Schonungslos und zärtlich erzählt Nicola Karlsson von Hoffnung, Schuld und von der ungreifbaren Nähe zwischen uns Menschen.
Ein Hochhaus in Berlin. Zwischen S-Bahnhof und tristen Grünanlagen prallen Welten aufeinander. Hannah verdient ihr Geld mit einem Modeblog und lebt erst seit kurzem hier. Dem alleinerziehenden Wolf ist von seiner Zeit im Nachtleben nur der Alkohol geblieben. Und seine Tochter Agnes will weder von ihm noch von dem Püppchen aus dem 10. Stock etwas wissen. Und doch kreuzen sich ihre Wege. Sie verbindet die existenzielle Einsamkeit der Großstadt. Sie sind auf der Flucht und zugleich wie getrieben auf der Suche. Sie ahnen, dass es jemanden gibt, der ist wie sie. Und trotzen dem Leben eine Überraschung ab.
Ein Hochhaus in Berlin. Zwischen S-Bahnhof und tristen Grünanlagen prallen Welten aufeinander. Hannah verdient ihr Geld mit einem Modeblog und lebt erst seit kurzem hier. Dem alleinerziehenden Wolf ist von seiner Zeit im Nachtleben nur der Alkohol geblieben. Und seine Tochter Agnes will weder von ihm noch von dem Püppchen aus dem 10. Stock etwas wissen. Und doch kreuzen sich ihre Wege. Sie verbindet die existenzielle Einsamkeit der Großstadt. Sie sind auf der Flucht und zugleich wie getrieben auf der Suche. Sie ahnen, dass es jemanden gibt, der ist wie sie. Und trotzen dem Leben eine Überraschung ab.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2019Am Ende stürzen alle ab
Dieses Viertel lädt zum Erzählen von traurigen Geschichten ein. Das gelingt mal mehr, mal weniger: zwei Romane über den Berliner Stadtteil Wedding.
Von Hannah Bethke
Es ist ein kleines Kind, auf das die grölende Menge in der Kneipe zielt. Ein Mädchen namens Agnes, das von seinem Vater gerade ein Fahrrad geschenkt bekommen hat, sein erstes Rad, auf dem es noch gar nicht fahren kann. Und doch ist es sein ganzer Stolz. Agnes hatte schon draußen geübt und war immer wieder hingefallen. Niemand war da, der ihr half. In der Kneipe sitzt ihr Vater, ein schwerer Trinker. Seine Trinkkumpanen feuern das kleine Mädchen an, loszufahren, Agnes versucht es, stürzt und schlägt mit dem Kopf auf, muss ins Krankenhaus, getragen von ihrem stockbetrunkenen Vater.
Es ist eine der erschütterndsten Szenen dieses beachtlichen Romans von Nicola Karlsson. Eindringlich und schonungslos erzählt die 1974 geborene Autorin drei parallele Geschichten aus dem Leben dreier Menschen, die in einem Hochhaus in Berlin-Wedding wohnen. Das einstige Arbeiterviertel hat sich durch die Mietentwicklungen in der Hauptstadt verändert, manche sprechen von Gentrifizierung, andere sagen schon seit Jahren: "Der Wedding kommt" - aber so richtig kommt er dann doch nicht.
So ist es auch in Karlssons Buch. Das Hochhaus ist geprägt durch eine Lebenswirklichkeit, die man heute als "Brennpunkt" bezeichnen würde. Verkörpert wird sie durch Agnes, inzwischen fünfzehn Jahre alt, die sich durchs Leben beißt und es so schwer hat, dass man es kaum aushalten kann, und ihren Vater Wolf, der sich fast zu Tode säuft und seine Tochter schlägt. Hannah dagegen ist anders. Sie trägt teure Kleider, ist jung, gebildet, hübsch und landet, ohne dass man es so recht versteht, im prekären Wedding.
Zwei Welten in einem Haus, deren Bewohner am Ende mehr teilen, als sie selbst vermuten würden. Es ist nicht nur Wolf, der zu einem Unbeteiligten in seinem eigenen Leben geworden ist, wie er einmal sagt, oder Agnes, die vor lauter Verzweiflung aggressiv um sich schlägt. Auch Hannah kämpft, scheitert, stürzt ab. Sie sieht sich nicht, wie die Außenwelt sie wahrnimmt, findet sich hässlich, vergräbt sich in ihrer Wohnung, erträgt sich nicht. Sie geht am Leben zugrunde.
Es sind Geschichten, die unter die Haut gehen. Nie verfällt Karlsson in Klischees, obwohl sie auf bekannte Themen wie Alkoholismus und sozialen Abstieg zurückgreift. Sie erzählt die alten Geschichten neu, ergreifend, brutal, tieftraurig und besonders verstörend, wenn es um das innere Leben von Hannah geht.
Ihr Buch lebt von den Figuren - nicht so sehr vom Stil. Karlsson schreibt in sehr kurzen Sätzen, fast unverbunden aneinandergereiht, ohne Melodie, ohne Tiefe. Man liest darüber hinweg, weil die Geschichten zu aufwühlend sind, um das Buch aus der Hand zu legen. Unterbrochen wird dieser Sog, wenn die Autorin statt Sätzen nur noch Wörter schreibt, unvollständig, assoziativ, emotional, als könnte sie dadurch das Tempo erhöhen und eine größere Nähe zu den Protagonisten erzeugen, so getrieben und atemlos, dass keine Zeit mehr bleibt, ihre Gedanken zu Ende zu formulieren. Das allerdings misslingt. Die Zuspitzung dieses ohnehin schon wenig fließenden Schreibstils hätte gar nicht notgetan, um die prekäre Situation der Figuren zu veranschaulichen.
Fast zwanzig Jahre älter als Nicola Karlsson, hat auch die Berliner Schriftstellerin Regina Scheer einen Roman über Wedding geschrieben, den "Stadtteil der Habenichtse", wie sie bemerkt. Doch schon der Anfang des Buches lässt nichts Gutes erahnen: Die Stimme, die auf den ersten Seiten zu den Lesern spricht und vom Kommen und Gehen der Bewohner eines Mietshauses erzählt, ist nicht die einer Person. Hier spricht allen Ernstes das Haus selbst. Es denkt, fühlt, sieht und erinnert sich, als wäre es ein Mensch. Was man erst für einen misslungenen Prolog hält, den man schnell wieder hätte vergessen können, entpuppt sich als wiederkehrendes Motiv eines altbackenen Romans, der zu viel auf einmal will.
Scheer entscheidet sich wie Karlsson für die parallele Erzählung mehrerer Protagonisten, die in dem Weddinger Haus wohnen oder gewohnt haben. Anders als bei Karlsson treffen hier aber Gegenwart und Vergangenheit aufeinander. Leo, ein alter Jude, der gerade aus Israel in Berlin zu Besuch ist, fand in dem Haus während des Krieges Unterschlupf bei Gertrud, die noch immer dort wohnt. Laila, ein halbes Jahrhundert jünger als Leo, ist eine Sintiza aus Polen und floh mit ihren Eltern nach Deutschland, als sie sechs Jahre alt war. Nach und nach wird das heruntergekommene Haus, das sich Immobilienhaie unter den Nagel reißen wollen, überwiegend von Migranten bewohnt, das Viertel ändert sich, nur Gertrud bleibt. Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, Geschichte der Sinti und Roma, Mieterverdrängung, Migration früher und heute - die Autorin will in diesem Buch alles vereinen. Die historischen Rückblenden sind gründlich recherchiert, fügen sich aber nicht gut in die erfundene Geschichte.
Auch wenn der Text besonders durch die Figur Gertrud berührende Momente enthält, sind die stilistischen Ausfälle, zu denen das sprechende Haus gehört, schwer zu ertragen. "So wuchs ich langsam und wurde ein schönes Haus", heißt es an einer Stelle. Oder: "Als sie Norida und Lucia die Pflanze erklärte, ihnen erzählte, dass die Bromelien nur ein einziges Mal blühen, hatte Gertrud plötzlich das Gefühl, sie rede über sich selbst . . . Aber was ist nur aus ihr geworden, jetzt vergleicht sie sich schon mit einem Blumentopf."
Ob Häuser, Menschen oder Blumentöpfe: Wedding lädt zum Erzählen ein. Wie das besser oder schlechter gelingen kann, zeigen die Romane von Karlsson und Scheer eindrücklich, die bei aller Ähnlichkeit des äußeren Handlungsrahmens zwei grundverschiedene Texte vorgelegt haben.
Regina Scheer: "Gott wohnt im Wedding". Roman.
Penguin Verlag, München 2019. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Nicola Karlsson: "Licht über dem Wedding". Roman.
Piper Verlag, München 2019. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieses Viertel lädt zum Erzählen von traurigen Geschichten ein. Das gelingt mal mehr, mal weniger: zwei Romane über den Berliner Stadtteil Wedding.
Von Hannah Bethke
Es ist ein kleines Kind, auf das die grölende Menge in der Kneipe zielt. Ein Mädchen namens Agnes, das von seinem Vater gerade ein Fahrrad geschenkt bekommen hat, sein erstes Rad, auf dem es noch gar nicht fahren kann. Und doch ist es sein ganzer Stolz. Agnes hatte schon draußen geübt und war immer wieder hingefallen. Niemand war da, der ihr half. In der Kneipe sitzt ihr Vater, ein schwerer Trinker. Seine Trinkkumpanen feuern das kleine Mädchen an, loszufahren, Agnes versucht es, stürzt und schlägt mit dem Kopf auf, muss ins Krankenhaus, getragen von ihrem stockbetrunkenen Vater.
Es ist eine der erschütterndsten Szenen dieses beachtlichen Romans von Nicola Karlsson. Eindringlich und schonungslos erzählt die 1974 geborene Autorin drei parallele Geschichten aus dem Leben dreier Menschen, die in einem Hochhaus in Berlin-Wedding wohnen. Das einstige Arbeiterviertel hat sich durch die Mietentwicklungen in der Hauptstadt verändert, manche sprechen von Gentrifizierung, andere sagen schon seit Jahren: "Der Wedding kommt" - aber so richtig kommt er dann doch nicht.
So ist es auch in Karlssons Buch. Das Hochhaus ist geprägt durch eine Lebenswirklichkeit, die man heute als "Brennpunkt" bezeichnen würde. Verkörpert wird sie durch Agnes, inzwischen fünfzehn Jahre alt, die sich durchs Leben beißt und es so schwer hat, dass man es kaum aushalten kann, und ihren Vater Wolf, der sich fast zu Tode säuft und seine Tochter schlägt. Hannah dagegen ist anders. Sie trägt teure Kleider, ist jung, gebildet, hübsch und landet, ohne dass man es so recht versteht, im prekären Wedding.
Zwei Welten in einem Haus, deren Bewohner am Ende mehr teilen, als sie selbst vermuten würden. Es ist nicht nur Wolf, der zu einem Unbeteiligten in seinem eigenen Leben geworden ist, wie er einmal sagt, oder Agnes, die vor lauter Verzweiflung aggressiv um sich schlägt. Auch Hannah kämpft, scheitert, stürzt ab. Sie sieht sich nicht, wie die Außenwelt sie wahrnimmt, findet sich hässlich, vergräbt sich in ihrer Wohnung, erträgt sich nicht. Sie geht am Leben zugrunde.
Es sind Geschichten, die unter die Haut gehen. Nie verfällt Karlsson in Klischees, obwohl sie auf bekannte Themen wie Alkoholismus und sozialen Abstieg zurückgreift. Sie erzählt die alten Geschichten neu, ergreifend, brutal, tieftraurig und besonders verstörend, wenn es um das innere Leben von Hannah geht.
Ihr Buch lebt von den Figuren - nicht so sehr vom Stil. Karlsson schreibt in sehr kurzen Sätzen, fast unverbunden aneinandergereiht, ohne Melodie, ohne Tiefe. Man liest darüber hinweg, weil die Geschichten zu aufwühlend sind, um das Buch aus der Hand zu legen. Unterbrochen wird dieser Sog, wenn die Autorin statt Sätzen nur noch Wörter schreibt, unvollständig, assoziativ, emotional, als könnte sie dadurch das Tempo erhöhen und eine größere Nähe zu den Protagonisten erzeugen, so getrieben und atemlos, dass keine Zeit mehr bleibt, ihre Gedanken zu Ende zu formulieren. Das allerdings misslingt. Die Zuspitzung dieses ohnehin schon wenig fließenden Schreibstils hätte gar nicht notgetan, um die prekäre Situation der Figuren zu veranschaulichen.
Fast zwanzig Jahre älter als Nicola Karlsson, hat auch die Berliner Schriftstellerin Regina Scheer einen Roman über Wedding geschrieben, den "Stadtteil der Habenichtse", wie sie bemerkt. Doch schon der Anfang des Buches lässt nichts Gutes erahnen: Die Stimme, die auf den ersten Seiten zu den Lesern spricht und vom Kommen und Gehen der Bewohner eines Mietshauses erzählt, ist nicht die einer Person. Hier spricht allen Ernstes das Haus selbst. Es denkt, fühlt, sieht und erinnert sich, als wäre es ein Mensch. Was man erst für einen misslungenen Prolog hält, den man schnell wieder hätte vergessen können, entpuppt sich als wiederkehrendes Motiv eines altbackenen Romans, der zu viel auf einmal will.
Scheer entscheidet sich wie Karlsson für die parallele Erzählung mehrerer Protagonisten, die in dem Weddinger Haus wohnen oder gewohnt haben. Anders als bei Karlsson treffen hier aber Gegenwart und Vergangenheit aufeinander. Leo, ein alter Jude, der gerade aus Israel in Berlin zu Besuch ist, fand in dem Haus während des Krieges Unterschlupf bei Gertrud, die noch immer dort wohnt. Laila, ein halbes Jahrhundert jünger als Leo, ist eine Sintiza aus Polen und floh mit ihren Eltern nach Deutschland, als sie sechs Jahre alt war. Nach und nach wird das heruntergekommene Haus, das sich Immobilienhaie unter den Nagel reißen wollen, überwiegend von Migranten bewohnt, das Viertel ändert sich, nur Gertrud bleibt. Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, Geschichte der Sinti und Roma, Mieterverdrängung, Migration früher und heute - die Autorin will in diesem Buch alles vereinen. Die historischen Rückblenden sind gründlich recherchiert, fügen sich aber nicht gut in die erfundene Geschichte.
Auch wenn der Text besonders durch die Figur Gertrud berührende Momente enthält, sind die stilistischen Ausfälle, zu denen das sprechende Haus gehört, schwer zu ertragen. "So wuchs ich langsam und wurde ein schönes Haus", heißt es an einer Stelle. Oder: "Als sie Norida und Lucia die Pflanze erklärte, ihnen erzählte, dass die Bromelien nur ein einziges Mal blühen, hatte Gertrud plötzlich das Gefühl, sie rede über sich selbst . . . Aber was ist nur aus ihr geworden, jetzt vergleicht sie sich schon mit einem Blumentopf."
Ob Häuser, Menschen oder Blumentöpfe: Wedding lädt zum Erzählen ein. Wie das besser oder schlechter gelingen kann, zeigen die Romane von Karlsson und Scheer eindrücklich, die bei aller Ähnlichkeit des äußeren Handlungsrahmens zwei grundverschiedene Texte vorgelegt haben.
Regina Scheer: "Gott wohnt im Wedding". Roman.
Penguin Verlag, München 2019. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Nicola Karlsson: "Licht über dem Wedding". Roman.
Piper Verlag, München 2019. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Björn Hayer glaubt, dass Nicola Karlssons neuer Roman über drei abgehängte Existenzen im ehemaligen Berliner Arbeiterviertel Wedding der "neuen Ernsthaftigkeit" angehört. Ob es um Wolf geht, der den Verlust seiner Frau in Alkohol ertränkt, dessen Tochter, die aus ihrem Drogenumfeld keinen Halt bekommt und von der Schule verwiesen wird, oder um die mittellose Modebloggerin Hannah - die Ironie, die man in den zeitgenössischen Werken über Angehörige unterer Schichten oftmals antreffe, weiche hier der schonungslosen Beschreibung der Wahrheit trauriger Verhältnisse. Dass er so gezwungen war, ganz genau hinzusehen, wo üblicherweise "Verdrängung einsetzt", hat dem Rezensenten ein intensives, äußerst wertvolles Lektüre-Erlebnis beschert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein Einblick in Existenzen, wie es sie eben durchaus in der Stadt gibt und Schilderung einer Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit, die ohne Überdramatisierung auskommt, die berührt, sodass man doch immer wieder zu diesem Buch greift." Berliner Zeitung 20190518