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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.1996

Platten glänzen, Enten schillern
Verdienstvoll: Ein gesamtdeutsches Lexikon der Kunst

Mit ihren kunsthistorischen Lexika war die DDR der Bundesrepublik voraus. 1962 brachte Hans Vollmer im Leipziger Seemann Verlag das 1898 von Ulrich Thieme und Felix Becker begonnene Künstlerlexikon zum Abschluß. Der Westen erbte mit dem 1937 von Otto Schmitt begründeten "Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte" (RDK) das zweite enzyklopädische Großprojekt der deutschen Kunstwissenschaft. Es ist mittlerweile erst beim neunten Band mit dem Stichwort "Fledermaus" angelangt. Das liegt freilich weniger an der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter - nach wie vor erscheinen jährlich ein bis zwei Lieferungen - als vielmehr an der uferlosen Ausweitung der einzelnen Artikel. Hinzu kommt, daß der Münchner Redaktion beim Zentralinstitut für Kunstgeschichte ständig die Mittel gekürzt werden und auch die vollständige Schließung immer wieder im Gespräch ist.

In der DDR war die Einrichtung von Arbeitsstellen für prestigeträchtige Projekte kein Problem. Von 1968 bis 1978 entstand, wiederum im Leipziger Seemann Verlag, ein fünfbändiges "Lexikon der Kunst", das sich trotz starker sozialistischer Prägung seinen Platz in den kunsthistorischen Bibliotheken eroberte. Auch eine zweite Auflage war bald vergriffen. 1987 erschien der erste Band einer vollständig neuen Bearbeitung. Nachdem man noch 1989 den zweiten Band fertiggestellt hatte, wurden Verlag und Lexikonredaktion von der Wende überrollt. Trotz erheblicher Schrumpfung des Mitarbeiterstabes gelang es, das Projekt in die Marktwirtschaft hinüberzuretten - nun liegen sieben stattliche Bände vor.

Die Typographie ist klar und einfach, schier unergründlich die Vielfalt der Stichworte und die Ausweitung des Kunstbegriffs. Neben Künstlern, Epochen, Ländern, Kunststädten, Einzelmonumenten, Gattungen, Ikonographien sind die verschiedensten Techniken bis hin zum entlegensten Werkstoff berücksichtigt, darüber hinaus eine Vielzahl von theoretischen Begriffen und, besonders hervorzuheben, Würdigungen wichtiger Sammler und Wissenschaftler. Sehr nützlich sind auch die ausführlichen Literaturangaben, die die Forschung oft erstaunlich gut dokumentieren. Zu rühmen ist der Entschluß, das Lexikon im Gegensatz zur Erstbearbeitung zu illustrieren. Unterschiedlichste Stichworte sind mit Bildern versehen, die zum Stöbern und Blättern, vielfach zur Lektüre von Artikeln einladen, die man andernfalls wohl nie nachgeschlagen hätte.

Aufschlußreich ist der Blick auf die Mitarbeiterverzeichnisse. Wirkte für den ersten Band noch Erik Forssmann als einziger Westdeutscher mit, ist das Lexikon schließlich ein gesamtdeutsches Unternehmen geworden, dem die besten Kenner ihre Mitarbeit nicht mehr versagten. Von Beginn an reichte der Blick entschieden über das Abendland hinaus in verschiedene damals noch sozialistische Länder und in die Dritte Welt. So nehmen einzelne irakische oder nigerianische Nachkriegskünstler im ersten Band mehr Raum ein als klassische Themen wie etwa das Adlerpult.

In faszinierender Weise spiegelt das Lexikon den Wandel der deutsch-deutschen Kunstwissenschaft seit 1989. So wird im zweiten Band Fritz Cremer so ausführlich behandelt wie Lucas Cranach und die führende Rolle der DDR in der Plattenbauweise gerühmt. Daneben taucht Donald Duck als "schillerndste Figur der amerikanischen Bildgeschichte" auf. Große Themen sind die antifaschistische Kunst oder der Einfluß des Feudalismus. Solche Stichworte weichen zum Schluß fast vollständig.

Andere Vorlieben überdauerten, vor allem in der Auswahl der Künstler und deren Gewichtung. So gibt es auch in den jüngeren Teilen erstaunlich viele bedeutende irakische Nachkriegskünstler. Repin wird doppelt so ausführlich wie Renoir, Willi Sitte gar dreimal so lang wie Camillo Sitte behandelt. Kurt Robbel ist dem Lexikon so viel wert wie Marc Rothko. Über die Auszeichnungen des kuweitischen Künstlers Isa Saqr freut man sich, vermißt dafür jedoch Bruce Naumann oder Sep Ruf.

Insgesamt genießen die Künstler der DDR auch in den späteren Bänden eindeutig mehr Aufmerksamkeit als die bundesrepublikanischen. Immerhin ist Klaus Staeck mit einer ganzen Spalte vertreten (zum Vergleich: eine halbe Spalte für Abt Suger). Außerdem darf sich Bonn freuen, daß es seit Tübkes "Freischütz"-Bühnenbild eine Staatsoper besitzt. Jedoch soll das Streiflicht des Beckmessers keinesfalls die gewaltige Leistung schmälern, die hier erbracht wurde und der Forschung wie dem Kunstfreund ein unersetzliches Hilfsmittel zur Seite stellt. Für nächstes Jahr kündigt zwar Macmillan in London nach zehnjähriger Vorbereitung das "Dictionary of Art" in 34 Bänden an, unter Mitwirkung von 6700 Gelehrten aus aller Welt. Im Gegensatz zum "Lexikon der Kunst" werden sich dieses alles überragende Standardwerk jedoch nur wenige für ihre Privatbibliothek leisten können. SEBASTIAN PREUSS

"Lexikon der Kunst": Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie. E. A. Seemann Verlag, Leipzig 1987-1994. 7 Bände, je ca. 850 S., Abb., geb., einzeln 178,- DM; zusammen 1036,- DM.

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