Bei der Durchsicht der Polizeiakten erinnert sich Jean an Momente seines Lebens in Sechzigern, als er sich mit der Bande vom Unic-Hotel im Montparnasse herumtrieb. Damals standen sich er und die junge Dannie, die in irgendeine kriminelle Angelegenheit verwickelt war, sehr nahe.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.11.2014Im Licht der vergangenen Gegenwart
Am Montag erscheint Patrick Modianos neuer Roman „Gräser der Nacht“ – der perfekte Einstieg ins Werk des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers
Wer seit Patrick Modianos Erstlingsroman „La Place de l’Étoile“ aus dem Jahr 1968 den Einstieg ins Werk des Nobelpreisträgers verpasst hat, dem wird hier eine außerordentliche Chance geboten. Sein neuer Roman „Gräser der Nächte“ vereint wie wenige andere zuvor so ziemlich alles, was die Qualität dieser großen zeitgenössischen Erinnerungsliteratur ausmacht und enthält bis in die feinsten Nebentöne den unverwechselbaren Modiano-Sound. Das Bestreben, das Nachglühen vergangener Ereignisse gleichsam rückwärts zu überholen und das Licht der alten Gegenwart noch einmal strahlen zu lassen, wird in diesem Buch ständig mitreflektiert.
Der mit lückenhaften Aufzeichnungen in einem alten Notizheft durchs Pariser Montparnasse-Viertel irrende Erzähler spürt sehr genau, dass da in seinem Leben einmal etwas Bedeutsames sich abspielte. Es ist ihm, als ob „ein anderes Ich, ein Zwilling, sich in dieser Gegend herumtriebe, ohne gealtert zu sein“, und ihm kaum vernehmbare Zeichen gäbe. Er kann die Erinnerungsfetzen aber an keinem realen Ort mehr festmachen. Die vertrauten Straßen und Häuser blicken ihn an wie ein ausgestopfter Hund. Dann aber, vor der Hausnummer 11 der Rue d’Odessa, kommt plötzlich der Einfall, wie ein leichtes Schwindelgefühl, das der Proustschen Erfahrung mit dem Stück Madeleine nicht ganz unähnlich ist: Hier hat doch Paul Chastagnier immer sein Auto geparkt.
Wie sich von da an im Buch die Gedächtniswolken lichten und immer neue Durchblicke freigeben, zeugt von einer Meisterschaft, die nur den Größten des Genres gegeben ist. Statt Erinnerungsrausch, Geborgenheitsglück beim Einschlafen, Belle-Époque-Geraschel und bis in die Ewigkeit fortdauerndem Tafelgeklirr aus dem Salon gibt es bei Modiano aber nur die ständig wiederkehrende Ungewissheit, ob da tatsächlich mal was war. Eine „wiedergefundene Zeit“ kommt bei ihm nicht vor. Vorgesehen ist vielmehr ein dauerndes Weiterirren durch die Straßen auf den Spuren einer aus der Zeit ragenden Situation wie der mit jenem Mädchen, das der Erzähler vor Jahrzehnten kennenlernte und bald wieder verlor.
Aus seinen Aufzeichnungen und aus der realen Stadttopografie versucht er, die Dinge zu rekonstruieren. Da war die Bekanntschaft mit der angeblichen Studentin, die sich damals Dannie nannte. Da waren ihre ausweichenden Antworten und ihr etwas seltsames Verhalten sowie die undurchschaubaren Männer, mit denen sie im Unic Hotel verkehrte. Es gab auch die diskreten Warnungen vor diesem Milieu, die Hinweise auf Schüsse, die in einer Wohnung gefallen sein sollen, sowie die Vorladung des Erzählers aufs Polizeikommissariat. All diese Erinnerungen wirbeln wie in einem unterbelichteten Schwarz-Weiß-Film von Georges Franju durcheinander im Paris der frühen Sechzigerjahre und seinen mysteriös gebliebenen Affären. Ungeklärt ist beispielsweise bis heute das spurlose Verschwinden des marokkanischen Oppositionspolitikers Mehdi Ben Barka 1965, auf das die Romanhandlung offensichtlich anspielt. Mit seiner stets etwas unheimlichen Spannung ist dieser Roman ein Thriller ohne eigentliche Events, ein Liebesroman ohne Liebesszenen, ein Schlüsselroman ohne Schlüssel.
Mit seinen Aufzeichnungen und seinen Träumen, zuletzt auch mit der ihm ausgehändigten Polizeiakte, kreist der Erzähler zwischen damals und heute die Ereignisse ein. Manchmal ist da das Handy, an dem ein Tischnachbar im Café gerade herumfingert, der einzige Hinweis dafür, dass er in der Gegenwart sitzt. Doch Gegenwart und Vergangenheit gibt es für ihn eigentlich gar nicht, das eine geht ins andere über, wie vor einem erleuchteten Fenster, das ein Gefühl von Gegenwart und Abwesenheit zugleich vermittelt. „Wir bedauern, Ihre Ansprüche sind erloschen“, steht auf einem Zettel, den ein Geldautomat statt der Banknoten ausspuckt, und es scheint dem Erzähler, hätte es in seiner Jugend schon Geldautomaten gegeben, wäre die Antwort auf sein Leben schon damals dieselben gewesen. Ansprüche erloschen.
Modiano ist aber ein zu feinsinniger Autor, als dass er sich auf „nie ganz vergangen“ und „nie ganz gewesen“ festlegen würde. Die literarischen, zeitgeschichtlichen, politischen, städtebaulichen Motive verbinden sich bei ihm in ungeheurer Dichte, gerade in diesem Buch. Neben den Namen von Personen und Orten enthält das Notizheft seines Erzählers auch Skizzen für einen angefangenen Roman mit Angaben über die 1794 guillotinierte Marie-Anne Leroy, über den symbolistischen Dichter Tristan Corbière oder über die junge Gattin des belgischen Königs Leopold II., die 1948 verstorbene Baronne Blanche, die er mit der Rue Blanche, der zeitweiligen Wohnadresse seiner Freundin Dannie in Verbindung bringt.
Während andere Autoren aus dieser Vielzahl von Motiven eine mehr oder weniger bündige Handlung schnüren würden, werden bei Modiano damit nur flüchtige Licht- und Schatteneffekte aufs Geschehnisse geworfen, wie unter dahintreibenden Wolken. Bei einem Landaufenthalt verliert der Erzähler sein angefangenes Romanmanuskript. Statt es zu rekonstruieren, lässt der junge Schriftsteller es in der Halbvergessenheit. Das Verlorene kommt ihm vor wie ein abwesendes Andenken – „eine getrocknete Blume, ein vierblättriges Kleeblatt“. Im Licht der für Modiano so charakteristischen leichtfüßigen Melancholie bleibt das Vergangene in einer Ferne, wo es gerade noch spürbar, aber nicht mehr fassbar ist. Zwar meldet sich immer wieder der Wunsch, danach zu greifen, doch er wird fortwährend aufgeschoben. „Wozu auch?“ lautet ein im Roman häufig wiederkehrender Ausdruck.
Das Autobiografische ist bei Modiano nie Gegenstand, immer nur Rohstoff. Deshalb ist sein Werk frei davon, abrechnen, aufräumen, Licht und Schatten trennen zu wollen. „Sehen Sie das Gebäude aus rotem Backstein dort drüben?“ – fragt der Polizeikommissar den Erzähler, als er ihm seine Akte aushändigt. Eine Frau sei da an die Wand gestellt und von hinten erschossen worden. Dann habe man gemerkt, dass es ein Irrtum war. Falsche Widerstandskämpfer hätten sich bei der Befreiung von Paris im Gebäude verschanzt. „Man darf nicht allzu sehr in der Vergangenheit wühlen“, fügt der Kommissar hinzu. Modianos Erzähler wühlt nicht in ihr, er durchschreitet sie, erhält aber nie den Überblick.
Eine so subtile und in den Mittellagen reichhaltige Literatur stellt an die Übersetzung hohe Ansprüche. Elisabeth Edl, die Modianos Werk seit bald zwanzig Jahren übersetzt, zeichnet die feinsten Nuancen, die Assoziationsbewegungen des Erinnerns bis in den Satzbau hinein genau nach und schafft einen auch auf Deutsch vollkommen stimmigen Klang. Wo nötig, retuschiert sie Einzelheiten, wenn etwa schon im Titel die Pluralform der Nächte aus dem Original „L’herbe des nuits“ sanft auf die Gräser übergeht. Im Halbdunkel dieser Nacht spannt sich ein flimmerndes Panorama auf.
JOSEPH HANIMANN
Patrick Modiano: Gräser der Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2014. 176 Seiten, 18,90 Euro. E-Book 12,99 Euro.
„Hier hat doch Paul Chastagnier
immer sein Auto geparkt.“
Bis in feinste Nuancen bildet
die Übersetzung den Klang nach
Ein artistischer Archivar: Patrick Modiano.
Foto: Franck Courtes/VU/laif
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Am Montag erscheint Patrick Modianos neuer Roman „Gräser der Nacht“ – der perfekte Einstieg ins Werk des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers
Wer seit Patrick Modianos Erstlingsroman „La Place de l’Étoile“ aus dem Jahr 1968 den Einstieg ins Werk des Nobelpreisträgers verpasst hat, dem wird hier eine außerordentliche Chance geboten. Sein neuer Roman „Gräser der Nächte“ vereint wie wenige andere zuvor so ziemlich alles, was die Qualität dieser großen zeitgenössischen Erinnerungsliteratur ausmacht und enthält bis in die feinsten Nebentöne den unverwechselbaren Modiano-Sound. Das Bestreben, das Nachglühen vergangener Ereignisse gleichsam rückwärts zu überholen und das Licht der alten Gegenwart noch einmal strahlen zu lassen, wird in diesem Buch ständig mitreflektiert.
Der mit lückenhaften Aufzeichnungen in einem alten Notizheft durchs Pariser Montparnasse-Viertel irrende Erzähler spürt sehr genau, dass da in seinem Leben einmal etwas Bedeutsames sich abspielte. Es ist ihm, als ob „ein anderes Ich, ein Zwilling, sich in dieser Gegend herumtriebe, ohne gealtert zu sein“, und ihm kaum vernehmbare Zeichen gäbe. Er kann die Erinnerungsfetzen aber an keinem realen Ort mehr festmachen. Die vertrauten Straßen und Häuser blicken ihn an wie ein ausgestopfter Hund. Dann aber, vor der Hausnummer 11 der Rue d’Odessa, kommt plötzlich der Einfall, wie ein leichtes Schwindelgefühl, das der Proustschen Erfahrung mit dem Stück Madeleine nicht ganz unähnlich ist: Hier hat doch Paul Chastagnier immer sein Auto geparkt.
Wie sich von da an im Buch die Gedächtniswolken lichten und immer neue Durchblicke freigeben, zeugt von einer Meisterschaft, die nur den Größten des Genres gegeben ist. Statt Erinnerungsrausch, Geborgenheitsglück beim Einschlafen, Belle-Époque-Geraschel und bis in die Ewigkeit fortdauerndem Tafelgeklirr aus dem Salon gibt es bei Modiano aber nur die ständig wiederkehrende Ungewissheit, ob da tatsächlich mal was war. Eine „wiedergefundene Zeit“ kommt bei ihm nicht vor. Vorgesehen ist vielmehr ein dauerndes Weiterirren durch die Straßen auf den Spuren einer aus der Zeit ragenden Situation wie der mit jenem Mädchen, das der Erzähler vor Jahrzehnten kennenlernte und bald wieder verlor.
Aus seinen Aufzeichnungen und aus der realen Stadttopografie versucht er, die Dinge zu rekonstruieren. Da war die Bekanntschaft mit der angeblichen Studentin, die sich damals Dannie nannte. Da waren ihre ausweichenden Antworten und ihr etwas seltsames Verhalten sowie die undurchschaubaren Männer, mit denen sie im Unic Hotel verkehrte. Es gab auch die diskreten Warnungen vor diesem Milieu, die Hinweise auf Schüsse, die in einer Wohnung gefallen sein sollen, sowie die Vorladung des Erzählers aufs Polizeikommissariat. All diese Erinnerungen wirbeln wie in einem unterbelichteten Schwarz-Weiß-Film von Georges Franju durcheinander im Paris der frühen Sechzigerjahre und seinen mysteriös gebliebenen Affären. Ungeklärt ist beispielsweise bis heute das spurlose Verschwinden des marokkanischen Oppositionspolitikers Mehdi Ben Barka 1965, auf das die Romanhandlung offensichtlich anspielt. Mit seiner stets etwas unheimlichen Spannung ist dieser Roman ein Thriller ohne eigentliche Events, ein Liebesroman ohne Liebesszenen, ein Schlüsselroman ohne Schlüssel.
Mit seinen Aufzeichnungen und seinen Träumen, zuletzt auch mit der ihm ausgehändigten Polizeiakte, kreist der Erzähler zwischen damals und heute die Ereignisse ein. Manchmal ist da das Handy, an dem ein Tischnachbar im Café gerade herumfingert, der einzige Hinweis dafür, dass er in der Gegenwart sitzt. Doch Gegenwart und Vergangenheit gibt es für ihn eigentlich gar nicht, das eine geht ins andere über, wie vor einem erleuchteten Fenster, das ein Gefühl von Gegenwart und Abwesenheit zugleich vermittelt. „Wir bedauern, Ihre Ansprüche sind erloschen“, steht auf einem Zettel, den ein Geldautomat statt der Banknoten ausspuckt, und es scheint dem Erzähler, hätte es in seiner Jugend schon Geldautomaten gegeben, wäre die Antwort auf sein Leben schon damals dieselben gewesen. Ansprüche erloschen.
Modiano ist aber ein zu feinsinniger Autor, als dass er sich auf „nie ganz vergangen“ und „nie ganz gewesen“ festlegen würde. Die literarischen, zeitgeschichtlichen, politischen, städtebaulichen Motive verbinden sich bei ihm in ungeheurer Dichte, gerade in diesem Buch. Neben den Namen von Personen und Orten enthält das Notizheft seines Erzählers auch Skizzen für einen angefangenen Roman mit Angaben über die 1794 guillotinierte Marie-Anne Leroy, über den symbolistischen Dichter Tristan Corbière oder über die junge Gattin des belgischen Königs Leopold II., die 1948 verstorbene Baronne Blanche, die er mit der Rue Blanche, der zeitweiligen Wohnadresse seiner Freundin Dannie in Verbindung bringt.
Während andere Autoren aus dieser Vielzahl von Motiven eine mehr oder weniger bündige Handlung schnüren würden, werden bei Modiano damit nur flüchtige Licht- und Schatteneffekte aufs Geschehnisse geworfen, wie unter dahintreibenden Wolken. Bei einem Landaufenthalt verliert der Erzähler sein angefangenes Romanmanuskript. Statt es zu rekonstruieren, lässt der junge Schriftsteller es in der Halbvergessenheit. Das Verlorene kommt ihm vor wie ein abwesendes Andenken – „eine getrocknete Blume, ein vierblättriges Kleeblatt“. Im Licht der für Modiano so charakteristischen leichtfüßigen Melancholie bleibt das Vergangene in einer Ferne, wo es gerade noch spürbar, aber nicht mehr fassbar ist. Zwar meldet sich immer wieder der Wunsch, danach zu greifen, doch er wird fortwährend aufgeschoben. „Wozu auch?“ lautet ein im Roman häufig wiederkehrender Ausdruck.
Das Autobiografische ist bei Modiano nie Gegenstand, immer nur Rohstoff. Deshalb ist sein Werk frei davon, abrechnen, aufräumen, Licht und Schatten trennen zu wollen. „Sehen Sie das Gebäude aus rotem Backstein dort drüben?“ – fragt der Polizeikommissar den Erzähler, als er ihm seine Akte aushändigt. Eine Frau sei da an die Wand gestellt und von hinten erschossen worden. Dann habe man gemerkt, dass es ein Irrtum war. Falsche Widerstandskämpfer hätten sich bei der Befreiung von Paris im Gebäude verschanzt. „Man darf nicht allzu sehr in der Vergangenheit wühlen“, fügt der Kommissar hinzu. Modianos Erzähler wühlt nicht in ihr, er durchschreitet sie, erhält aber nie den Überblick.
Eine so subtile und in den Mittellagen reichhaltige Literatur stellt an die Übersetzung hohe Ansprüche. Elisabeth Edl, die Modianos Werk seit bald zwanzig Jahren übersetzt, zeichnet die feinsten Nuancen, die Assoziationsbewegungen des Erinnerns bis in den Satzbau hinein genau nach und schafft einen auch auf Deutsch vollkommen stimmigen Klang. Wo nötig, retuschiert sie Einzelheiten, wenn etwa schon im Titel die Pluralform der Nächte aus dem Original „L’herbe des nuits“ sanft auf die Gräser übergeht. Im Halbdunkel dieser Nacht spannt sich ein flimmerndes Panorama auf.
JOSEPH HANIMANN
Patrick Modiano: Gräser der Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2014. 176 Seiten, 18,90 Euro. E-Book 12,99 Euro.
„Hier hat doch Paul Chastagnier
immer sein Auto geparkt.“
Bis in feinste Nuancen bildet
die Übersetzung den Klang nach
Ein artistischer Archivar: Patrick Modiano.
Foto: Franck Courtes/VU/laif
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