Es wird die Rede sein von Hotels und Küchentischen, von Krankenhäusern und Schlachtfeldern. Die Liebe ist allgegenwärtig. Und doch erkennt sie nicht jeder, denn manchmal macht sie sich unsichtbar und wird ganz still, manchmal erlischt sie von heute auf morgen, oder sie nimmt von allen unbemerkt eine neue Gestalt an. Wie die Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern. Oder die Zuneigung zu geliebten Gegenständen, die Liebe zu alten Freunden. Sie lässt sich nicht erklären, wohl aber kartografieren - und so widmet sich Annette Pehnt der Liebe in all ihren Formen, schreibt von Schmerz und Glück, Ungewissheit, Lust, Auf- und Hingabe, Verzweiflung und Ritual.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2018Sie würde so gern ein unverziertes Müsli essen
"G" wie Gemurmel: Annette Pehnts "Lexikon der Liebe" zieht kurze Geschichtenfäden aus dem großen Beziehungsgeflecht der Welt
An Buchtiteln, die "das Abc", gerne auch "das kleine Abc" von irgendetwas versprechen, mangelt es wahrlich nicht. Oft steckt dahinter die Strategie, Texte zu bündeln, die eigentlich keinen Zusammenhang haben. Ein "kleines ABC der Liebe" gibt es auf diesem Markt zudem schon, braucht man also auch noch das "Lexikon der Liebe"? Immerhin klingt der Titel schön, und er hat zudem ein musikalisches Vorbild: das 1982 erschienene Album "The Lexicon of Love" der britischen Synth-Pop-Gruppe ABC. Wenn man einen Zusammenhang zwischen den vorliegenden Erzählungen Annette Pehnts und diesem Album sehen wollte, dann vielleicht den eines "New Romanticism" - so könnte es zumindest auf den ersten Blick scheinen: "Sein Herz schlägt bis unter das Schlüsselbein, ein weiches Pochen von Hingabe und Dankbarkeit. So, denkt er einen Moment lang, hat mich noch niemand berührt, bevor er einfach aufhört zu denken."
Doch der Satz ist noch nicht zu Ende, der Rest lautet: ". . . bis auch schon die Zeit zu Ende geht und die Masseurin ihm einen Klaps auf die Nieren gibt". Es ist dann doch eher sachlich, im handgreiflichen und auch banalen Alltag verankert, wie Pehnt erzählt. Das ist keine schwärmerische Literatur - eher könnte man sich an einen Suhrkamp-Band mit "Liebesgeschichten" aus den frühen Achtzigern erinnert fühlen, auf dem vorne ein Wasserhahn mit Zahnputzbecher abgebildet war und der "Verständigungstexte" versprach.
Die Einträge in diesem "Lexikon" klingen erst einmal überraschend, sie lauten zum Beispiel "Ahnung", "Balkon" und Boden". Später folgen "Mirabellen" und "Mutter" oder auch "Postbus" und "Punkt". Die Texte dazu sind oft nur zwei oder drei Seiten lang, lauter novellistische Minieinblicke in die Leben ganz verschiedener Menschen. Öfter geht es allerdings um Mütter. Eine davon übt eine Art von erdrückender Liebe auf ihre Tochter aus, die sich auch in zu vielen Geschenken und dadurch erzwungener Dankbarkeit ausdrückt. Die Tochter hat das Gefühl, als Reaktion darauf nie genug tun und sagen zu können, und was sie auch macht, es wird nicht ausreichend freudig und innig sein. "Sie würde gern ein unverziertes Müsli essen", lautet ein Satz über diese Tochter, der die Situation sehr schön zuspitzt.
In einer anderen Geschichte heißt es über einen Mann, dass er womöglich eine bessere Mutter wäre als die Frauen, die er kennenlernt: "Mütterlichkeit ist eine seiner besten Eigenschaften, er ist geduldig, kräftig und wohlhabend, und seine überschüssige Wärme dehnt sich über seine Grenzen hinweg aus, wölbt sich in andere Leben hinein, ständig könnte er lieben, nur dass er ebendiesen einen Menschen nicht findet, es muss ein Kind sein, niemand anders kann es sein, sein Kind." Auch hier also zu viel Liebe, und man merkt, dass Annette Pehnt auch der durchaus boshaften Beobachtung fähig ist. Sie wendet diese hier sogar für einmal ins Groteske, indem sie den Mann dann noch fragen lässt: "Können Sie mir ein Kind empfehlen?" Er würde sich am liebsten eines aus dem Katalog aussuchen.
In einer derartigen Pointierung liegt allerdings auch die Gefahr, literarische Figuren zu allzu künstlichen Gebilden zu machen. Im kritischen Jargon nennt man das gern Holzschnitte oder Laubsägearbeiten, und Annette Pehnt riskiert öfter, solche zu produzieren. Zum Beispiel, wenn sie einen Mann zeigt, der für Liebe und Zärtlichkeit unter Menschen nur Verachtung übrig hat, sich stattdessen einen Hund zulegt, diesen aber einschläfern lassen muss, und der schließlich abends einsam am Radio sitzend sein Supermarktessen verzehrt.
So nett die Idee mit den überraschenden Lemmata in diesem Buch auch scheint, entdeckt man doch ziemlich schnell, dass sich hinter diesen ein ums andere Mal ziemliche Holzschnitt-Themen der Literatur verbergen, nämlich etwa Liebe im Alter, Liebe zu einer dementen Person, Liebe in Zeiten der Smartphone-Kommunikation, Liebe auf Dating-Portalen, Liebe im Test des ersten gemeinsamen Urlaubs. Der Eintrag "Gemurmel" hieß ursprünglich wohl eher "Geburt", der namens "Balkon" im Entwurf wohl etwas wie "Affäre im Hotelzimmer". Aus diesen Baukastenelementen des Liebeslebens hat die Autorin mal mehr, mal weniger gemacht.
JAN WIELE
Annette Pehnt: "Lexikon der Liebe".
Piper Verlag, München 2017. 190 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"G" wie Gemurmel: Annette Pehnts "Lexikon der Liebe" zieht kurze Geschichtenfäden aus dem großen Beziehungsgeflecht der Welt
An Buchtiteln, die "das Abc", gerne auch "das kleine Abc" von irgendetwas versprechen, mangelt es wahrlich nicht. Oft steckt dahinter die Strategie, Texte zu bündeln, die eigentlich keinen Zusammenhang haben. Ein "kleines ABC der Liebe" gibt es auf diesem Markt zudem schon, braucht man also auch noch das "Lexikon der Liebe"? Immerhin klingt der Titel schön, und er hat zudem ein musikalisches Vorbild: das 1982 erschienene Album "The Lexicon of Love" der britischen Synth-Pop-Gruppe ABC. Wenn man einen Zusammenhang zwischen den vorliegenden Erzählungen Annette Pehnts und diesem Album sehen wollte, dann vielleicht den eines "New Romanticism" - so könnte es zumindest auf den ersten Blick scheinen: "Sein Herz schlägt bis unter das Schlüsselbein, ein weiches Pochen von Hingabe und Dankbarkeit. So, denkt er einen Moment lang, hat mich noch niemand berührt, bevor er einfach aufhört zu denken."
Doch der Satz ist noch nicht zu Ende, der Rest lautet: ". . . bis auch schon die Zeit zu Ende geht und die Masseurin ihm einen Klaps auf die Nieren gibt". Es ist dann doch eher sachlich, im handgreiflichen und auch banalen Alltag verankert, wie Pehnt erzählt. Das ist keine schwärmerische Literatur - eher könnte man sich an einen Suhrkamp-Band mit "Liebesgeschichten" aus den frühen Achtzigern erinnert fühlen, auf dem vorne ein Wasserhahn mit Zahnputzbecher abgebildet war und der "Verständigungstexte" versprach.
Die Einträge in diesem "Lexikon" klingen erst einmal überraschend, sie lauten zum Beispiel "Ahnung", "Balkon" und Boden". Später folgen "Mirabellen" und "Mutter" oder auch "Postbus" und "Punkt". Die Texte dazu sind oft nur zwei oder drei Seiten lang, lauter novellistische Minieinblicke in die Leben ganz verschiedener Menschen. Öfter geht es allerdings um Mütter. Eine davon übt eine Art von erdrückender Liebe auf ihre Tochter aus, die sich auch in zu vielen Geschenken und dadurch erzwungener Dankbarkeit ausdrückt. Die Tochter hat das Gefühl, als Reaktion darauf nie genug tun und sagen zu können, und was sie auch macht, es wird nicht ausreichend freudig und innig sein. "Sie würde gern ein unverziertes Müsli essen", lautet ein Satz über diese Tochter, der die Situation sehr schön zuspitzt.
In einer anderen Geschichte heißt es über einen Mann, dass er womöglich eine bessere Mutter wäre als die Frauen, die er kennenlernt: "Mütterlichkeit ist eine seiner besten Eigenschaften, er ist geduldig, kräftig und wohlhabend, und seine überschüssige Wärme dehnt sich über seine Grenzen hinweg aus, wölbt sich in andere Leben hinein, ständig könnte er lieben, nur dass er ebendiesen einen Menschen nicht findet, es muss ein Kind sein, niemand anders kann es sein, sein Kind." Auch hier also zu viel Liebe, und man merkt, dass Annette Pehnt auch der durchaus boshaften Beobachtung fähig ist. Sie wendet diese hier sogar für einmal ins Groteske, indem sie den Mann dann noch fragen lässt: "Können Sie mir ein Kind empfehlen?" Er würde sich am liebsten eines aus dem Katalog aussuchen.
In einer derartigen Pointierung liegt allerdings auch die Gefahr, literarische Figuren zu allzu künstlichen Gebilden zu machen. Im kritischen Jargon nennt man das gern Holzschnitte oder Laubsägearbeiten, und Annette Pehnt riskiert öfter, solche zu produzieren. Zum Beispiel, wenn sie einen Mann zeigt, der für Liebe und Zärtlichkeit unter Menschen nur Verachtung übrig hat, sich stattdessen einen Hund zulegt, diesen aber einschläfern lassen muss, und der schließlich abends einsam am Radio sitzend sein Supermarktessen verzehrt.
So nett die Idee mit den überraschenden Lemmata in diesem Buch auch scheint, entdeckt man doch ziemlich schnell, dass sich hinter diesen ein ums andere Mal ziemliche Holzschnitt-Themen der Literatur verbergen, nämlich etwa Liebe im Alter, Liebe zu einer dementen Person, Liebe in Zeiten der Smartphone-Kommunikation, Liebe auf Dating-Portalen, Liebe im Test des ersten gemeinsamen Urlaubs. Der Eintrag "Gemurmel" hieß ursprünglich wohl eher "Geburt", der namens "Balkon" im Entwurf wohl etwas wie "Affäre im Hotelzimmer". Aus diesen Baukastenelementen des Liebeslebens hat die Autorin mal mehr, mal weniger gemacht.
JAN WIELE
Annette Pehnt: "Lexikon der Liebe".
Piper Verlag, München 2017. 190 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Auf engstem Raum nähert sich Annette Pehnt einem großen Gefühl.« Sandra Kegel 3 sat Buchzeit 20171210