Jean Bosmans schreibt an seinen Erinnerungen über seine Jugendzeit und beginnt sich an Einzelheiten seiner Begegnung mit Margaret Le Coz zu erinnern, mit der er eine paar Monate dauernde Liaison hatte. Was sie zusammen geführt hatte, war eine gemeinsame Ahnung der bevorstehenden Gefahr durch die beginnenden Verfolgungen. Jean Bosmans macht sich auf, nach Margaret zu suchen. Ausgezeichnet mit dem Prix Simone und dem Prix Duca 2010.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2013Dinge, die nicht von dieser Welt sind
Auf das Konto solcher Figuren lässt sich allerlei Unheil buchen: Patrick Modiano treibt in seinem Roman "Der Horizont" ein weit komplexeres Spiel als bloß Vergangenheitsschau.
Es gibt Autoren, deren Bücher man kauft, weil sie die eigene Leseerwartung nie enttäuschen. Man weiß, was man hat, weil man es bereits hatte und in Zukunft wieder haben will. Es ist, als machte man jedes Jahr Ferien im selben Hotel, mit seinen Stammgästen, Gerüchen, Geräuschen, dem alterslosen und immer freundlichen Personal.
Mit jedem neuen der komfortabel schmalen Romane des Franzosen Patrick Modiano, der in Deutschland erst vor knapp zehn Jahren durch Peter Handkes Übersetzungen bekannt wurde, stellt sich dieses Gefühl von gediegener Wiedersehensfreude ein. Das Wort "gediegen" passt ziemlich gut zu Modianos Prosa. Denn immer ist es ein zufälliges Ereignis, das einen Menschen im reifen Alter an seine verflossene Jugend erinnert. Aus einem Strom irregulärer Erinnerungen setzt der Ich-Erzähler dem Leser dann eine oft mysteriöse, jedenfalls durch die zeitliche Distanz und das einsetzende Senilitätsproblem nicht eben lupenreine Geschichte vor. In letzter Zeit hatte sich Modiano à la Proust an den Biographien junger Frauen, beispielsweise junger Frauen im Zweiten Weltkrieg oder im Paris der sechziger Jahre, versucht. In seinem knapp 180 Seiten schmalen neuen Roman "Der Horizont" wird die Rückblendenmaschine wieder von einem Mann bedient - wie sich andeutet, einem arrivierten Schriftsteller, in dem man ein Alter Ego Modianos erkennen kann, aber nicht muss.
Nach bewährter Rezeptur erinnert sich ein gewisser Jean Bosmans an sich selbst als "junger Hund" (so ungefähr hieß einer der letzten Romane) und lässt Gesichter, Geschichten sowie sein eigenes Leben Revue passieren. Ihm geht es dabei nur bedingt gut, denn "Schwindel erfasste ihn bei dem Gedanken an das, was hätte sein können und nicht gewesen ist". Dies ist die Poetologie des Sentiments, das gleichsam den Erzählanlass jedes Modiano-Romans bildet. Das Schwelgen in der Vergangenheit führt zu Kollektivierung und eben nicht zu erlesener Vereinzelung. Mit einem solchen Generationenvertrag gewinnt man seine Leser: Eine Jugend, Flausen, Fehltritte, obsessive Liebschaften, Illusionen - das sind Erfahrungen eines Jedermann. Und was folglich für Proust die Madeleine war, ist für den Leser nun Modiano selbst. Der Autor ist eine Art Medium, ein Mittel zur Erinnerung. Aufgrund seines Talents zur eleganten Vergangenheitsmeditation gehört dieser Franzose also unbedingt zu den Komfortschriftstellern des Dritten Lebensalters. Aber auch als jüngerer Leser empfindet man durchaus Rührung, wenn Modiano seine Figuren durch das "Vieux Paris" der sechziger Jahre streifen lässt, vorbei an bekannten Fixpunkten wie den einschlägigen Metrostationen, Straßen, Plätzen und Stadtvierteln, auf die man damals noch nicht das Etikett der Gentrifizierung heften konnte, sondern wahlweise das des Fortschritts (La Défense), der Moderne (Bibliothèque Nationale) oder des Populären und Kleinbürgerlichen (Bastille).
Das wäre die diskursanalytische Lesart des Systems Modiano. Andererseits wird man diesem Autor dabei überhaupt nicht gerecht. Erst nach fortgeschrittener Lektüre nämlich, vielleicht sogar erst beim dritten oder vierten Buch wird klar, worin die eigentliche Verführungskraft dieser Prosa liegt. Modianos Stereotype von jungen Frauen und Männern mit oft düsterer Vergangenheit und der Aura von Geheimnisträgern sind nur vordergründiges Mittel zum Zweck. Paris bleibt ein Grundriss, auf dem Personen, die uns vermeintlich ähneln, ein ziemlich frankensteinhaftes Leben führen. Die Freundin des jungen Bosmans ist Kindermädchen bei einem bourgeoisen Pariser Ehepaar - er Staatsanwalt, sie Richterin -, beide blutleere Gestalten, die durch ihr eigenes Haus schweben wie Gespenster und Bosmans' Freundin - ist sie überhaupt seine Freundin? - eines Tages ohne jede Erklärung entlassen. Margaret Le Coz heißt die junge Frau, die in Berlin-Reinickendorf geboren wurde und von einem pockennarbigen Typen namens Boyaval, Spitzname "Das Mammut", gestalked wird.
Sowohl die Absichten als auch die Identität des schauerromantischen Grobians werden kaum schlüssig aufgeklärt. Das hübsche Kammerspiel auf Pariser Pittoresquen bekommt bald etwas Psychotisches. Denn auch Bosmans wird von dubiosen Figuren verfolgt - ein Paar, angeblich oder vorgeblich seine Mutter und ihr Ehemann. "Die Rothaarige und der aus der Kutte gesprungene Pfarrer" sind feindselige Zeitgenossen, die von Bosmans mitten auf der Straße Geld erpressen, das er ihnen aus ganz und gar undeutlichen Gründen jedes Mal gibt. Ein weiteres Indiz dafür, dass Modiano mit dem Leser ein weitaus komplexeres Spiel treibt als bloße Vergangenheitsschau: Bosmans jobbte in seiner Jugend in einer Buchhandlung, die auf Okkultismus abonniert war, auf Dinge also, die nicht von dieser Welt sind. Das passt gut zu Jean und Margaret, denn sie sind selbst Ortlose: "Keine Familie. Keine Zuflucht. Hergelaufene."
Auf das Konto solcher Figuren lässt sich schon in den Grimmschen Märchen allerlei Unheil buchen. Hänsel und Gretel stehen unter der Fuchtel einer bösen Hexe. Bei Agota Kristof, die dieses Motiv aufgreift, muss sich ein Zwillingspaar während eines nicht weiter bezeichneten Krieges bei einer bösartigen Großmutter durchschlagen und übt sich dort auf faszinierend verstörende Weise in physischer und moralischer Verrohung. Modiano schreibt in immer neuen Variationen - und diese Variationen bilden das poetologische Gerüst seines Werks - über die ewige Wiederkehr des Verdrängten: verschollene Mütter oder gewalttätige Väter, Zwangshandlungen, Kriegstraumata, Mischehen, albtraumhafte Doppelgänger. "Ich muss nur über die Brücke gehen, wenn ich morgens ins Büro will", sagt der von Bosmans Jahrzehnte später aufgespürte Stalker von Margaret Le Coz, jetzt Immobilienhändler im neupariserischen Stadtteil Bercy. Und Boyaval, das Mammut, setzt nach: "Ich komme praktisch nie ins alte Paris."
Wenn man Patrick Modianos Romane genau liest, ist es auf einmal glasklar: Auch man selbst ist mit ihm nie im "alten Paris" gewesen. Vielmehr endet der neue Roman in einer Berliner Buchhandlung, die sich auf russische Literatur spezialisiert hat und in der eine in die Jahre gekommene Französin arbeitet. Margaret scheint nach ihrer überstürzten Abreise aus dem Paris der sechziger Jahre an den Ort ihrer Geburt zurückgegangen zu sein. Auch Bosmans kehrt an einen Ursprung zurück: "Er war vom Gehen müde. Aber dieses eine Mal spürte er ein Gefühl innerer Ruhe und die Gewissheit, genau an den Ort zurückgekehrt zu sein, von dem er eines Tages aufgebrochen war, an die gleiche Stelle, zur gleichen Stunde und in die gleiche Jahreszeit, so wie zwei Zeiger sich auf dem Zifferblatt treffen, wenn Mittag ist." Es ist eine Stunde null, um die Modiano, selbst erster Nachkriegsjahrgang 1945, seine Figuren wie die Zeiger einer großen Geschichtsuhr kreisen lässt.
KATHARINA TEUTSCH
Patrick Modiano: "Der Horizont". Roman.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2013. 174 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf das Konto solcher Figuren lässt sich allerlei Unheil buchen: Patrick Modiano treibt in seinem Roman "Der Horizont" ein weit komplexeres Spiel als bloß Vergangenheitsschau.
Es gibt Autoren, deren Bücher man kauft, weil sie die eigene Leseerwartung nie enttäuschen. Man weiß, was man hat, weil man es bereits hatte und in Zukunft wieder haben will. Es ist, als machte man jedes Jahr Ferien im selben Hotel, mit seinen Stammgästen, Gerüchen, Geräuschen, dem alterslosen und immer freundlichen Personal.
Mit jedem neuen der komfortabel schmalen Romane des Franzosen Patrick Modiano, der in Deutschland erst vor knapp zehn Jahren durch Peter Handkes Übersetzungen bekannt wurde, stellt sich dieses Gefühl von gediegener Wiedersehensfreude ein. Das Wort "gediegen" passt ziemlich gut zu Modianos Prosa. Denn immer ist es ein zufälliges Ereignis, das einen Menschen im reifen Alter an seine verflossene Jugend erinnert. Aus einem Strom irregulärer Erinnerungen setzt der Ich-Erzähler dem Leser dann eine oft mysteriöse, jedenfalls durch die zeitliche Distanz und das einsetzende Senilitätsproblem nicht eben lupenreine Geschichte vor. In letzter Zeit hatte sich Modiano à la Proust an den Biographien junger Frauen, beispielsweise junger Frauen im Zweiten Weltkrieg oder im Paris der sechziger Jahre, versucht. In seinem knapp 180 Seiten schmalen neuen Roman "Der Horizont" wird die Rückblendenmaschine wieder von einem Mann bedient - wie sich andeutet, einem arrivierten Schriftsteller, in dem man ein Alter Ego Modianos erkennen kann, aber nicht muss.
Nach bewährter Rezeptur erinnert sich ein gewisser Jean Bosmans an sich selbst als "junger Hund" (so ungefähr hieß einer der letzten Romane) und lässt Gesichter, Geschichten sowie sein eigenes Leben Revue passieren. Ihm geht es dabei nur bedingt gut, denn "Schwindel erfasste ihn bei dem Gedanken an das, was hätte sein können und nicht gewesen ist". Dies ist die Poetologie des Sentiments, das gleichsam den Erzählanlass jedes Modiano-Romans bildet. Das Schwelgen in der Vergangenheit führt zu Kollektivierung und eben nicht zu erlesener Vereinzelung. Mit einem solchen Generationenvertrag gewinnt man seine Leser: Eine Jugend, Flausen, Fehltritte, obsessive Liebschaften, Illusionen - das sind Erfahrungen eines Jedermann. Und was folglich für Proust die Madeleine war, ist für den Leser nun Modiano selbst. Der Autor ist eine Art Medium, ein Mittel zur Erinnerung. Aufgrund seines Talents zur eleganten Vergangenheitsmeditation gehört dieser Franzose also unbedingt zu den Komfortschriftstellern des Dritten Lebensalters. Aber auch als jüngerer Leser empfindet man durchaus Rührung, wenn Modiano seine Figuren durch das "Vieux Paris" der sechziger Jahre streifen lässt, vorbei an bekannten Fixpunkten wie den einschlägigen Metrostationen, Straßen, Plätzen und Stadtvierteln, auf die man damals noch nicht das Etikett der Gentrifizierung heften konnte, sondern wahlweise das des Fortschritts (La Défense), der Moderne (Bibliothèque Nationale) oder des Populären und Kleinbürgerlichen (Bastille).
Das wäre die diskursanalytische Lesart des Systems Modiano. Andererseits wird man diesem Autor dabei überhaupt nicht gerecht. Erst nach fortgeschrittener Lektüre nämlich, vielleicht sogar erst beim dritten oder vierten Buch wird klar, worin die eigentliche Verführungskraft dieser Prosa liegt. Modianos Stereotype von jungen Frauen und Männern mit oft düsterer Vergangenheit und der Aura von Geheimnisträgern sind nur vordergründiges Mittel zum Zweck. Paris bleibt ein Grundriss, auf dem Personen, die uns vermeintlich ähneln, ein ziemlich frankensteinhaftes Leben führen. Die Freundin des jungen Bosmans ist Kindermädchen bei einem bourgeoisen Pariser Ehepaar - er Staatsanwalt, sie Richterin -, beide blutleere Gestalten, die durch ihr eigenes Haus schweben wie Gespenster und Bosmans' Freundin - ist sie überhaupt seine Freundin? - eines Tages ohne jede Erklärung entlassen. Margaret Le Coz heißt die junge Frau, die in Berlin-Reinickendorf geboren wurde und von einem pockennarbigen Typen namens Boyaval, Spitzname "Das Mammut", gestalked wird.
Sowohl die Absichten als auch die Identität des schauerromantischen Grobians werden kaum schlüssig aufgeklärt. Das hübsche Kammerspiel auf Pariser Pittoresquen bekommt bald etwas Psychotisches. Denn auch Bosmans wird von dubiosen Figuren verfolgt - ein Paar, angeblich oder vorgeblich seine Mutter und ihr Ehemann. "Die Rothaarige und der aus der Kutte gesprungene Pfarrer" sind feindselige Zeitgenossen, die von Bosmans mitten auf der Straße Geld erpressen, das er ihnen aus ganz und gar undeutlichen Gründen jedes Mal gibt. Ein weiteres Indiz dafür, dass Modiano mit dem Leser ein weitaus komplexeres Spiel treibt als bloße Vergangenheitsschau: Bosmans jobbte in seiner Jugend in einer Buchhandlung, die auf Okkultismus abonniert war, auf Dinge also, die nicht von dieser Welt sind. Das passt gut zu Jean und Margaret, denn sie sind selbst Ortlose: "Keine Familie. Keine Zuflucht. Hergelaufene."
Auf das Konto solcher Figuren lässt sich schon in den Grimmschen Märchen allerlei Unheil buchen. Hänsel und Gretel stehen unter der Fuchtel einer bösen Hexe. Bei Agota Kristof, die dieses Motiv aufgreift, muss sich ein Zwillingspaar während eines nicht weiter bezeichneten Krieges bei einer bösartigen Großmutter durchschlagen und übt sich dort auf faszinierend verstörende Weise in physischer und moralischer Verrohung. Modiano schreibt in immer neuen Variationen - und diese Variationen bilden das poetologische Gerüst seines Werks - über die ewige Wiederkehr des Verdrängten: verschollene Mütter oder gewalttätige Väter, Zwangshandlungen, Kriegstraumata, Mischehen, albtraumhafte Doppelgänger. "Ich muss nur über die Brücke gehen, wenn ich morgens ins Büro will", sagt der von Bosmans Jahrzehnte später aufgespürte Stalker von Margaret Le Coz, jetzt Immobilienhändler im neupariserischen Stadtteil Bercy. Und Boyaval, das Mammut, setzt nach: "Ich komme praktisch nie ins alte Paris."
Wenn man Patrick Modianos Romane genau liest, ist es auf einmal glasklar: Auch man selbst ist mit ihm nie im "alten Paris" gewesen. Vielmehr endet der neue Roman in einer Berliner Buchhandlung, die sich auf russische Literatur spezialisiert hat und in der eine in die Jahre gekommene Französin arbeitet. Margaret scheint nach ihrer überstürzten Abreise aus dem Paris der sechziger Jahre an den Ort ihrer Geburt zurückgegangen zu sein. Auch Bosmans kehrt an einen Ursprung zurück: "Er war vom Gehen müde. Aber dieses eine Mal spürte er ein Gefühl innerer Ruhe und die Gewissheit, genau an den Ort zurückgekehrt zu sein, von dem er eines Tages aufgebrochen war, an die gleiche Stelle, zur gleichen Stunde und in die gleiche Jahreszeit, so wie zwei Zeiger sich auf dem Zifferblatt treffen, wenn Mittag ist." Es ist eine Stunde null, um die Modiano, selbst erster Nachkriegsjahrgang 1945, seine Figuren wie die Zeiger einer großen Geschichtsuhr kreisen lässt.
KATHARINA TEUTSCH
Patrick Modiano: "Der Horizont". Roman.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2013. 174 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main