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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2001

Ein Lexikon mit Lücken: Wo ist bloß Roland Erbstößer?

Zugegeben - selten wirkt ein Start wirklich elegant. Dies gilt im Sport ebenso wie beim Auftakt einer Buchbesprechung, die umstandslos mit "Erbsen-Zählen" anhebt. Doch wenn "Erbse" nirgendwo zu finden ist, dann waltet von Beginn an Skepsis: Schließlich war der 100-Meter-Lauf auch im Sozialismus eine sportliche Königsdisziplin und Roland Erbstößer der erste DDR-Sprinter, der ihn in 10,1 Sekunden absolvierte. Der Westdeutsche Armin Hary lief damals zwar bereits eine Zehntelsekunde schneller und gewann bei den Olympischen Spielen in Rom die Goldmedaille; doch 1964 schlug die DDR überraschend die 100-Meter-Staffel aus dem Westen in der Qualifikation und vertrat - mit Erbstößer - das noch vereinte deutsche Team in Tokio. Überdies war "Erbse" 23mal DDR-Meister; zudem galt der Leipziger auch als ein stets beim Volk beliebter Sportsmann.

Mithin hätte er in Volker Kluges Lexikon berücksichtigt werden müssen, vor allem da sich, nach eigener Verlautbarung, der Autor vorgenommen hatte, nicht nur Medaillenspiegel zu referieren; vielmehr wollte er auch jene Athleten aufnehmen, die zwar niemals auf einem Treppchen bei Olympischen Spielen standen, aber doch zu volkseigenen Sportikonen wurden. "Die 1000 erfolgreichsten und populärsten Sportlerinnen und Sportler aus der DDR", heißt es im Untertitel, porträtiere "Das große Lexikon der DDR-Sportler".

Mehr als 200 Olympiasiege, fast 800 Weltmeister- und über 700 europäische Titel brachten DDR-Athleten aus den Arenen der Welt nach Hause, und daß der Arbeiter-und-Bauern-Staat irgendwann vom schmalbrüstigen David zum muskulösen Goliath mutiert war, ist inzwischen oft genug beschrieben worden - auch, mit welchen Mitteln und vor allem individuellen Folgen für so manche Sportler. Insofern erscheint der Ansatz, das Kriterium "Popularität" zu berücksichtigen, durchaus plausibel. Gerade für jene Deutschen, die zwar Stars wie Katarina Witt oder Jens Weißflog kennen, aber vielleicht nicht mehr die bescheidenen Idole Gerhard Grimmer oder Wolfgang Nordwig.

Der Skilangläufer Grimmer wurde 1974 erster deutscher Weltmeister über 50 Kilometer und blieb bis heute der einzige. Nordwig wurde 1972 Stabhochsprung-Olympiasieger. Aber auch unglückliche Athleten wie Manfred Matuschewski, der berühmte "Millimeterläufer", oder Gisela Birkemeyer, die 1960 als erste Frau der Welt die 80 Meter Hürden in 10,5 Sekunden lief, finden Platz in dem Lexikon. Im Westen allemal bekannter ist die Radlegende Gustav "Täve" Schur, der Weltmeister der fünfziger Jahre, der seinen Landsleuten in jenen Jahren das Gefühl zurückgab, wieder wer zu sein. Noch 1990 kürten sie ihn dafür zum beliebtesten Athleten aus vierzig Jahren DDR, obwohl er nicht nur fest im Sattel, sondern auch fast drei Jahrzehnte in der Volkskammer gesessen hatte. Bereits 1960 war er so berühmt, daß Uwe Johnson über ihn einen Roman schrieb: In "Das dritte Buch über Achim" bemühte sich Johnson damals, Erfolg und Popularität im bündigen Porträt zu schildern.

Volker Kluge, 13 Jahre Sportchef bei der FDJ-Tageszeitung "Junge Welt", hätte die Schwierigkeiten also ahnen können; denn Erfolge sind natürlich erst einmal in Fakten meßbar, zwingen also auch den Lexikonverfasser ins Korsett der DDR-Prioritäten, die nun einmal ausschließlich auf Olympiatauglichkeit beruhten. Klar, daß es da im Buch von Leichtathleten, Schwimmerinnen, Ruderern, aber auch Rennrodlern und spurtreuen Biathleten nur so wimmeln muß, um das Kriterium "erfolgreich" zu illustrieren. Doch daß Kluge sich noch immer diesen Vorgaben so lustvoll hingibt, ist pikant genug und längst nicht durch die einmalige Aufnahme so kurioser Disziplinen wie Armbrustschießen, Fernschach oder Kegeln ausgeglichen.

Ärgerlich und fast historisch unanständig aber ist die Abwesenheit einer Kommentierung, welche die Erfolge zumindest gelegentlich kritisch reflektiert. Im Gegenteil: In den meisten Texten herrscht eine unverdeckte Häme, es dem Westen jahrzehntelang gezeigt zu haben. Selbst die geradezu versteckten Erwähnungen von ständigen Kontaktsperren, Boykotten und erst recht von "unterstützenden Mitteln" wirken nicht einmal verschämt; sie kommen immer noch im Gestus jener Funktionäre daher, die sich, durchaus mißbräuchlich, im Namen der Athleten über den Gebrauch der "Dopingkeule" im neuen politischen System beklagen. Daß dies strenggenommen aber gerade den Sportlern gegenüber, die doch eigentlich und verdientermaßen gewürdigt werden sollen, ausgesprochen heikel ist, hinterläßt einen bitteren Nachgeschmack. Denn nicht nur deren Leistungen, auch ihrer Aura und ihren bisweilen charismatischen Charakterzügen wird die Darstellung kaum gerecht.

Vor allem aber scheint es undenkbar, daß ein Journalist aus einem anderen ehemaligen Ostblockstaat im Jahr 2000 ein solches Buch schriebe, ohne einen kritischen Rückblick auf die Sportpolitik der damaligen Zeit zu leisten. Kluges im übrigen äußerst lax lektoriertes Unternehmen aber geht genauso vor, und insofern ist es allenfalls ein Lexikon mit Materialwert. Allenfalls von historischer Ironie ist die These, den DDR-Sport nachträglich als "Insel der Marktwirtschaft" zu deklarieren, und als matter Scherz versteht sich offenbar auch die Datierung des Vorworts: 3. Oktober 2000.

TILO KÖHLER

Besprochenes Buch: Volker Kluge: "Das große Lexikon der DDR-Sportler. Die 1000 erfolgreichsten und populärsten Sportler und Sportlerinnen aus der DDR, ihre Erfolge und Biographien"; Verlag Schwartzkopf & Schwartzkopf, Berlin, 448 Seiten, 39,80 Mark.

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