KENZABURÔ ÔEs erschütternder wie berührender Bericht über das Leben mit seinem behinderten Sohn.
Kenzaburô Ôe ist 28 Jahre, als sein erstes Kind, Sohn Hikari, mit einer geistigen Behinderung zur Welt kommt. Ôe steht zu diesem Zeitpunkt am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere. Aber statt zu schreiben, muss er über Leben und Tod entscheiden. Ôe und seine Frau Yukari entschließen sich für die riskante Operation und schenken Hikari damit das Leben. Diese existentielle Bedrohung hat den Schriftsteller und Menschen Kenzaburô Ôe zutiefst geprägt. Hikari ist heute ein angesehener Komponist klassischer Musik und das Glück seiner Eltern.
Kenzaburô Ôe ist 28 Jahre, als sein erstes Kind, Sohn Hikari, mit einer geistigen Behinderung zur Welt kommt. Ôe steht zu diesem Zeitpunkt am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere. Aber statt zu schreiben, muss er über Leben und Tod entscheiden. Ôe und seine Frau Yukari entschließen sich für die riskante Operation und schenken Hikari damit das Leben. Diese existentielle Bedrohung hat den Schriftsteller und Menschen Kenzaburô Ôe zutiefst geprägt. Hikari ist heute ein angesehener Komponist klassischer Musik und das Glück seiner Eltern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2015Zwei Winde, die sich in den Bäumen treffen
Als Ethiker ein Minimalist, aber was für einer: Kenzaburo Oe arbeitet auch mit achtzig weiter an seinem Gewissen
Dieser Vater ist das Geschöpf seines Sohnes. Denn das literarische Werk Kenzaburo Oes ist ohne seinen Sohn Hikari nicht denkbar. Seit einem halben Jahrhundert kreisen die Bücher des japanischen Nobelpreisträgers immer wieder um die eigene Familie, in deren Mittelpunkt der geistig behinderte Sohn steht. Hikari ist auf die Hilfe seiner Eltern und Geschwister angewiesen; seine Behinderung prägt aber nicht nur den Alltag der Familie, sondern ist auf das engste mit einem der Urmotive in Oes Werk verknüpft: der Frage nach der Schuld angesichts einer Tat, die nie begangen wurde.
Die Frage steht am Anfang der Familiengeschichte, die Oe in seinem jüngsten Buch erzählt. "Licht scheint auf mein Dach" ist eine Zusammenstellung mehrerer Kapitel aus zwei früheren, in Japan bereits in den neunziger Jahren erschienenen Büchern Oes; also keine stringent erzählte Familienchronik, sondern eine lose Abfolge von Episoden und Reflexionen, die im Stil eines Tagebuches um das Leben mit einem behinderten Kind kreisen. Hikari wird dabei zum Ausgangspunkt der Fragen seines Vaters nach den letzten wie nach den ersten Dingen: Was ist das Leben, was sind Glück, Trauer, Verantwortung, Erfüllung? Worin manifestiert sich das Wesentliche und Unverwechselbare einer Persönlichkeit?
Oe ist als Ethiker ein Minimalist, ein Bescheidenheitsfanatiker. Ironie ist ihm fremd, seine Sprache ist meistens schlicht, mitunter förmlich und wirkt manchmal fast naiv. Oe achtet die Andersartigkeit des Sohnes, respektiert die der Behinderung geschuldete Fremdheit seines Denkens und Fühlens, und doch erweitert die Anomalie des Sohnes die Perspektive des Vaters. Das gilt sogar bis über den Tod hinaus, wenn Oe sich vorstellt, wie Vater und Sohn, zwei körperlose Seelen, sich dereinst "wie zwei Winde in den Bäumen treffen, ohne sich zu erkennen". Als Hikari 1963 geboren wurde, war sein Vater 28 Jahre alt und stand am Beginn seiner Schriftstellerkarriere. Er hatte für seinen Roman "Reißt die Knospen ab" den angesehenen Akutagawa-Preis erhalten, bezog öffentlich Stellung in heiklen Fragen, schrieb gegen nationalistische Strömungen in Japan und gegen den Sicherheitsvertrag mit den Vereinigten Staaten an und engagierte sich in der aufkommenden Studentenbewegung. Oe war dabei, sich zu einer wichtigen kritischen Stimme in Japan zu entwickeln. Die Missbildung des Sohnes stürzte den jungen Vater in eine tiefe Krise. Wollte er sich, seine Ehe und seine Karriere mit einem behinderten Kind belasten? Sollte er seine Zustimmung zu der dringend erforderlichen Schädeloperation verweigern und das Kind sterben lassen?
Bereits ein Jahr später erschienen zwei Texte, in denen Oe sein Dilemma verarbeitet hatte. Der Roman "Eine persönliche Erfahrung" beschreibt den Schock eines Vaters bei der Geburt seines geistig behinderten Kindes, einer "pflanzenhaften Existenz", die der Vater zunächst mit Hilfe eines Arztes töten lassen will. Auf die Entscheidung folgen Tage voller Gewissensqualen und sexueller Exzesse, schließlich die Kehrtwende: der Entschluss, das Kind aufzuziehen. Die Erzählung "Agui, das Himmelsungeheuer" spielt das gegenläufige Szenario durch: Der behinderte Säugling wird getötet, der Vater, ein junger Komponist, gleitet in den Wahnsinn ab und lebt in der Illusion, der Geist des toten Kindes spreche zu ihm. Am Ende der Erzählung wirft der Komponist sich vor einen Lastwagen, mit ausgestreckten Armen, als wollte er einen Unsichtbaren ergreifen.
Oe verarbeitete in diesen Texten einen doppelten Schock. Dem Entsetzen angesichts der Anomalie des Kindes folgte das noch größere Entsetzen des Vaters über sich selbst. Er muss sehr kurz davor gestanden haben, seinem Erstgeborenen das Leben zu nehmen. Fünf Jahre nach der Geburt richtete das Kind zum ersten Mal Worte an seinen Vater, die einen Sinn ergaben. Hikari, der während eines Spaziergangs auf den Schultern seines Vaters sitzt, lauscht dem Gesang eines Vogels und sagt: "Das ist eine Wasserralle."
Nach und nach zeigt sich, dass Hikari ungewöhnlich musikalisch ist. Der Junge, der mit einer unheilbaren Anomalie des Schädelknochens geboren wurde, ist längst ein angesehener Komponist. Sein Vater, der sein Leben und sein Werk mit der Existenz seines Sohnes verschmolzen hat, wird am morgigen Samstag achtzig Jahre alt.
HUBERT SPIEGEL.
Kenzaburo Oe: "Licht scheint auf mein Dach. Die Geschichte meiner Familie". Aus dem Japanischen von Nora Bierich.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 205 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Ethiker ein Minimalist, aber was für einer: Kenzaburo Oe arbeitet auch mit achtzig weiter an seinem Gewissen
Dieser Vater ist das Geschöpf seines Sohnes. Denn das literarische Werk Kenzaburo Oes ist ohne seinen Sohn Hikari nicht denkbar. Seit einem halben Jahrhundert kreisen die Bücher des japanischen Nobelpreisträgers immer wieder um die eigene Familie, in deren Mittelpunkt der geistig behinderte Sohn steht. Hikari ist auf die Hilfe seiner Eltern und Geschwister angewiesen; seine Behinderung prägt aber nicht nur den Alltag der Familie, sondern ist auf das engste mit einem der Urmotive in Oes Werk verknüpft: der Frage nach der Schuld angesichts einer Tat, die nie begangen wurde.
Die Frage steht am Anfang der Familiengeschichte, die Oe in seinem jüngsten Buch erzählt. "Licht scheint auf mein Dach" ist eine Zusammenstellung mehrerer Kapitel aus zwei früheren, in Japan bereits in den neunziger Jahren erschienenen Büchern Oes; also keine stringent erzählte Familienchronik, sondern eine lose Abfolge von Episoden und Reflexionen, die im Stil eines Tagebuches um das Leben mit einem behinderten Kind kreisen. Hikari wird dabei zum Ausgangspunkt der Fragen seines Vaters nach den letzten wie nach den ersten Dingen: Was ist das Leben, was sind Glück, Trauer, Verantwortung, Erfüllung? Worin manifestiert sich das Wesentliche und Unverwechselbare einer Persönlichkeit?
Oe ist als Ethiker ein Minimalist, ein Bescheidenheitsfanatiker. Ironie ist ihm fremd, seine Sprache ist meistens schlicht, mitunter förmlich und wirkt manchmal fast naiv. Oe achtet die Andersartigkeit des Sohnes, respektiert die der Behinderung geschuldete Fremdheit seines Denkens und Fühlens, und doch erweitert die Anomalie des Sohnes die Perspektive des Vaters. Das gilt sogar bis über den Tod hinaus, wenn Oe sich vorstellt, wie Vater und Sohn, zwei körperlose Seelen, sich dereinst "wie zwei Winde in den Bäumen treffen, ohne sich zu erkennen". Als Hikari 1963 geboren wurde, war sein Vater 28 Jahre alt und stand am Beginn seiner Schriftstellerkarriere. Er hatte für seinen Roman "Reißt die Knospen ab" den angesehenen Akutagawa-Preis erhalten, bezog öffentlich Stellung in heiklen Fragen, schrieb gegen nationalistische Strömungen in Japan und gegen den Sicherheitsvertrag mit den Vereinigten Staaten an und engagierte sich in der aufkommenden Studentenbewegung. Oe war dabei, sich zu einer wichtigen kritischen Stimme in Japan zu entwickeln. Die Missbildung des Sohnes stürzte den jungen Vater in eine tiefe Krise. Wollte er sich, seine Ehe und seine Karriere mit einem behinderten Kind belasten? Sollte er seine Zustimmung zu der dringend erforderlichen Schädeloperation verweigern und das Kind sterben lassen?
Bereits ein Jahr später erschienen zwei Texte, in denen Oe sein Dilemma verarbeitet hatte. Der Roman "Eine persönliche Erfahrung" beschreibt den Schock eines Vaters bei der Geburt seines geistig behinderten Kindes, einer "pflanzenhaften Existenz", die der Vater zunächst mit Hilfe eines Arztes töten lassen will. Auf die Entscheidung folgen Tage voller Gewissensqualen und sexueller Exzesse, schließlich die Kehrtwende: der Entschluss, das Kind aufzuziehen. Die Erzählung "Agui, das Himmelsungeheuer" spielt das gegenläufige Szenario durch: Der behinderte Säugling wird getötet, der Vater, ein junger Komponist, gleitet in den Wahnsinn ab und lebt in der Illusion, der Geist des toten Kindes spreche zu ihm. Am Ende der Erzählung wirft der Komponist sich vor einen Lastwagen, mit ausgestreckten Armen, als wollte er einen Unsichtbaren ergreifen.
Oe verarbeitete in diesen Texten einen doppelten Schock. Dem Entsetzen angesichts der Anomalie des Kindes folgte das noch größere Entsetzen des Vaters über sich selbst. Er muss sehr kurz davor gestanden haben, seinem Erstgeborenen das Leben zu nehmen. Fünf Jahre nach der Geburt richtete das Kind zum ersten Mal Worte an seinen Vater, die einen Sinn ergaben. Hikari, der während eines Spaziergangs auf den Schultern seines Vaters sitzt, lauscht dem Gesang eines Vogels und sagt: "Das ist eine Wasserralle."
Nach und nach zeigt sich, dass Hikari ungewöhnlich musikalisch ist. Der Junge, der mit einer unheilbaren Anomalie des Schädelknochens geboren wurde, ist längst ein angesehener Komponist. Sein Vater, der sein Leben und sein Werk mit der Existenz seines Sohnes verschmolzen hat, wird am morgigen Samstag achtzig Jahre alt.
HUBERT SPIEGEL.
Kenzaburo Oe: "Licht scheint auf mein Dach. Die Geschichte meiner Familie". Aus dem Japanischen von Nora Bierich.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 205 S., geb., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Auch Kenzaburō Ōes neuer Roman "Licht scheint auf mein Dach" ist autobiografisch und kreist um den Sohn Hikari, erzählt Rezensent Ulrich Baron. Es daurte eine Zeit, bis der Vater den mit einer schweren Behinderung geborenen Sohn annehmen konnte. Etwas, für das er sich heute noch schämt, so Baron, und das er immer wieder "bis zur Selbstentblößung" thematisiert. Hikari (der Name bedeutet "Licht" im Japanischen) ist heute ein Komponist, dessen Erfolge den "alternden Vater" sehr stolz machen, wie man in diesem Familienroman nachlesen kann, so Baron.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.01.2015Düsternis und Licht
Ein Buchgeschenk zum 80. Geburtstag von Kenzaburō Ōe
Zum achtzigsten Geburtstag Kenzaburō Ōes hat sein deutscher Verlag zwei kleinere, in Japan Mitte der Neunzigerjahre erschienene Werke des Literaturnobelpreisträgers zusammengefasst und durch eine Taschenbuchausgabe des 1994 bei Insel erschienenen Romans „Stille Tage“ ergänzt. Das ist eine weise Entscheidung, die freilich der Erläuterung bedarf. „Familie in Genesung“ (1995) und „Lose Bande“ (1996) liefern Schlüssel zum Thema, um das Ōes Werk seit 1963 kreist. Geboren am 31. Januar 1935 in einem Walddorf der japanischen Südinsel Shikoku, war Ōe damals ein noch junger, aber schon hoch geehrter Schriftsteller, der in seinen frühen Werken Japans unbarmherzige Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft anprangerte. Nun wurde er Vater eines „Monsterbabys“.
„Als ich ihn zum ersten Mal sah, sah es so aus, als hätte er zwei Köpfe“, beschreibt Ōe in „Stille Tage“ seinen Erstgeborenen, dem die Ärzte auch nach einer lebensrettenden Operation nur ein „pflanzenhaftes“ Dasein prognostizierten. Voller Scham gesteht der Sechzigjährige sein Zögern, dem Eingriff zuzustimmen: „Manchmal denke ich, dass, sollte es ein höheres Wesen geben, ich ihm allein aufgrund dieser Tatsache nicht offen ins Gesicht werde sehen können.“ Und er zitiert den englischen Barockdichter Robert Herrick: „So kam das Glück, und Licht schien auf mein Dach“.
Der Name Hikari bedeutet „Licht“. Und Ōes Sohn entwickelte sich auf erstaunliche Weise. Schon als Baby liebte Hikari Vogelstimmen und Musik. Wie er seinen Vater während eines Urlaubs am Shogetsu-See mit dem ruhig und bestimmt ausgesprochenen Satz „Das ist eine Wasserralle“ verblüffte, wie er später mit dem Komponieren anfing, kann man in „Licht scheint auf mein Dach“ nachverfolgen. Ōe porträtiert darin auch Menschen, die seiner Familie Mut machten. Hikaris langjährigen Arzt Dr. Moriyasu und den Mediziner Fumio Shigeto, der in Hiroshima als Erster den scheinbar aussichtslosen Kampf gegen den Strahlentod aufgenommen hatte, aber auch Musiker, die Hikaris Kompositionen aufführten. Die Genesung seiner Familie steht für eine „Genesung des Humanen“, von der Ōe angesichts der Schrecken von Hiroshima spricht.
„Wir müssen da durch“ lautet ein Mantra, mit dem Ōes Familie gegen Hikaris Behinderung ankämpfte. Ōes bis zur Selbstentblößung und Selbstanklage vorangetriebene autobiografische Obsession steht in der Tradition des japanischen „Ich-Romans“. Seine Familiengeschichte verdeutlicht, wie dieses manische Umkreisen einer persönlichen Erfahrung in wechselnden Perspektiven und Variationen japanische Denktraditionen um christlichhumanistische erweitert.
Vor einem Konzert in der Tokioter Suntory Hall mit Hikaris Kompositionen hielt Ōe eine kleine Ansprache: „Die Musik unseres Sohnes Hikari, die Sie heute hören werden, stammt von einem Menschen, der noch nie geweint hat. Und der nicht träumt.“ Und der sich mit dem Sprechen schwer tut. Wenn man etwas erzähle, müsse man „den Strom der Zeit berücksichtigen, also Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft“. Das könne Hikari nicht mit Worten, doch mit seiner Musik „auf so lebendige Weise, dass er bei seinen Zuhörern eine stille Vertrautheit erweckt, an der Geschichte teilzuhaben.“ Wenn er seine bisher publizierten Bücher ansehe, bekannte Ōe in der Suntory Hall, „stelle ich mit Erschrecken fest, dass ich fast mein ganzes Leben damit zugebracht habe, über düstere Dinge zu schreiben.“ Seine Erkundungen dieser düsteren Dinge wurden in den Neunzigerjahren von den Gedichten William Blakes über Seelen geprägt, „die zuerst bei Gott im Himmel sind, von wo aus sie auf die Erde niedersteigen, sich einen Körper zulegen und das Leben gefallener Wesen führen“.
Die Wesen der Erde, schreibt Ōe, angelehnt an Blake, „werden im Land der Trauer und des Wehgeschreis mit für Krankheiten anfälligen Körpern geboren“. Jenes Trauer- und Wehgeschrei, das seinerzeit auch seinen an Krebs sterbenden Bruder umgeben habe, bilde den „Grundton der Welt“. Persönliche Erfahrung beglaubigt hier barockes Vanitas-Denken. Aber auch dessen Gegenteil, denn – den sterbenden Bruder vor Augen – erinnert sich Ōe: „Doch als fürchteten wir uns nicht davor, haben wir seit unserer Kindheit zusammen gelacht und gesungen.“
So spaltet sich Ōes Werk in zwei Pole auf. In ein Memento mori und etwas, was man, an einen seiner Vortragstitel anknüpfend, Gebete eines Ungläubigen nennen könnte. Das Ringen um einen Religionsersatz, einen Trost für ungläubige Seelen und eine „Genesung des Humanen“ prägt auch seine Anfang der Neunzigerjahre entstandene Trilogie „Grüner Baum in Flammen“. In „Stille Tage“ ist ein Kapitel Andrej Tarkowkijs Film „Stalker“ gewidmet. Dessen Held hat eine Tochter, die vielleicht behindert und vielleicht wundersam begabt ist. Die Verzweiflung des Stalkers, der Erlösung nicht nur für sich allein sucht, findet sich auch bei Ōe. „Licht scheint auf mein Dach“ zeichnet ein Selbstporträt des Dichters als alternder Vater, den die Erfolge seines Sohnes glücklich machen, aber nicht unbesorgt.
ULRICH BARON
Kenzaburō Ōe : Licht scheint auf mein Dach. Die Geschichte meiner Familie. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 296 Seiten, 19,99 Euro.
Kenzaburō Ōe : Stille Tage. Aus dem Japanischen von Wolfgang E. Schlecht und Ursula Gräfe. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 236 Seiten, 9,99 Euro.
Kenzaburō Ōe
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Foto: dpa
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Ein Buchgeschenk zum 80. Geburtstag von Kenzaburō Ōe
Zum achtzigsten Geburtstag Kenzaburō Ōes hat sein deutscher Verlag zwei kleinere, in Japan Mitte der Neunzigerjahre erschienene Werke des Literaturnobelpreisträgers zusammengefasst und durch eine Taschenbuchausgabe des 1994 bei Insel erschienenen Romans „Stille Tage“ ergänzt. Das ist eine weise Entscheidung, die freilich der Erläuterung bedarf. „Familie in Genesung“ (1995) und „Lose Bande“ (1996) liefern Schlüssel zum Thema, um das Ōes Werk seit 1963 kreist. Geboren am 31. Januar 1935 in einem Walddorf der japanischen Südinsel Shikoku, war Ōe damals ein noch junger, aber schon hoch geehrter Schriftsteller, der in seinen frühen Werken Japans unbarmherzige Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft anprangerte. Nun wurde er Vater eines „Monsterbabys“.
„Als ich ihn zum ersten Mal sah, sah es so aus, als hätte er zwei Köpfe“, beschreibt Ōe in „Stille Tage“ seinen Erstgeborenen, dem die Ärzte auch nach einer lebensrettenden Operation nur ein „pflanzenhaftes“ Dasein prognostizierten. Voller Scham gesteht der Sechzigjährige sein Zögern, dem Eingriff zuzustimmen: „Manchmal denke ich, dass, sollte es ein höheres Wesen geben, ich ihm allein aufgrund dieser Tatsache nicht offen ins Gesicht werde sehen können.“ Und er zitiert den englischen Barockdichter Robert Herrick: „So kam das Glück, und Licht schien auf mein Dach“.
Der Name Hikari bedeutet „Licht“. Und Ōes Sohn entwickelte sich auf erstaunliche Weise. Schon als Baby liebte Hikari Vogelstimmen und Musik. Wie er seinen Vater während eines Urlaubs am Shogetsu-See mit dem ruhig und bestimmt ausgesprochenen Satz „Das ist eine Wasserralle“ verblüffte, wie er später mit dem Komponieren anfing, kann man in „Licht scheint auf mein Dach“ nachverfolgen. Ōe porträtiert darin auch Menschen, die seiner Familie Mut machten. Hikaris langjährigen Arzt Dr. Moriyasu und den Mediziner Fumio Shigeto, der in Hiroshima als Erster den scheinbar aussichtslosen Kampf gegen den Strahlentod aufgenommen hatte, aber auch Musiker, die Hikaris Kompositionen aufführten. Die Genesung seiner Familie steht für eine „Genesung des Humanen“, von der Ōe angesichts der Schrecken von Hiroshima spricht.
„Wir müssen da durch“ lautet ein Mantra, mit dem Ōes Familie gegen Hikaris Behinderung ankämpfte. Ōes bis zur Selbstentblößung und Selbstanklage vorangetriebene autobiografische Obsession steht in der Tradition des japanischen „Ich-Romans“. Seine Familiengeschichte verdeutlicht, wie dieses manische Umkreisen einer persönlichen Erfahrung in wechselnden Perspektiven und Variationen japanische Denktraditionen um christlichhumanistische erweitert.
Vor einem Konzert in der Tokioter Suntory Hall mit Hikaris Kompositionen hielt Ōe eine kleine Ansprache: „Die Musik unseres Sohnes Hikari, die Sie heute hören werden, stammt von einem Menschen, der noch nie geweint hat. Und der nicht träumt.“ Und der sich mit dem Sprechen schwer tut. Wenn man etwas erzähle, müsse man „den Strom der Zeit berücksichtigen, also Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft“. Das könne Hikari nicht mit Worten, doch mit seiner Musik „auf so lebendige Weise, dass er bei seinen Zuhörern eine stille Vertrautheit erweckt, an der Geschichte teilzuhaben.“ Wenn er seine bisher publizierten Bücher ansehe, bekannte Ōe in der Suntory Hall, „stelle ich mit Erschrecken fest, dass ich fast mein ganzes Leben damit zugebracht habe, über düstere Dinge zu schreiben.“ Seine Erkundungen dieser düsteren Dinge wurden in den Neunzigerjahren von den Gedichten William Blakes über Seelen geprägt, „die zuerst bei Gott im Himmel sind, von wo aus sie auf die Erde niedersteigen, sich einen Körper zulegen und das Leben gefallener Wesen führen“.
Die Wesen der Erde, schreibt Ōe, angelehnt an Blake, „werden im Land der Trauer und des Wehgeschreis mit für Krankheiten anfälligen Körpern geboren“. Jenes Trauer- und Wehgeschrei, das seinerzeit auch seinen an Krebs sterbenden Bruder umgeben habe, bilde den „Grundton der Welt“. Persönliche Erfahrung beglaubigt hier barockes Vanitas-Denken. Aber auch dessen Gegenteil, denn – den sterbenden Bruder vor Augen – erinnert sich Ōe: „Doch als fürchteten wir uns nicht davor, haben wir seit unserer Kindheit zusammen gelacht und gesungen.“
So spaltet sich Ōes Werk in zwei Pole auf. In ein Memento mori und etwas, was man, an einen seiner Vortragstitel anknüpfend, Gebete eines Ungläubigen nennen könnte. Das Ringen um einen Religionsersatz, einen Trost für ungläubige Seelen und eine „Genesung des Humanen“ prägt auch seine Anfang der Neunzigerjahre entstandene Trilogie „Grüner Baum in Flammen“. In „Stille Tage“ ist ein Kapitel Andrej Tarkowkijs Film „Stalker“ gewidmet. Dessen Held hat eine Tochter, die vielleicht behindert und vielleicht wundersam begabt ist. Die Verzweiflung des Stalkers, der Erlösung nicht nur für sich allein sucht, findet sich auch bei Ōe. „Licht scheint auf mein Dach“ zeichnet ein Selbstporträt des Dichters als alternder Vater, den die Erfolge seines Sohnes glücklich machen, aber nicht unbesorgt.
ULRICH BARON
Kenzaburō Ōe : Licht scheint auf mein Dach. Die Geschichte meiner Familie. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 296 Seiten, 19,99 Euro.
Kenzaburō Ōe : Stille Tage. Aus dem Japanischen von Wolfgang E. Schlecht und Ursula Gräfe. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 236 Seiten, 9,99 Euro.
Kenzaburō Ōe
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Mit ?e spricht ein Humanist der Moderne. Jonas Lages Die Welt 20150131