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"Definierbar", so Friedrich Nietzsche, sei nur, "was keine Geschichte hat." Das Problem einer verbindlichen Definition von Liberalismus ist selbst das Ergebnis eines komplexen historischen Prozesses, in dem aus antiken Ursprüngen, aus liberalis und liberalitas, und aus vorpolitischen Bedeutungen schließlich der moderne Begriff Liberalismus entstand. Aber innerhalb des Umbruchs der altständischen Lebenswelt seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts bündelten sich in der Geschichte des neuartigen Deutungsmusters Liberalismus ganz unterschiedliche Erfahrungen und Erwartungen der Zeitgenossen. Eine…mehr

Produktbeschreibung
"Definierbar", so Friedrich Nietzsche, sei nur, "was keine Geschichte hat." Das Problem einer verbindlichen Definition von Liberalismus ist selbst das Ergebnis eines komplexen historischen Prozesses, in dem aus antiken Ursprüngen, aus liberalis und liberalitas, und aus vorpolitischen Bedeutungen schließlich der moderne Begriff Liberalismus entstand. Aber innerhalb des Umbruchs der altständischen Lebenswelt seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts bündelten sich in der Geschichte des neuartigen Deutungsmusters Liberalismus ganz unterschiedliche Erfahrungen und Erwartungen der Zeitgenossen. Eine europäisch komparative Untersuchung der historischen Semantik und die Rekonstruktion der zeitgenössischen Debatten über Gehalt und Strategie von Liberalismus vermitteln Einsichten in die Wahrnehmung vergangener Gegenwart, ohne die sich politisches Denken und Handeln in der Schwellenepoche des 19. Jahrhunderts nicht nachvollziehen lassen. Aus der quellennahen und systematischen Gegenüberstellung der Ursprünge und Wandlungen von libéralisme, Liberalismus, liberalismo und liberalism in Frankreich, Deutschland, Italien und England ergibt sich die Vielgestaltigkeit des Phänomens: Mit dem historisch-semantischen Vierländervergleich trägt die Arbeit über begriffsgeschichtliche Unterscheidungsmerkmale zu einer Typologie epochenspezifischer Liberalismen im europäischen Kontext bei.
Autorenporträt
Jörn Leonhard, geboren 1967, ist Professor für Geschichte des Romanischen Westeuropa am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie Direktor der School of History des Freiburg Institute for Advanced Studies. Für seine Leistungen in der vergleichenden Geschichtswissenschaft wird er 2010 mit dem Landesforschungspreis für Grundlagenforschung des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nicht weniger als eine Pionierstudie stellt dieser Band für unseren Rezensenten dar. Ein Buch über den Liberalismus, so Eckart Conze, das Maßstäbe setzt für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema. Als Ausgangspunkt der "magistralen Studie" sieht Conze den Wunsch des Autors, Dieter Langeswiesches Wort von den Liberalen, die die Welt verändern wollten, zu differenzieren: "Liberale wollten zu je unterschiedlichen Zeiten eine je unterschiedliche Welt verändern." Von hier aus entwickelt der Autor seine vergleichende Untersuchung der historischen Semantik von Liberalismus im 19. Jahrhundert und seine Vorstellung eines homogenen Liberalismus. In der komparatistischen Perspektive der Arbeit erkennt Conze die Chance, "semantische Sonderwege" zu identifizieren: Wie in Frankreich aus dem Oppositionsbegriff "liberal" ein Zentralbegriff der Juli-Monarchie wurde, wie der Begriff im Deutschland der Metternich-Ära wiederum vom antirevolutionären zum Oppositionsbegriff sich wandelte, und wie Liberalismus in England für ein politische Kultur der Kontinuität stehen konnte. Dass der Autor "diese politische Diskursanalyse" zurückzubinden versteht an die sozialisatorische Frage nach den Trägergruppen des Diskurses, ist für den Rezensenten ein weiteres Plus der Untersuchung.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2002

Sind so freie Geister
Mit Jörn Leonhard zu den semantischen Quellen des Liberalismus
Was Liberale eigentlich wollen, ist eine nicht nur tagesaktuelle Frage, und sie findet ihre Antwort auch nicht im Hinweis auf das „Projekt 18” oder eine Kanzlerkandidatur. „Liberale wollten die Welt verändern.” Mit diesem Satz begann Dieter Langewiesche 1988 seine Geschichte des Liberalismus in Deutschland. Jörn Leonhard teilt diesen Befund, doch möchte er ihn differenzieren. Liberale wollten zu je unterschiedlichen Zeiten eine je unterschiedliche Welt verändern. Aus dieser einleuchtenden, wenn auch vagen These entwickelt Leonhard seine vergleichende Untersuchung der historischen Semantik von Liberalismus im 19. Jahrhundert. Die magistrale Studie, die der in England lehrende Historiker vorlegt, ist freilich keine umfassende Darstellung des Liberalismus, sondern vielmehr ein Atlas des europäischen Liberalismus im 19. Jahrhundert, der die semantischen Landkarten unterschiedlicher politisch-sozialer Landschaften im zeitlichen Längsschnitt aufnimmt und miteinander verknüpft. Das umfangreiche Kartenwerk widerspricht so schon von der Anlage her der Vorstellung eines homogenen und statischen Liberalismus. Wichtigster Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Wandel der politischsozialen Sprache in der Zeit zwischen 1750 und 1850, in Reinhart Kosellecks „Sattelzeit” also. Für Koselleck wurden während jener Phase tiefgreifender und grundstürzender Transformation aus vergangenen „moderne” Begriffe. Bestimmte Leit- und Grundbegriffe luden sich ideologisch und mit spezifischen Erwartungen und Zielen auf; durch Verzeitlichung und Politisierung entstanden wirkmächtige Bewegungsbegriffe. Das begriffsgeschichtliche Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe”, von Koselleck, Brunner und Conze herausgegeben, war der Versuch, diesen Wandel historisch- analytisch zu fassen und damit auch jene „babylonische Sprachverwirrung” zunächst zu erklären und dann aufzulösen, die Carl von Rotteck schon 1837 in seinem Staatslexikon konstatierte.
Den „Geschichtlichen Grundbegriffen” ist verschiedentlich vorgehalten worden, traditionell ideengeschichtlich vorzugehen und auf eine sozialhistorische Konturierung der semantischen Bestimmungen, auf eine sozialhistorische Semantik zu verzichten. Diese Kritik gewann Auftrieb vor allem im Zeichen der linguistischen und konstruktivistischen Wende in der Geschichtswissenschaft. Diese Kritik öffnet und weitet Begriffsgeschichte nicht nur sozialhistorisch, sondern auch diskursanalytisch, indem sie, nicht zuletzt mit Michel Foucault, eine schärfere Analyse der Voraussetzungen kommunikativen Handelns einfordert.
Damit sind die wesentlichen Ansätze benannt, die der Arbeit Leonhards zugrunde liegen und die seine Auseinandersetzung mit dem Liberalismus in Deutschland, dem liberalism in England, dem libéralisme in Frankreich und dem liberalismo in Italien bestimmen. Wie entstanden, entwickelten und veränderten sich Bedeutung, Gebrauch und Verständnis der Deutungsmuster Liberalität / liberal / Liberale / Liberalismus zwischen Französischer Revolution und der Mitte des 19. Jahrhunderts? Welche Konjunkturen der Begriffsverwendung lassen sich aufzeigen? Gab es Berührungspunkte zwischen den verschiedenen nationalen Begriffsfeldern? Existierten semantische Transferprozesse? Wie wirkten unterschiedliche Erfahrungshintergründe und Erwartungshorizonte auf das Begriffsverständnis von Liberalismus ein? Die komparatistische Perspektive, die diesen Fragen innewohnt, ist offen. Sie zielt auf Gemeinsamkeiten und auf Unterschiede; nicht zuletzt eröffnet sie die Möglichkeit, „semantische Sonderwege” zu identifizieren. Und in der Tat spricht der Autor am Ende seiner Studie nicht von dem Liberalismus und der Sattelzeit, sondern von typologischen Liberalismen und semantischen Sattelzeiten.
Die Vorreiterfunktion für die Genese und den Wandel des Begriffsfeldes in Kontinentaleuropa kam Frankreich zu. Die Erfahrung der Französischen Revolution stieß Prozesse der Begriffspolitisierung und -ideologisierung an, die dann weit über das Mutterland der Revolution hinauswirkten, sei es als direkter Begriffsexport, sei es als indirekter Bedeutungstransport, wie Leonhard so subtil wie treffend unterscheidet. In Frankreich selbst bewirkten die dichte Abfolge der politisch-konstitutionellen Krisen, aber auch die sozialen und sozialkulturellen Veränderungen seit 1789 eine enorme Dynamisierung des Begriffsfeldes, welches bereits um 1820 alle vorpolitischen und vorideologischen Inhalte hinter sich gelassen hatte. Nur ein Jahrzehnt später, 1830, war aus dem Oppositionsbegriff „libéral” ein Zentral- und Generalbegriff der Juli-Monarchie geworden.
Anders als in Frankreich dominierte in Deutschland bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein Liberalismusverständnis den politischen Diskurs, das Liberalismus vor allem als Verkörperung universeller und zivilisatorischer Prinzipien ansah, ein im Sinne der Aufklärung fortschrittsgewisses und damit antirevolutionäres Begriffsverständnis, das auch die Staatsnähe – als Staatshoffnung – deutscher Liberaler erklärt. Erst die repressive staatliche Politik der Ära Metternich lud das deutsche Liberalismusverständnis politisch auf, ließ aus Liberalismus einen Oppositionsbegriff werden. Aber noch in der Gegensatzkonstruktion liberal – radikal scheint das ursprüngliche und vorpolitische deutsche Liberalismusverständnis auf. Die Langlebigkeit dieser vorpolitischen Dimension gehört zu den definierenden Merkmalen der deutschen Entwicklung. Im Begriff des „Unpolitischen”, unter anderem bei Thomas Mann, lässt sie sich bis ins 20. Jahrhundert aufweisen: als ein Verständnis bürgerlicher, national überformter Liberalität, das vom politischen Richtungsbegriff des Liberalismus weit entfernt ist.
In Italien wurde die historische Semantik von Liberalismus zunächst durch die Französische Revolution und napoleonische Herrschaft bestimmt, später, nach 1815 durch die von der römischen Kurie vorgenommene Antagonismuskonstruktion liberalismo – cattolicismo. Das zwang italienische Liberale, in jedem Einzelstaat auf andere Weise, in erster Linie zur Positionsnahme in der Frage der Revolutionsbefürwortung und führte so zur politischen Ausdifferenzierung.
Der englische Diskurs schließlich unterscheidet sich grundlegend vom kontinentaleuropäischen. Sattelzeit ist hier das 17. Jahrhundert mit seinen politischen Umwälzungen. Noch zwei Jahrhunderte später kristallisierte sich derjenige Diskurs, der sich auf dem Kontinent mit dem Wort „liberal” verband, an die Bezeichnungen „whig” und „tory” an, die sich erst ganz allmählich mit den Begriffen „liberal” und „conservative” verbanden. Die Verknüpfung der Begriffe unterstreicht und erklärt, warum „liberal” in England lange Zeit nicht zum ideologisierten Oppositions- und Bewegungsbegriff werden konnte, sondern, im Gegenteil, eine politischen Kultur der Kontinuität und der Evolution herausbilden und stabilisieren half, wie sie nicht zuletzt in der „whig interpretation of history” ihren Ausdruck gefunden hat.
Diese politische Diskursanalyse ergänzt Leonhard um Ansätze einer sozialhistorischen Rückbindung der Semantik, nicht zuletzt durch die Frage nach den Trägergruppen des Diskurses. Und gerade weil Geschichte niemals in ihrer sprachlichen Erfassung und Verarbeitung aufgehen kann, liegt hier ein weites und wichtiges Terrain für künftige Forschung. Diese wird indes an der Pionierstudie von Leonhard nicht vorbei kommen, die Maßstäbe gesetzt hat für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema.
ECKART CONZE
JÖRN LEONHARD: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. Oldenbourg Verlag, München 2001. 799 S., 79,85 Euro.
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"Daß dieses Werk als Doktorarbeit daherkommt, ist eigentlich ein Namensmißbrauch, sofern man nach dem Gesellenstück noch Freiraum erkennen will für eine Steigerung. Leonhard ist mit seinem Erstlingsbuch ein grundlegendes Werke zum europäischen Liberalismus im 18. und 19. Jahrhundert und zugleich zur Methodik der historischen Semantik gelungen. Wer sich mit einem dieser beiden Themenfelder künftig beschäftigen will, muß dieses Werk Seite für Seite, und davon gibt es viele, sorgfältig studieren." Dieter Langewiesche in: Neue Politische Literatur 47/3 (2002) "Diese [die künftige Forschung] wird indes an der Pionierstudie von Leonhard nicht vorbei kommen, die Maßstäbe gesetzt hat für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema." Eckart Conze, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.06.2002 "Zukünftige Forschungen zur Begriffs- und modernen Ideengeschichte sowie zum Liberalismus werden daher in dieser Arbeit die Maßstäbe für jede weitere Beschäftigung mit sprachlicher Erfassung und Verarbeitung von Geschichte finden." (Christian Müller, H-Soz-u-Kult, März 2003)