Jeder kennt die Welt der Piraten als abenteuerliches Universum aus Holzbein, Säbelkampf und Totenkopfflagge. Doch nur wenige wissen, dass viele Seeräuber ihre Beute teilten, demokratische Versammlungen abhielten und entlaufene Sklaven aufnahmen. Die fortschrittlichen Gemeinschaften der Freibeuter spiegeln sich auch in Daniel Defoes 1728 erschienenem Bericht über die Piratenrepublik Libertalia wider, der hier zum ersten Mal auf Deutsch erscheint. Defoe schildert die Geschichte des abenteuerlustigen Edelmanns Misson und des desillusionierten Priesters Caraccioli, die auf Madagaskar eine auf Toleranz, Gütergleichheit und radikaler Demokratie beruhende Piratenbruderschaft gründen, um Sklaven aus der Gefangenschaft zu befreien. Während die Republik in Defoes Geschichte schließlich niedergeschlagen wird, lebt Libertalia als humanistische, herrschaftsfreie Utopie bis heute weiter. Neben Defoes Text enthält das Buch historische Piratensatzungen sowie Reiseberichte und erläutert die politischen Ideen der Piraten im Kontext der staatstheoretischen Debatten und Utopien der damaligen Zeit. Nicht nur, dass die Seeräuber demokratischer und sozialer lebten als die absolutistischen Machthaber und Kolonialherren, auf ihren Schiffen segelte auch die Hoffnung auf einen Zusammenschluss gleicher und freier Menschen mit, die bis heute unabgegolten ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2015Die freiheitlichen Gedanken der Freibeuter
Daniel Defoes Geschichte der utopischen Piratenrepublik Libertalia ist wie ein Blick in einen fernen Spiegel
Die Geschichte von der utopischen Piratenrepublik Libertalia, die Daniel Defoe unter dem Pseudonym Captain Charles Johnson 1728 veröffentlichte, unterscheidet sich von allen klassischen Utopien durch den Mangel an Langeweile. Während die utopischen Staaten, die Thomas Morus 1516 in "Utopia" oder Tommaso Campanella in seinem "Sonnenstaat" von 1602 beschrieben hatten, in ihrer regelhaften Friedlichkeit einen fast zwangsläufig Katastrophen oder Bürgerkriege herbeiwünschen lassen, kommen diese falschen Wünsche hier nicht auf.
Dafür beginnt die Geschichte einfach zu durchtrieben irdisch. Nachdem der Kapitän Misson in Rom, einer der Hauptakteure der späteren Republik, per Zufall einen mit allen Wassern gewaschenen Priester kennengelernt hat, werden die beiden zu den treibenden Kräften der Erzählung. Caraccioli, so heißt der Priester und spätere Freund, ist als Angestellter des Vatikanstaats frei von Illusionen. Die Religion ist ihm nichts als eine Fessel für die Schwachen, der sich die Starken nur scheinbar unterordnen, um weiter herrschen zu können. Im entscheidenden Satz dieser ersten Gespräche definiert Caraccioli "alle Religion als nichts anderes als menschliche Politik". Misson, in Logik und Mathematik gut geschult, imponiert die skeptische Klarheit derart, dass er ihn bittet, zu seinem Begleiter zu werden.
Mit dem Hinweis auf Missons Ausbildung in Mathematik und Logik hat man auch einen der vielen Gründe benannt, warum man die Geschichte der Piratenrepublik gerade jetzt lesen sollte. Es handelt sich nämlich um einen großen Einspruch gegen die Ordnung der Zeiten, gegen den zwangsläufigen Determinismus von Herkunft oder Geschichte, kurz: gegen den heute allgegenwärtigen Algorithmus. Dinge und Ereignisse werden in Libertalia von Zufällen, Glück, Unglück oder Unfällen in Gang gebracht und in immer wieder unvorhersehbare Bahnen gelenkt. Es greifen hier andauernd "die Winde des Glücks und des Wechsels der Umstände" in das Geschehen ein, so wie sie Niccolò Machiavelli in die Politik eingeführt hatte. Es ist die Unbestimmtheit des Menschen, die der ursprüngliche Humanismus so nachdrücklich betont hat, auf der die Piratenrepublik gebaut wurde. Nach dem Grundsatz des Humanismus hatte Gott in den Tagen der Schöpfung zwar jeder Kreatur einen Namen und ihre wesentliche Natur gegeben; nur der vollendetsten aller Kreaturen, dem Menschen, hatte er weder Natur noch Namen gegeben. Es gehört zur Größe von Defoes Erzählung, auf diesem unbestimmten Grund des Humanismus auch seine Piratenrepublik "leben" zu lassen.
Misson, Caraccioli und die anderen Figuren der Republik sind nicht vom Himmel gefallen. Sie haben eine Ausbildung, eine Geschichte. Sie sind entlaufene oder befreite Sklaven oder sonst wie von den Verhältnissen gebeutelte Kreaturen der akuten Herrschaft. Daraus erwächst aber nicht mehr, als dass alle zusammen im demokratischen Gespräch ihre Verhältnisse regeln müssen. Wie weit das in der Wirklichkeit der Piraten seinerzeit ging, kann man in den vier im Buch abgedruckten Satzungen historischer Piratenkapitäne nachlesen. So gibt es in einem Fall die Vorschrift, dass vor der Piratengerichtsbarkeit der Angeklagte sechs der zwölf Geschworenen selbst bestimmen darf. Auch das kann man unter Demokratie verstehen.
Die vier Satzungen werden hier zum ersten Mal zur Legende um Libertalia abgedruckt. Sie lesen sich zusammen mit dem ausführlichen Nachwort und Kommentar auch als Beiträge zur derzeit eingeschlafenen Demokratietheorie. Es ist schon erstaunlich, wie wenig sich die Piraten in den Satzungen und in Defoes Erzählung der Kitschvorstellung eines herrschaftsfreien Diskurses hingeben. Was hier in seiner historischen Übung vorgeführt wird, ist ein ausgebildetes Bewusstsein davon, dass es in jeder demokratischen Diskussion natürlich auch um Herrschaft, Macht, Recht und nicht zuletzt Gewalt geht. Gleichheit und prinzipielle Besitzlosigkeit der Einzelnen an den auf den Raubzügen erbeuteten Gütern verhindern nämlich nicht, dass um diese Prinzipien immer wieder gestritten wird. Wenn etwa Caraccioli in einer ausgefeilten Rede eine Begründung dafür liefert, warum man trotz demokratischer Wahl einen Führer brauche, um schnelle Entscheidungen möglich zu machen, ist das nicht das letzte Wort. Man mag den Argumenten folgen, aber die nächste falsche Entscheidung kommt bestimmt. So wie es denn am Ende der Geschichte auch die Piratenrepublik auf Madagaskar trifft.
Als zwei Schiffe der "Liberi", wie sich die Piratenrepublikaner nennen, um sich von bloß raubenden Piraten zu unterscheiden, weit von der Siedlung auf der Insel unterwegs sind, wird diese von Eingeborenen angegriffen. Die überraschten Liberi haben keine Chance, sie werden niedergemetzelt und ihre Siedlung zerstört. Damit ist die Piratenrepublik an ihr Ende gekommen. Zu einem Ende ohne jeden Grund und jede Idee von Zwangsläufigkeit, ohne Romantik oder den Auftritt des Bösen, wie Helge Meves im Nachwort schreibt. Libertalia ist damit verschwunden, was bleibt, ist die Idee einer Demokratie im Werden, im Prozess ihrer dauernden Selbsterschaffung. Und dieser Idee tut es nur gut, dass mit Libertalia ihr materieller Grund am Ende verschwindet. Das verhindert einen melancholischen Rückblick auf die heroischen Zeiten der Piraterie am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Das Verschwinden Libertalias macht auch klar, dass die Erzählung von Gleichheit und Freiheit nicht immer schon da gewesen ist. Ebenso reicht der Entwurf nicht im Geringsten an die Vollkommenheit der klassischen Utopien von Morus oder Campanella heran. Manchmal stimmt in Libertalia gar nichts, in der Regel ist alles unvollkommen, unfertig, einschließlich der Protagonisten.
Während Misson immer dann am besten ist, wenn er einen Blick in die reine, weiße Zukunft wirft, findet Caraccioli seine besten Momente in seiner immer gleichen Skepsis. An das Gute der Zukunft kann er nicht glauben, an das Gute im Menschen auch nicht. Er rechnet mit dem Schlimmsten, ohne deshalb auch in seinen Argumenten den schlimmsten Fall zum Maß seiner Rede zu machen. Dafür hat er einen zu klaren Blick auf die Möglichkeiten des Rückfalls in despotische Herrrschaftsformen, die gerade aus seiner rhetorischen Kraft erwachsen können. Für den ehemals zynischen Priester konnte das Schlimmste und Gefährlichste nur durch das andauernde Einüben der Wahldemokratie verhindert werden. Auch deshalb führt er einen unermüdlichen Kampf gegen die Todesstrafe, was um 1720 nun allerdings wirklich ziemlich weit voraus geht.
Wirklich modern wird die Erzählung über ihren Diskurs in Bewegung unter den Piraten aber vor allem in der historischen Einbettung, wie sie Meves im Nachwort liefert. Das goldene Zeitalter der Piraten an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert fiel in eine Epoche, die durch Flucht und Versprechen gekennzeichnet war. Europa war in Bewegung. In blutigen Kämpfen und gewalttätigen wirtschaftlichen Unternehmungen wurde die politische und ökonomische Ordnung der Neuzeit gegen die mittelalterlichen Rückstände geschaffen. Über Jahrhunderte gemeinschaftlich genutzte Allmenden wie Wasser, Wald und Weiden, das Ödland sowie Jagd- und Sammelrechte auf dem Land wurden privatisiert. In ganz Europa erhoben sich Widerstände der Bauern dagegen. "Wie an einer Perlenkette zogen sich durch das 17. Jahrhundert lokale und regionale Aufstandbewegungen, die zumeist im Blut erstickt wurden", heißt es im Nachwort.
Auch deshalb kannte das Europa des 17. Jahrhunderts nur ein einziges Jahr ohne Krieg. Auch deshalb flüchteten nicht nur Bauern vom Land auf das Meer und fanden in der Piraterie zumindest etwas anderes als die blutigen Zwangslagen auf dem Land. An Bord der Schiffe, auf denen die Ausgestoßenen und Geflüchteten aller Nationen in einem vielfältigen Wirrwarr von Sprachen, Bekenntnissen, Kulturen oder enttäuschten Träumen zusammentrafen, wurde sozusagen die neue Weltordnung auch eingeübt. Mit den neuen transnationalen Lebenswegen und -perspektiven wurden auch die ersten globalisierten Konsumgüter erschaffen wie Kaffee, Uhren, Tee oder Schokolade. Güter, mit deren Handel dann auch unendlich scheinende Vermögen im Besitz weniger "erschaffen" wurden, deren Macht aber nie bloß ökonomisch blieb, sondern schnell politisch wurde.
CORD RIECHELMANN
Daniel Defoe: "Libertalia. Die utopische Piratenrepublik". Herausgegeben von Helge Meves. Aus dem Englischen von David Meienreis und Arne Braun. Matthes & Seitz, 238 Seiten, 22,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Daniel Defoes Geschichte der utopischen Piratenrepublik Libertalia ist wie ein Blick in einen fernen Spiegel
Die Geschichte von der utopischen Piratenrepublik Libertalia, die Daniel Defoe unter dem Pseudonym Captain Charles Johnson 1728 veröffentlichte, unterscheidet sich von allen klassischen Utopien durch den Mangel an Langeweile. Während die utopischen Staaten, die Thomas Morus 1516 in "Utopia" oder Tommaso Campanella in seinem "Sonnenstaat" von 1602 beschrieben hatten, in ihrer regelhaften Friedlichkeit einen fast zwangsläufig Katastrophen oder Bürgerkriege herbeiwünschen lassen, kommen diese falschen Wünsche hier nicht auf.
Dafür beginnt die Geschichte einfach zu durchtrieben irdisch. Nachdem der Kapitän Misson in Rom, einer der Hauptakteure der späteren Republik, per Zufall einen mit allen Wassern gewaschenen Priester kennengelernt hat, werden die beiden zu den treibenden Kräften der Erzählung. Caraccioli, so heißt der Priester und spätere Freund, ist als Angestellter des Vatikanstaats frei von Illusionen. Die Religion ist ihm nichts als eine Fessel für die Schwachen, der sich die Starken nur scheinbar unterordnen, um weiter herrschen zu können. Im entscheidenden Satz dieser ersten Gespräche definiert Caraccioli "alle Religion als nichts anderes als menschliche Politik". Misson, in Logik und Mathematik gut geschult, imponiert die skeptische Klarheit derart, dass er ihn bittet, zu seinem Begleiter zu werden.
Mit dem Hinweis auf Missons Ausbildung in Mathematik und Logik hat man auch einen der vielen Gründe benannt, warum man die Geschichte der Piratenrepublik gerade jetzt lesen sollte. Es handelt sich nämlich um einen großen Einspruch gegen die Ordnung der Zeiten, gegen den zwangsläufigen Determinismus von Herkunft oder Geschichte, kurz: gegen den heute allgegenwärtigen Algorithmus. Dinge und Ereignisse werden in Libertalia von Zufällen, Glück, Unglück oder Unfällen in Gang gebracht und in immer wieder unvorhersehbare Bahnen gelenkt. Es greifen hier andauernd "die Winde des Glücks und des Wechsels der Umstände" in das Geschehen ein, so wie sie Niccolò Machiavelli in die Politik eingeführt hatte. Es ist die Unbestimmtheit des Menschen, die der ursprüngliche Humanismus so nachdrücklich betont hat, auf der die Piratenrepublik gebaut wurde. Nach dem Grundsatz des Humanismus hatte Gott in den Tagen der Schöpfung zwar jeder Kreatur einen Namen und ihre wesentliche Natur gegeben; nur der vollendetsten aller Kreaturen, dem Menschen, hatte er weder Natur noch Namen gegeben. Es gehört zur Größe von Defoes Erzählung, auf diesem unbestimmten Grund des Humanismus auch seine Piratenrepublik "leben" zu lassen.
Misson, Caraccioli und die anderen Figuren der Republik sind nicht vom Himmel gefallen. Sie haben eine Ausbildung, eine Geschichte. Sie sind entlaufene oder befreite Sklaven oder sonst wie von den Verhältnissen gebeutelte Kreaturen der akuten Herrschaft. Daraus erwächst aber nicht mehr, als dass alle zusammen im demokratischen Gespräch ihre Verhältnisse regeln müssen. Wie weit das in der Wirklichkeit der Piraten seinerzeit ging, kann man in den vier im Buch abgedruckten Satzungen historischer Piratenkapitäne nachlesen. So gibt es in einem Fall die Vorschrift, dass vor der Piratengerichtsbarkeit der Angeklagte sechs der zwölf Geschworenen selbst bestimmen darf. Auch das kann man unter Demokratie verstehen.
Die vier Satzungen werden hier zum ersten Mal zur Legende um Libertalia abgedruckt. Sie lesen sich zusammen mit dem ausführlichen Nachwort und Kommentar auch als Beiträge zur derzeit eingeschlafenen Demokratietheorie. Es ist schon erstaunlich, wie wenig sich die Piraten in den Satzungen und in Defoes Erzählung der Kitschvorstellung eines herrschaftsfreien Diskurses hingeben. Was hier in seiner historischen Übung vorgeführt wird, ist ein ausgebildetes Bewusstsein davon, dass es in jeder demokratischen Diskussion natürlich auch um Herrschaft, Macht, Recht und nicht zuletzt Gewalt geht. Gleichheit und prinzipielle Besitzlosigkeit der Einzelnen an den auf den Raubzügen erbeuteten Gütern verhindern nämlich nicht, dass um diese Prinzipien immer wieder gestritten wird. Wenn etwa Caraccioli in einer ausgefeilten Rede eine Begründung dafür liefert, warum man trotz demokratischer Wahl einen Führer brauche, um schnelle Entscheidungen möglich zu machen, ist das nicht das letzte Wort. Man mag den Argumenten folgen, aber die nächste falsche Entscheidung kommt bestimmt. So wie es denn am Ende der Geschichte auch die Piratenrepublik auf Madagaskar trifft.
Als zwei Schiffe der "Liberi", wie sich die Piratenrepublikaner nennen, um sich von bloß raubenden Piraten zu unterscheiden, weit von der Siedlung auf der Insel unterwegs sind, wird diese von Eingeborenen angegriffen. Die überraschten Liberi haben keine Chance, sie werden niedergemetzelt und ihre Siedlung zerstört. Damit ist die Piratenrepublik an ihr Ende gekommen. Zu einem Ende ohne jeden Grund und jede Idee von Zwangsläufigkeit, ohne Romantik oder den Auftritt des Bösen, wie Helge Meves im Nachwort schreibt. Libertalia ist damit verschwunden, was bleibt, ist die Idee einer Demokratie im Werden, im Prozess ihrer dauernden Selbsterschaffung. Und dieser Idee tut es nur gut, dass mit Libertalia ihr materieller Grund am Ende verschwindet. Das verhindert einen melancholischen Rückblick auf die heroischen Zeiten der Piraterie am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Das Verschwinden Libertalias macht auch klar, dass die Erzählung von Gleichheit und Freiheit nicht immer schon da gewesen ist. Ebenso reicht der Entwurf nicht im Geringsten an die Vollkommenheit der klassischen Utopien von Morus oder Campanella heran. Manchmal stimmt in Libertalia gar nichts, in der Regel ist alles unvollkommen, unfertig, einschließlich der Protagonisten.
Während Misson immer dann am besten ist, wenn er einen Blick in die reine, weiße Zukunft wirft, findet Caraccioli seine besten Momente in seiner immer gleichen Skepsis. An das Gute der Zukunft kann er nicht glauben, an das Gute im Menschen auch nicht. Er rechnet mit dem Schlimmsten, ohne deshalb auch in seinen Argumenten den schlimmsten Fall zum Maß seiner Rede zu machen. Dafür hat er einen zu klaren Blick auf die Möglichkeiten des Rückfalls in despotische Herrrschaftsformen, die gerade aus seiner rhetorischen Kraft erwachsen können. Für den ehemals zynischen Priester konnte das Schlimmste und Gefährlichste nur durch das andauernde Einüben der Wahldemokratie verhindert werden. Auch deshalb führt er einen unermüdlichen Kampf gegen die Todesstrafe, was um 1720 nun allerdings wirklich ziemlich weit voraus geht.
Wirklich modern wird die Erzählung über ihren Diskurs in Bewegung unter den Piraten aber vor allem in der historischen Einbettung, wie sie Meves im Nachwort liefert. Das goldene Zeitalter der Piraten an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert fiel in eine Epoche, die durch Flucht und Versprechen gekennzeichnet war. Europa war in Bewegung. In blutigen Kämpfen und gewalttätigen wirtschaftlichen Unternehmungen wurde die politische und ökonomische Ordnung der Neuzeit gegen die mittelalterlichen Rückstände geschaffen. Über Jahrhunderte gemeinschaftlich genutzte Allmenden wie Wasser, Wald und Weiden, das Ödland sowie Jagd- und Sammelrechte auf dem Land wurden privatisiert. In ganz Europa erhoben sich Widerstände der Bauern dagegen. "Wie an einer Perlenkette zogen sich durch das 17. Jahrhundert lokale und regionale Aufstandbewegungen, die zumeist im Blut erstickt wurden", heißt es im Nachwort.
Auch deshalb kannte das Europa des 17. Jahrhunderts nur ein einziges Jahr ohne Krieg. Auch deshalb flüchteten nicht nur Bauern vom Land auf das Meer und fanden in der Piraterie zumindest etwas anderes als die blutigen Zwangslagen auf dem Land. An Bord der Schiffe, auf denen die Ausgestoßenen und Geflüchteten aller Nationen in einem vielfältigen Wirrwarr von Sprachen, Bekenntnissen, Kulturen oder enttäuschten Träumen zusammentrafen, wurde sozusagen die neue Weltordnung auch eingeübt. Mit den neuen transnationalen Lebenswegen und -perspektiven wurden auch die ersten globalisierten Konsumgüter erschaffen wie Kaffee, Uhren, Tee oder Schokolade. Güter, mit deren Handel dann auch unendlich scheinende Vermögen im Besitz weniger "erschaffen" wurden, deren Macht aber nie bloß ökonomisch blieb, sondern schnell politisch wurde.
CORD RIECHELMANN
Daniel Defoe: "Libertalia. Die utopische Piratenrepublik". Herausgegeben von Helge Meves. Aus dem Englischen von David Meienreis und Arne Braun. Matthes & Seitz, 238 Seiten, 22,90 Euro
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