rettungsring, den die akademische Küstenwacht im Strom des biomedizinischen Fortschritts bereithält. Solche Schwimmhilfen sind ambivalent: Sie halten über Wasser, tragen aber mit der Strömung fort. Gibt es kein Halten mehr? Die Görres-Gesellschaft wirft uns hilflos Treibenden nun einen neun Pfund schweren Rettungsanker zu.

Gewicht und Umfang verdankt das dreibändige Lexikon einem Maximalbegriff von Bioethik: Dem Wortsinne folgend wird darunter "die ethische Reflexion über jene Sachverhalte verstanden, die den verantwortlichen Umgang des Menschen mit Leben betreffen". Wir finden daher unverhofft ein veritables Umweltlexikon integriert, das mit "Abfallwirtschaft", "Abgasreinigung" und "Abwasserreinigung" gleich sechsunddreißig Spalten füllt. Im Zentrum bioethischer Diskussionen stehen gewöhnlich moralrelevante Fragen der Medizin sowie der Medizin- und Biotechnik. So ist das vieldiskutierte Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates weithin als "Bioethik-Konvention" geläufig. Doch schon die 1978 von Warren Thomas Reich herausgegebene "Encyclopedia of Bioethics" hatte den Begriff weiter gefaßt. Die zweite Auflage von 1995, deren Einleitung sich ausdrücklich gegen eine Verengung auf den Bereich biomedizinischer Ethik wendet, enthält Artikel über "bedrohte Arten und Biodiversität", "nachhaltige Entwicklung" oder "Rasse und Rassismus". Es stimmt also nur bedingt, wenn Mitherausgeber Wilhelm Korff für den angloamerikanischen Sprachraum behauptet: "Bioethics meint Medical Ethics." Im übrigen hätte es der Einführung gut angestanden, die "Encyclopedia" zu erwähnen.

Der Versuch, die "klassischen" bioethischen Themen nun auf einen Gesamtzusammenhang menschlichen Handelns zu verweisen und aus dem Ghetto einer Bereichsethik mit isolierter Kasuistik zu holen, überzeugt dort, wo sozialethische Aspekte umfassend berücksichtigt werden. Ob der "Verschränkung der jeweils wahrnehmbaren Verantwortung" schon dadurch Rechnung getragen wird, daß mit der Einbeziehung von Humanökologie und Umweltschutz "Keimbahnintervention" neben "Kernenergie" und "Raumordnung" neben "Reanimation" steht, darf indes bezweifelt werden. Lexikalische Nachbarschaft stiftet noch keinen inneren Zusammenhang, und die fast uferlose Ausweitung des Gegenstandsbereichs erhöht nicht den ethischen Tiefgang. Schlußbemerkungen wie die zur Abwasserreinigung, daß sich "die bioethischen Postulate . . . auf Leitlinien und Rahmensetzungen beschränken müssen, nicht hingegen einzig richtige Problemlösungen vorgeben können", wirken wie der unbeholfene Versuch, dem Titel des Lexikons irgendwie gerecht zu werden.

Angesichts mehrspaltiger Einträge zu Realien wie "Asbest" und "Dioxine" darf man erwarten, über medizinethisch relevante Sachverhalte ähnlich detailliert informiert zu werden. Nehmen wir die als Veitstanz bekannte Erbkrankheit Chorea Huntington. In der Diskussion um Genomanalysen ist sie ein beliebtes Beispiel. Einen Artikel darüber sucht man hier vergebens, und während unter "Schwermetalle" die wichtigsten toxischen Metalle beschrieben sind, fehlt eine vergleichbare Übersicht bei "Erbkrankheiten", wo man Auskunft über Chorea Huntington erhofft hätte.

Auch das Sachregister hilft nicht zielgerichtet weiter. Es listet zwar akribisch Tausende von Fundstellen auf, bietet aber so gut wie keine Querverweise. Man wird also unter "Islam" nicht ausdrücklich auf das entsprechende Kapitel im Artikel "Religionen und Bioethik" hingewiesen. Da auch eine Liste der Artikel fehlt, kann die Suche nach dem einschlägigen Beitrag recht mühsam werden, zumal das weite Themenspektrum den Zugriff nicht erleichtert. Das Beispiel Chorea Huntington (knapp dargestellt schließlich unter "Humangenetik") ist übrigens kein Einzelfall: Die Alzheimer-Krankheit wird ebenfalls nicht eigens beschrieben, nicht einmal unter "Demenz", was lexikographisch sinnvoll wäre, sondern beiläufig unter "Alter/Altern", wohin eine von siebzehn nachzuschlagenden Registerstellen führt.

Nicht nur das wenig hilfreiche Verweissystem ist der Redaktion anzulasten. Die Literaturangaben sind sehr uneinheitlich, mal handelt es sich um echte Literaturhinweise, mal werden nur die zitierten Quellen aufgeführt. Auch Überschneidungen zwischen Artikeln ließen sich vermeiden. So besteht der kurze Eintrag "Familienplanung" im wesentlichen aus einer Übersicht der einzelnen Verhütungsmethoden, die in dem umfangreichen Beitrag "Empfängnisregelung" bereits ausführlich dargestellt werden. Für ein wissenschaftliches Nachschlagewerk dürfte es zudem ungewöhnlich sein, statt Holocaust oder Schoa die Synekdoche "Auschwitz" als Stichwort zu verwenden, ebenso "Hiroshima". In beiden Fällen wurde im übrigen auf eine eingehende ethische sowie jede theologische Betrachtung verzichtet.

Zahlreiche Themen dagegen wurden mehreren Autoren zugewiesen, typischerweise aufgeteilt nach dem Problemstand sowie rechtlichen, ethischen und moraltheologischen Aspekten. Insbesondere die juristischen Beiträge wissen zu überzeugen, wobei die Artikel von Albin Eser hervorzuheben sind, der häufig einen rechtsvergleichenden Blick in andere Länder wirft. Die Mehrzahl der übrigen Autoren beschränkt sich auf die deutsche Sach- und Rechtslage und wirft den Anker - ungeachtet der eine internationale Ausrichtung suggerierenden fremdsprachigen Konkordanzen - in hiesige Binnengewässer. Für diese erhält man überwiegend ausführliche und kompetente Auskunft.

Mängel in den einzelnen Beiträgen bilden die Ausnahme: Die ethische Reflexion des Klonierens bricht viermal binnen zweieinhalb Spalten mit einem Hinweis auf das deutsche Rechtsverständnis ab, demzufolge schon dem Embryo die Menschenwürde eigne; hier wird Ethik mit Verfassungsrecht verwechselt. Und die in der ethischen Betrachtung der Todeskriterien geäußerte Behauptung, bei der Einführung des Hirntodkriteriums lasse "der Vorwurf der externen Motive (Transplantationsinteressen) . . . sich historisch nicht belegen", ist nachweislich falsch, zumindest was die einflußreiche Stellungnahme des Harvard-Komitees von 1968 angeht; auf diese aber hatte sich der hier kritisierte Hans Jonas bezogen.

Wiederum in die direkte Verantwortung der Redaktion fällt die Entscheidung, die ethische Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs allein Johannes Gründel anzuvertrauen und nicht - wie in anderen Fällen - in eine allgemein-ethische und eine moraltheologische zu unterteilen. So hätte sich, gerade bei diesem kontroversen Thema, die in der Einführung abgelehnte "Gleichschaltung des ethischen Zugangs" (bei Gründel ist es ein katholischer) vermeiden lassen.

Ist der Rettungsanker also für die christliche Seefahrt bestimmt? Während Wilhelm Korff sich in der Einführung über die Zielgruppe diskret ausschweigt, versteckt er die Annahme, "daß die überwiegende Zahl der Leser und Benutzer dieses Werks Christen katholischen beziehungsweise evangelischen Glaubens sind", im Beitrag zur Theologischen Ethik, der mit achtunddreißig Spalten prompt auffallend länger ausfällt als die rund fünfzehn Spalten umfassende Darstellung der Philosophischen Ethik. Ohne Zweifel können auch konfessionell gebundene Leser ihren Nutzen aus dem Lexikon ziehen. Vertreter des Utilitarismus, von denen man namhafte unter den mehr als vierhundert Autoren vermißt, werden den ethischen Zugang jedoch kaum für ausgewogen halten.

Diesem Begriff, der hierzulande zunehmend unscharf verwendet und (meist abwertend) mit Konsequentialismus oder einem bestimmten Personenbegriff gleichgesetzt wird, gilt unser letzter Blick - doch er findet keinen Halt. Zwar fällt das Stichwort laut Register an sechsundzwanzig Stellen, aber weder gibt es einen Artikel dazu, noch wird der Wissensdurst im Beitrag "Ethik" gestillt: Dort sind der utilitaristischen Ethik ganze siebzehn Zeilen gewidmet. Das ist auf insgesamt rund 4800 Lexikonspalten dann doch etwas wenig zur bioethischen Positionsbestimmung. Der Anker ist geworfen. Der Anker treibt.

ACHIM BAHNEN

"Lexikon der Bioethik". Herausgegeben im Auftrag der Görres-Gesellschaft von Wilhelm Korff, Lutwin Beck und Paul Mikat in Verbindung mit Ludger Honnefelder u.a. 3 Bd. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1998. 2559 S., geb., 598,- DM.

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