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Dies Sachlexikon bietet eine umfassende kritische Bestandsaufnahme der politischen wie gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse der DDR, wie sie sich zwischen 1945 und 1990 entwickelt hatten. Alle wichtigen Bereiche von Staat und Gesellschaft sind dargestellt, namhafte Wissenschaftler, führende Bürgerrechtler, Publizisten und wichtige politische Akteure der deutschen Vereinigung bürgen für Sachkunde und ausgewogenes Urteil.

Produktbeschreibung
Dies Sachlexikon bietet eine umfassende kritische Bestandsaufnahme der politischen wie gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse der DDR, wie sie sich zwischen 1945 und 1990 entwickelt hatten. Alle wichtigen Bereiche von Staat und Gesellschaft sind dargestellt, namhafte Wissenschaftler, führende Bürgerrechtler, Publizisten und wichtige politische Akteure der deutschen Vereinigung bürgen für Sachkunde und ausgewogenes Urteil.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.1997

Auch gute Genossen atmeten im Intershop durch
Der sozialistische deutsche Staatsbankrott aus der Nähe

Rainer Eppelmann, Horst Möller, Günter Nooke, Dorothee Wilms (Herausgeber): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik. Studien zur Politik, Band 29. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, München, Wien und Zürich 1996. X, 806 Seiten, 128,- Mark.

Wer sich in den vier Jahrzehnten der DDR tatsächlich der Mühe unterzog, ihrem damals im Westen Deutschlands dringend zur Beachtung empfohlenen "Selbstverständnis" auf die Spur zu kommen, hielt sich am besten an die offiziellen Ost-Berliner und Leipziger Lexika: vom "Kleinen Politischen Wörterbuch" über das "Philosophische Wörterbuch" bis zum "Militärlexikon" und zum "Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie". Eifrige, zumeist wissensdurstige Antikommunisten lasen sie von vorn bis hinten, die Eifrigsten verglichen metikulös aufeinanderfolgende Auflagen. Tatsächlich konnte schon ein bloßer Vergleich der Stichwörterlisten etwa des Soziologie-Lexikons von 1969 und 1977, des Militärlexikons von 1971 und 1973 zu Aha-Erlebnissen führen; für eine sorgfältige Synopse des "Kleinen Politischen Wörterbuches" von 1967 und 1973 zahlte der Deutschlandfunk, der lange Zeit auf seine Sendereihe "Bücher von drüben" stolz sein konnte, ein ansehnliches Honorar. Es trifft sich, daß der Leiter seiner Ost-West-Redaktion, Karl Wilhelm Fricke, nun auch zum endgültig abschließenden "Lexikon des DDR-Sozialismus" mehrere Stichwörter beisteuerte.

Es macht Sinn, beim alphabetischen Lesen ganz hinten beim "Zusammenbruch der DDR" anzufangen. Dessen Ursachen lagen - das wird auch heute selten so scharf gesehen - nicht in ihrer Schlußphase, sondern in ihren Wurzeln. Der SED-Staat litt von seinen ideologischen und historischen Ursprüngen her an einem demokratischen und nationalen Legitimationsdefizit; die ineffiziente Zentralverwaltungswirtschaft führte zu wachsendem Rückstand in der innerdeutschen Systemkonkurrenz und schließlich bis kurz vor den Bankrott. Was die DDR stabilisiert hatte, war die sowjetische Existenzgarantie; in dem Augenblick, wo sie entzogen wurde, stand das Regime zur Disposition. Kürzer und treffender läßt es sich nicht sagen.

Aber wo war das Geld nun wirklich geblieben, als Ende Oktober 1989 der Plankommissions-Chef Schürer in einer Politbürovorlage den Honecker-Nachfolger Krenz mit einem Schuldenstand von 49 Milliarden Valuta-Mark bekanntmachte, der nicht mehr beherrschbar war? Weder die Kreditmilliarde, die Franz Josef Strauß zugebuttert hatte, noch die dreieinhalb Milliarden beim Häftlingsfreikauf und die hohen Summen in den Intershops verdienter Devisen - "auch die besten Genossen atmeten im Intershop tief durch", lautet der lustigste Satz des Lexikons - hatten den Verschleiß der Produktionsanlagen, den Rückgang der Arbeitsproduktivität bremsen können. Statt dessen kam es zu "versteckter Arbeitslosigkeit", von der in der alten Bundesrepublik nur leise die Rede war, weil sich lautes Mäkeln über die DDR nicht ziemte. Das Lexikon errechnet "1,4 Millionen Personen, was einer Quote von 15 Prozent der Beschäftigten entsprach". Jetzt ist nichts mehr versteckt, und niemand braucht mit Schuldzuweisungen zurückzuhalten.

Übrigens hatte der Bankrott auch nichts zu tun mit schlechten Nachkriegs-Startbedingungen, die noch heute von DDR-Apologeten geltend gemacht werden. Zwar hat die SBZ/DDR tatsächlich mit 14 Milliarden Dollar "die größten im 20. Jahrhundert bekanntgewordenen Reparationsleistungen erbracht". Jedoch, so fährt das Stichwort "Kriegsschäden, Demontagen, Reparationen" fort, müsse beachtet werden, "daß sich nur die Bundesrepublik der Wiedergutmachungsfrage in umfassender Weise stellte".

Deshalb noch einmal gefragt: Wo war das Geld, dessen fortdauernd zunehmendes Fehlen in den Bankrott führte? Man erfährt es, wenn man auch die sozialpolitischen Stichwörter in die Betrachtung gleichwertig einbezieht. Honecker war mit der Maxime von der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik angetreten; sie sollte nicht nur das Markenzeichen des DDR-Sozialismus, sondern auch dessen entscheidende Legitimation sein. Die entstehenden Ausgabenlöcher erzwangen immer höhere Kreditaufnahmen. Allein das Gesundheitswesen kostete am Ende die DDR 20 Prozent des Staatshaushaltes. Die immer höheren Subventionen der Verbraucherpreise bei Grundnahrungsmitteln und sozialpolitisch bedeutsamen Industriewaren drückten diese Preise bis unter die Gestehungskosten: "Spätestens ab Mitte der achtziger Jahre war die explosiv angewachsene Subventionslast bei den konsumtiven Ausgaben nicht mehr finanzierbar." Aber bei Rentnern betrug die errechnete Rente für 40 Arbeitsjahre höchstens 480 Mark. Sie blickten scheel auf die wesentlich großzügiger behandelten jungen Familien. Unter dem siebenseitigen Stichwort "Frauen- und Familienpolitik" findet sich zur wesentlich höheren Familienförderung der eingeklammerte wehmütige Satz: "Inwieweit diese immensen Kosten den Staatsbankrott beschleunigten, kann hier nicht erörtert werden." Manchmal ist die soziale DDR plötzlich doch wieder das Land, das ferne leuchtet.

Stichwörter über den Staat zu lesen erübrigt sich eigentlich. Daß der Ministerratsvorsitzende nur der erste Verwaltungschef war; daß die Staatsgewalt in einer Diktatur ohnehin nur technisch-organisatorische Gewalt ausübt - alles bekannt. Die Volkskammer erließ zwischen 1980 und 1986 nur 22 Gesetze. Aber bei den Rückblicken auf die kurze Geschichte dieses zweiten deutschen Staates tauchen in diesem Lexikon, herausgegeben im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung, plötzlich klangvolle Verfassernamen auf.

Lederjacken

Da spricht Dorothee Wilms, ehedem innerdeutsche Ministerin, plötzlich stolz vom lange Zeit festgehaltenen Anspruch der Bundesregierung, "in Deutschland für alle Deutschen zu sprechen (Alleinvertretungsanspruch)" und "die Anerkennung der DDR durch dritte Staaten als unfreundlichen Akt zu behandeln (Hallstein-Doktrin)". Solches in den sechziger Jahren laut zu sagen oder in den siebziger noch zu flüstern, erfüllte den Tatbestand der Selbstentlarvung als Kalter Krieger. Schon als Tito-Jugoslawien im Herbst 1957 die DDR anerkannte und die Bundesregierung daraufhin den Botschafter aus Belgrad zurückrief, war selbst in dieser Zeitung von "Lederjacken-Diplomatie" warnend die Rede.

Wolfgang Schäuble, Unions-Fraktionsvorsitzender, läßt es sich in seinem Stichwort "Einigungsvertrag" im Blick auf die umstrittenen Enteignungen zwischen 1945 und 1949 abermals nicht nehmen zu behaupten, daß in den Verhandlungen "sowohl die Sowjetunion wie auch die DDR-Regierung" darauf bestanden hätten, "daß diese nicht mehr rückgängig zu machen seien. Die Bundesregierung hat diese Bedingung in der Gemeinsamen Erklärung hingenommen." Da wird es wieder viel Ärger geben. Gewiß keinen Ärger gibt es, wenn Arnold Vaatz, sächsischer Umweltminister und CDU-Vorstandsmitglied, die Umweltpolitik der DDR erläutert. Wußte jemand, daß es in jedem Bezirk drei Naturschützer-Planstellen gab und in jedem Kreis eine halbe? Aber die Abwässer flossen noch 1990 zu zwei Dritteln ungereinigt in die Flüsse.

Beim Abfragen der Stichwörter zur Parteimacht der SED sind grundsätzlichere Aufschlüsse zu gewinnen. Daß der "demokratische Zentralismus" ihr wichtigstes Durchsetzungsinstrument war, ist ebenso bekannt wie die strikte Anwendung des Nomenklatursystems für alle personellen Entscheidungen; die Diktatur des Proletariates war im alten "Kleinen Politischen Wörterbuch" sogar noch erschreckender dargestellt. Aber es gibt Neubewertungen beim Blick auf das Führungsmonopol der SED. Es war eine Kompetenzkompetenz: Nicht alle Gewalt mußte unmittelbar von der Partei selbst ausgehen. Es genügte, daß sie immer recht hatte.

Viel zuwenig wurde zu DDR-Zeiten in beiden Teilen Deutschlands wahrgenommen, daß es dabei um ihre Definitionsmacht und ihren Willen zur sprachlichen Zementierung der Herrschaft ging. Die vielen Wörterbücher, von denen eingangs die Rede war, bezeugen es. Das Bröckeln der Definitionsmacht, ihre Preisgabe im Herbst 1989 läutete das Ende der Macht überhaupt ein. Das kluge Stichwort "Sprache und Politik" macht nachträglich darauf aufmerksam, daß bei den großen Manifestationen des Herbstes 1989 in Leipzig und anderswo die Kennzeichnung "Konterrevolution", die sozusagen wohlverdient gewesen wäre, plötzlich unterblieb. Statt dessen war DDR-offiziell von "Volksbewegung" die Rede - ein unüberhörbarer Hinweis auf die Schwäche des Systems. Die Nachwende-Begriffe gaben dann der Begrifflichkeit des Kommunismus den Rest.

Als einzige Ausnahme blieb der "Antifaschismus". Das Stichwort "Entnazifizierung" drückt es etwas zu schwach aus; "Antifaschismus als Staatsreligion und ideologische Untermauerung des Herrschaftsanspruches der SED wirkte bis zum Ende der DDR als ,Legitimationsfalle' für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Ostdeutschen". Die Legitimationsfalle, das gescheiteste Wort des Lexikons, funktioniert noch heute und beileibe nicht nur bei den Ostdeutschen.

Das läßt nun überlegen, was das jahrzehntelange zweite Diktatursystem auf deutschem Boden nun wirklich gewesen ist; es "totalitär" zu nennen war in den siebziger und achtziger Jahren verpönt, und noch heute trauen sich es viele nicht. Aber das Lexikon des DDR-Sozialismus traut sich - dabei unterschiedliche Ausprägungen der Machttechniken des Nationalsozialismus nicht bestreitend. Das ängstliche Herumdrücken um den Begriff "totalitär" - in den achtziger Jahren war die verlegene Kennzeichnung "autoritär-bürokratisch" im Schwange - hatte verheerende Folgen gehabt. Die Westarbeit der SED, hauptsächlich von ihrem "Institut für Internationale Politik und Wirtschaft" besorgt, hatte es unternommen - so das ihm gewidmete Stichwort -, "auf die linken Bewegungen in der Bundesrepublik unmittelbar einzuwirken"; seine "Gruppe Bertsch" beeinflußte mit ihren Reisekadern "die westdeutsche DDR- und Ostforschung nicht unerheblich". Wie erfolgreich, faßt das Stichwort über die "Westarbeit" im schrecklichsten Satz des Lexikons zusammen: Sie "schien noch kurz vor dem Zusammenbruch der DDR Früchte zu tragen". Die westdeutschen DDerrologen bekommen jetzt, was sie verdienen.

Die vier Herausgeber des Lexikons, die es der politischen Bildung in den alten und neuen Bundesländern anempfehlen, sagen deshalb in ihrem Vorwort nicht zuviel: "Wer heute auf den DDR-Sozialismus zurückblickt, sollte sich aber auch im klaren darüber sein, daß der totalitäre Charakter der SED-Diktatur im allgemeinen Bewußtsein - auch außerhalb der DDR - nur noch partiell wahrgenommen oder gar verharmlost wurde, je länger das System bestand." Horst Möller, Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, wird in seinem einführenden Beitrag bezüglich der Verharmlosung konkreter: "So haben zum Beispiel nicht wenige Politiker, Wissenschaftler und Publizisten vor 1989 die DDR-Herrschaft verharmlost, haben gewissermaßen eine Appeasement-Politik betrieben, weil sie entweder die Realität verkannten oder mehr oder weniger explizit in der DDR eine vermeintlich ,progressive' Alternative der deutschen Geschichte sahen. Und sicher gehört es nicht zu den Beispielen politischer Hellsichtigkeit, daß eine Gruppe von SPD-Politikern mit der SED ein gemeinsames Strategiepapier verabschiedete und durch diese Gemeinsamkeit mit den ,rotlackierten Faschisten', wie der erste Nachkriegsvorsitzende der SPD, Kurt Schumacher, die Kommunisten genannt hatte, gleichsam die Zwangsvereinigung postum legitimierte." Das stimmt alles haarscharf, aber gerade deshalb wird es Ärger geben mit diesem Buch.

ERNST-OTTO MAETZKE

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