Der ungarische Jude Robert Fisch wurde als 19jähriger von den Nazis deportiert, er überlebte die Konzentrationslager Mauthausen und Gunskirchen und einen Todesmarsch. Nach seiner Befreiung entschied er sich, dass in seinem Gedenken trotz des erlebten Grauens nicht der Hass, sondern die Liebe das letzte Wort behalten soll. In den USA wirkt der Arzt und Maler seither für Toleranz und Mitmenschlichkeit.
Aus dem Gesamtwerk von Robert O. Fisch für das Karl König Institut zusammengestellt und aus dem Amerikanischen übersetzt von Anne Weise.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2017Das Vermächtnis
der Überlebenden
Zum 27. Januar: „Nie wieder“, hieß es früher. Heute
haben NS-Opfer neue Botschaften an die Jugend
VON ROBERT PROBST
Zwei Entwicklungsstränge lassen sich in den vergangenen Jahren im Umgang mit der deutschen Erinnerungskultur an das Dritte Reich, seine Untaten und vor allem an den Holocaust beobachten. Die einen konstatieren oder beklagen das Ende der Ära der Zeitzeugen. Diese rückt ganz notwendigerweise immer näher. Fast 78 Jahre sind seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs vergangen, 2017 jährt sich das Ende dieses globalen Zerstörungssturms zum 72. Mal. Die Zeitzeugen, die diese dunkle Zeit noch selbst als Jugendliche oder Erwachsene erlebt und durchlitten haben, werden immer weniger. Man denke nur an den Tod von Max Mannheimer im vergangenen Herbst.
Bis zum Alter von 96 Jahren war er als einer der prominentesten Holocaust-Überlebenden in Deutschland und einer der unermüdlichsten Mahner an die jüngeren Generationen im Namen der Erinnerung unterwegs gewesen. Seine zentrale Botschaft lautete: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“ Nicht zuletzt Mannheimers Tod, dessen Lebensleistung auch von der Kanzlerin gewürdigt wurde, war dann wieder Anlass vom Ende der Zeitzeugen-Ära zu schreiben und sich die Frage zu stellen: Was kommt danach? Werden sich künftige Schülergenerationen vor ein Videogerät setzen und sich anhören, was Opfer (und Täter) erlebt haben in einer Zeit, die vielen inzwischen so fremd und vergangen erscheint wie das Mittelalter? Doch zum Trost: Es gibt sie noch, die Zeitzeugen, die etwas zu sagen haben.
Und dann gibt es den zweiten Entwicklungsstrang, der von einigen Historikern und Soziologen vertreten wird. Sie sagen, überspitzt formuliert: Es ist gar nicht so schlimm, wenn die Zeitzeugen aussterben. Sie finden, man dürfe die Geschichte des Holocaust eben nicht von solchen Zeitzeugen vermitteln lassen, die ihre Geschichte immer mit dem Wissen dessen erzählen, der den Holocaust überlebt hat. Sie fordern eine Abkehr vom „historisch-moralischen Pathos (. . .), das im Kampf um die Erinnerung seine Berechtigung hatte, nun aber abgestanden und muffig geworden ist. Nicht vergessen zu sollen ist ein sinnloser Appell, wenn niemand vergessen will.“ (Harald Welzer, Dana Giesecke: Das Menschenmögliche: Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, 2013).
Und während sich Pädagogen und Gedenkstätten vielerlei sinnvolle und weniger sinnvolle Gedanken gemacht haben, wie sie den – ja nicht überraschend kommenden – Übergang von der „heißen“ zur „kalten“ Erinnerung am besten meistern sollen, rügen die nächsten längst das rituell erstarrte Gedenken der Deutschen an den Holocaust. Nicht zuletzt der 27. Januar ist hier gemeint, der Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee im Jahr 1945. Von „Memorymania“ sprach etwa die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, andere vom „Erinnerungszwang“. Der 27. Januar, den der jüngst verstorbene Roman Herzog als Bundespräsident 1996 zum verbindlichen bundesweiten Gedenktag an die Opfer das Nationalsozialismus erklärt hatte, bietet Anlass für Gedanken zu drei Büchern, die jüngst erschienen sind und einen neuen Trend repräsentieren. Ganz im Sinne von Aleida Assmann: „Das Datum im Kalender entspricht keiner allgemeinen und gleichförmigen Erinnerungsverordnung, sondern bietet lediglich einen Erinnerungsanlass, den jeder und jede nach eigenen Interessen und Motivationen wahrnehmen kann.“ (Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, 2013)
Einer der durchaus vielen noch lebenden Zeitzeugen ist Shlomo Graber. Der inzwischen 90-Jährige hat 2015 seine Autobiografie („Denn Liebe ist stärker als Hass“) vorgelegt und daraus nun seine Jugend- und Leidenszeit während der NS-Herrschaft („Der Junge, der nicht hassen wollte“) ausgekoppelt. Seit mehr als 25 Jahren ist Graber, der in der Schweiz lebt, in Schulen unterwegs und erzählt davon, wie er drei KZs und einen Todesmarsch überlebte, wie seine Mutter, vier Geschwister, Großmutter, Tanten und Onkel in Auschwitz vergast wurden, wie er den Glauben an einen gerechten Gott verlor. Dem Tagesanzeiger erzählte er jüngst, wie es in so einer Schulstunde zugeht: „Da fragte mich ein 14-jähriger Junge als Erstes: Haben Sie viele Leichen gesehen? Und jemand fragte: Haben Sie Hitler gesehen? Und einmal fragte mich sogar ein Schüler: Hatten Sie Sex im Konzentrationslager? Die Jugendlichen sind sehr weit weg vom Thema.“
Und genau aus diesem Grund schlägt Grabers Buch eine Brücke zwischen seiner persönlichen Erfahrung und dem bloßen Lernstoff, vom individuellen Leiden zu den sechs Millionen toten Juden. Die Barbarei bekommt so ein Gesicht, ebenso der Überlebenswille in Gestalt des 17-Jährigen und seines Vaters in Auschwitz. Vieles ist natürlich ähnlich schon beschrieben worden – die kollektive Erfahrung im Ghetto oder KZ kennt eben das stundenlange Appell-Stehen, den unbeschreiblichen Hunger, die willkürlichen Prügelstrafen, die grausamen jüdischen Kapos. All das erzählt Graber in der Rückschau, aus 70 Jahren Entfernung. Und doch darf man annehmen, dass die erzählten Episoden sich ein für allemal in sein Gehirn und seine Seele eingeschrieben haben.
Im Sinne der geforderten Wissensvermittlung mangelt es an vielem, die Geschichte des NS-Reiches wird nur am Rande und sehr holzschnitzartig erwähnt. Die Einordnung der Ereignisse in den Kriegsverlauf fehlt völlig – aber das ist auch nicht der Sinn der Sache. „Dieses Buch habe ich aus einem einzigen Grund geschrieben: Um den Menschen und speziell der Jugend die Botschaft zu übermitteln, dass Hass die Seele vergiftet“, betont Graber.
Ja, Graber hat eine Botschaft, das Pathetische ist ihm nicht fremd – aber seine Botschaft ist von besonderer Kraft. An der Rampe von Auschwitz, kurz bevor sie getrennt wurden und fast alle seine Familienmitglieder in den Tod gingen, sagte seine Mutter zu ihm: „Sei stark und lass keinen Hass in dein Herz. Liebe ist stärker als Hass, mein Sohn . . . vergiss das nie.“ Daran hat Shlomo Graber sich gehalten. Beeindruckend für einen, der durch die Hölle gegangen ist. Und: Die Botschaft schmälert seine Erzählung nicht.
Auch Robert O. Fisch („Licht vom Gelben Stern“) will mit seinen Erinnerungen nicht ein Denkmal des Grauens setzen, sondern seine Lehre aus dem Holocaust vermitteln. Wie bei Graber heißt sie: Liebe ist stärker als Hass. Fisch, der als jüdischer ungarischer Junge die KZ Mauthausen und Gunskirchen überlebte, beschreibt in kurzen Abschnitten und ausdrucksstarken Bildern seinen Weg. Heute lebt der 91-Jährige in den USA und hat das „Gefühl, dass alle, die mit dem gelben Stern markiert waren, im Innern tätowiert sind. Am Leben geblieben zu sein ist kein Privileg, sondern eine außerordentliche Verpflichtung“.
Zwei weitere Parallelen lassen sich feststellen. Sowohl Graber als auch Fisch berichten, in ihren dunkelsten Stunden sei ihr Hass auf die Peiniger unermesslich gewesen. „Ich werde sie alle töten“, so lautet ihre Fantasie beinahe wortgleich. Und noch frappierender: Beide haben ein besonderes Erlebnis nach ihrer Befreiung. Sie treffen auf bettelnde Deutsche – und beide, vor Stunden noch KZ-Häftlinge, geben etwas ab von dem wenigen, das sie selbst haben. Graber sagt zu seinen staunenden Kameraden: „Wollt ihr denn Rache nehmen an dieser unschuldigen Frau und dem armen Kind? Wollt ihr diese Frau und ihr Kind hassen, nur weil sie Deutsche sind? Wollt ihr sein wie er?“
Die Botschaft kann aber auch ins Extreme reichen. Etwa bei Eva Mozes Kor, die im Prozess gegen den einstigen SS-Wachmann Oskar Gröning Unmut bei vielen NS-Opfern auslöste, indem sie dem Angeklagten die Hand reichte und ihm öffentlich vergab – und auch ein Buch darüber publizierte („Die Macht des Vergebens“). „Habe ich nicht das Recht, frei zu sein von dem, was die Nazis mir angetan haben?“, fragt die heute 82-Jährige, die in Auschwitz unter Mengeles Zwillingsexperimenten litt. Vergeben sei nicht Vergessen, sondern eine Form von Macht: die Kontrolle über das eigene Leben wiederzugewinnen. (Siehe SZ vom 3. Dezember 2016)
Überlebensgeschichten waren früher nüchterner, vom direkten Erleben diktiert und wollten einfach schildern, wie es gewesen ist. Die Botschaft: nie wieder. Das ist heute anders. Das Wissen über den Holocaust ist gewachsen, viele Details sind bekannt. Grausames wird wie bei Graber bewusst weggelassen. Einiges gerät gleichnishaft, wie die Bettler-Szenen zeigen. An ihrem Lebensabend wollen die Zeitzeugen ihr Vermächtnis weitergeben an die Jugend. „Immer menschlich bleiben, jedem gegenüber und unter allen Umständen“, so formuliert es Fisch. Die Würde des Überlebenden verleiht der Aussage Gewicht.
Auftritte von Zeitzeugen bleiben als Begegnung und Ereignis im persönlichen Gedächtnis der Nachwachsenden anders haften als Zahlen und Fakten im reinen Wissensgedächtnis, konzediert Assmann. Vielleicht helfen auch deren Bücher weiter.
Eine Gymnasiastin schrieb kürzlich einen Brief an Shlomo Graber, darin heißt es: „Ihr Buch lässt mich große Dankbarkeit spüren. Dankbar in einem nun demokratischen Deutschland leben zu dürfen. In Freiheit. Aber vor allem lässt es mich Dankbarkeit und Hoffnung spüren, dass es Menschen wie Sie gibt.“ Eine Einzelmeinung vielleicht. Aber eine ermutigende in Zeiten, in denen Geschichtslehrer, die als Politiker auftreten, über eine „dämliche Bewältigungspolitik“ herziehen und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern.
Wie lässt sich der Übergang
von der „heißen“ zur „kalten“
Erinnerung gestalten?
Einiges gerät gleichnishaft – doch
die Würde des Überlebenden
verleiht den Aussagen Gewicht
Shlomo Graber:
Der Junge, der nicht hassen wollte. Eine wahre Geschichte. Riverfield-Verlag Basel 2016, 224 Seiten, 19,90 Euro.
E-Book: 14,99 Euro.
Robert O. Fisch:
Licht vom Gelben Stern.
Funken der Menschlichkeit in der Zeit des Holocaust. Aus dem Amerikanischen von Anne Weise. Info-3-Verlag Frankfurt, 2016. 72 Seiten, 18 Euro.
Eva Mozes Kor:
Die Macht des Vergebens. Benevento-Verlag, Salzburg, 2016, 240 Seiten, 24 Euro.
E-Book: 18,99 Euro.
„Die Erinnerung darf nicht enden. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns
zu finden, die in die Zukunft wirkt“, sagte Bundespräsident Roman Herzog
zum ersten Holocaust-Gedenktag. Mahnmal in Berlin (oben).
Ungarische Juden auf der Rampe im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, 1944 (unten).
Fotos: Regina Schmeken, epd
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Überlebenden
Zum 27. Januar: „Nie wieder“, hieß es früher. Heute
haben NS-Opfer neue Botschaften an die Jugend
VON ROBERT PROBST
Zwei Entwicklungsstränge lassen sich in den vergangenen Jahren im Umgang mit der deutschen Erinnerungskultur an das Dritte Reich, seine Untaten und vor allem an den Holocaust beobachten. Die einen konstatieren oder beklagen das Ende der Ära der Zeitzeugen. Diese rückt ganz notwendigerweise immer näher. Fast 78 Jahre sind seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs vergangen, 2017 jährt sich das Ende dieses globalen Zerstörungssturms zum 72. Mal. Die Zeitzeugen, die diese dunkle Zeit noch selbst als Jugendliche oder Erwachsene erlebt und durchlitten haben, werden immer weniger. Man denke nur an den Tod von Max Mannheimer im vergangenen Herbst.
Bis zum Alter von 96 Jahren war er als einer der prominentesten Holocaust-Überlebenden in Deutschland und einer der unermüdlichsten Mahner an die jüngeren Generationen im Namen der Erinnerung unterwegs gewesen. Seine zentrale Botschaft lautete: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“ Nicht zuletzt Mannheimers Tod, dessen Lebensleistung auch von der Kanzlerin gewürdigt wurde, war dann wieder Anlass vom Ende der Zeitzeugen-Ära zu schreiben und sich die Frage zu stellen: Was kommt danach? Werden sich künftige Schülergenerationen vor ein Videogerät setzen und sich anhören, was Opfer (und Täter) erlebt haben in einer Zeit, die vielen inzwischen so fremd und vergangen erscheint wie das Mittelalter? Doch zum Trost: Es gibt sie noch, die Zeitzeugen, die etwas zu sagen haben.
Und dann gibt es den zweiten Entwicklungsstrang, der von einigen Historikern und Soziologen vertreten wird. Sie sagen, überspitzt formuliert: Es ist gar nicht so schlimm, wenn die Zeitzeugen aussterben. Sie finden, man dürfe die Geschichte des Holocaust eben nicht von solchen Zeitzeugen vermitteln lassen, die ihre Geschichte immer mit dem Wissen dessen erzählen, der den Holocaust überlebt hat. Sie fordern eine Abkehr vom „historisch-moralischen Pathos (. . .), das im Kampf um die Erinnerung seine Berechtigung hatte, nun aber abgestanden und muffig geworden ist. Nicht vergessen zu sollen ist ein sinnloser Appell, wenn niemand vergessen will.“ (Harald Welzer, Dana Giesecke: Das Menschenmögliche: Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, 2013).
Und während sich Pädagogen und Gedenkstätten vielerlei sinnvolle und weniger sinnvolle Gedanken gemacht haben, wie sie den – ja nicht überraschend kommenden – Übergang von der „heißen“ zur „kalten“ Erinnerung am besten meistern sollen, rügen die nächsten längst das rituell erstarrte Gedenken der Deutschen an den Holocaust. Nicht zuletzt der 27. Januar ist hier gemeint, der Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee im Jahr 1945. Von „Memorymania“ sprach etwa die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, andere vom „Erinnerungszwang“. Der 27. Januar, den der jüngst verstorbene Roman Herzog als Bundespräsident 1996 zum verbindlichen bundesweiten Gedenktag an die Opfer das Nationalsozialismus erklärt hatte, bietet Anlass für Gedanken zu drei Büchern, die jüngst erschienen sind und einen neuen Trend repräsentieren. Ganz im Sinne von Aleida Assmann: „Das Datum im Kalender entspricht keiner allgemeinen und gleichförmigen Erinnerungsverordnung, sondern bietet lediglich einen Erinnerungsanlass, den jeder und jede nach eigenen Interessen und Motivationen wahrnehmen kann.“ (Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, 2013)
Einer der durchaus vielen noch lebenden Zeitzeugen ist Shlomo Graber. Der inzwischen 90-Jährige hat 2015 seine Autobiografie („Denn Liebe ist stärker als Hass“) vorgelegt und daraus nun seine Jugend- und Leidenszeit während der NS-Herrschaft („Der Junge, der nicht hassen wollte“) ausgekoppelt. Seit mehr als 25 Jahren ist Graber, der in der Schweiz lebt, in Schulen unterwegs und erzählt davon, wie er drei KZs und einen Todesmarsch überlebte, wie seine Mutter, vier Geschwister, Großmutter, Tanten und Onkel in Auschwitz vergast wurden, wie er den Glauben an einen gerechten Gott verlor. Dem Tagesanzeiger erzählte er jüngst, wie es in so einer Schulstunde zugeht: „Da fragte mich ein 14-jähriger Junge als Erstes: Haben Sie viele Leichen gesehen? Und jemand fragte: Haben Sie Hitler gesehen? Und einmal fragte mich sogar ein Schüler: Hatten Sie Sex im Konzentrationslager? Die Jugendlichen sind sehr weit weg vom Thema.“
Und genau aus diesem Grund schlägt Grabers Buch eine Brücke zwischen seiner persönlichen Erfahrung und dem bloßen Lernstoff, vom individuellen Leiden zu den sechs Millionen toten Juden. Die Barbarei bekommt so ein Gesicht, ebenso der Überlebenswille in Gestalt des 17-Jährigen und seines Vaters in Auschwitz. Vieles ist natürlich ähnlich schon beschrieben worden – die kollektive Erfahrung im Ghetto oder KZ kennt eben das stundenlange Appell-Stehen, den unbeschreiblichen Hunger, die willkürlichen Prügelstrafen, die grausamen jüdischen Kapos. All das erzählt Graber in der Rückschau, aus 70 Jahren Entfernung. Und doch darf man annehmen, dass die erzählten Episoden sich ein für allemal in sein Gehirn und seine Seele eingeschrieben haben.
Im Sinne der geforderten Wissensvermittlung mangelt es an vielem, die Geschichte des NS-Reiches wird nur am Rande und sehr holzschnitzartig erwähnt. Die Einordnung der Ereignisse in den Kriegsverlauf fehlt völlig – aber das ist auch nicht der Sinn der Sache. „Dieses Buch habe ich aus einem einzigen Grund geschrieben: Um den Menschen und speziell der Jugend die Botschaft zu übermitteln, dass Hass die Seele vergiftet“, betont Graber.
Ja, Graber hat eine Botschaft, das Pathetische ist ihm nicht fremd – aber seine Botschaft ist von besonderer Kraft. An der Rampe von Auschwitz, kurz bevor sie getrennt wurden und fast alle seine Familienmitglieder in den Tod gingen, sagte seine Mutter zu ihm: „Sei stark und lass keinen Hass in dein Herz. Liebe ist stärker als Hass, mein Sohn . . . vergiss das nie.“ Daran hat Shlomo Graber sich gehalten. Beeindruckend für einen, der durch die Hölle gegangen ist. Und: Die Botschaft schmälert seine Erzählung nicht.
Auch Robert O. Fisch („Licht vom Gelben Stern“) will mit seinen Erinnerungen nicht ein Denkmal des Grauens setzen, sondern seine Lehre aus dem Holocaust vermitteln. Wie bei Graber heißt sie: Liebe ist stärker als Hass. Fisch, der als jüdischer ungarischer Junge die KZ Mauthausen und Gunskirchen überlebte, beschreibt in kurzen Abschnitten und ausdrucksstarken Bildern seinen Weg. Heute lebt der 91-Jährige in den USA und hat das „Gefühl, dass alle, die mit dem gelben Stern markiert waren, im Innern tätowiert sind. Am Leben geblieben zu sein ist kein Privileg, sondern eine außerordentliche Verpflichtung“.
Zwei weitere Parallelen lassen sich feststellen. Sowohl Graber als auch Fisch berichten, in ihren dunkelsten Stunden sei ihr Hass auf die Peiniger unermesslich gewesen. „Ich werde sie alle töten“, so lautet ihre Fantasie beinahe wortgleich. Und noch frappierender: Beide haben ein besonderes Erlebnis nach ihrer Befreiung. Sie treffen auf bettelnde Deutsche – und beide, vor Stunden noch KZ-Häftlinge, geben etwas ab von dem wenigen, das sie selbst haben. Graber sagt zu seinen staunenden Kameraden: „Wollt ihr denn Rache nehmen an dieser unschuldigen Frau und dem armen Kind? Wollt ihr diese Frau und ihr Kind hassen, nur weil sie Deutsche sind? Wollt ihr sein wie er?“
Die Botschaft kann aber auch ins Extreme reichen. Etwa bei Eva Mozes Kor, die im Prozess gegen den einstigen SS-Wachmann Oskar Gröning Unmut bei vielen NS-Opfern auslöste, indem sie dem Angeklagten die Hand reichte und ihm öffentlich vergab – und auch ein Buch darüber publizierte („Die Macht des Vergebens“). „Habe ich nicht das Recht, frei zu sein von dem, was die Nazis mir angetan haben?“, fragt die heute 82-Jährige, die in Auschwitz unter Mengeles Zwillingsexperimenten litt. Vergeben sei nicht Vergessen, sondern eine Form von Macht: die Kontrolle über das eigene Leben wiederzugewinnen. (Siehe SZ vom 3. Dezember 2016)
Überlebensgeschichten waren früher nüchterner, vom direkten Erleben diktiert und wollten einfach schildern, wie es gewesen ist. Die Botschaft: nie wieder. Das ist heute anders. Das Wissen über den Holocaust ist gewachsen, viele Details sind bekannt. Grausames wird wie bei Graber bewusst weggelassen. Einiges gerät gleichnishaft, wie die Bettler-Szenen zeigen. An ihrem Lebensabend wollen die Zeitzeugen ihr Vermächtnis weitergeben an die Jugend. „Immer menschlich bleiben, jedem gegenüber und unter allen Umständen“, so formuliert es Fisch. Die Würde des Überlebenden verleiht der Aussage Gewicht.
Auftritte von Zeitzeugen bleiben als Begegnung und Ereignis im persönlichen Gedächtnis der Nachwachsenden anders haften als Zahlen und Fakten im reinen Wissensgedächtnis, konzediert Assmann. Vielleicht helfen auch deren Bücher weiter.
Eine Gymnasiastin schrieb kürzlich einen Brief an Shlomo Graber, darin heißt es: „Ihr Buch lässt mich große Dankbarkeit spüren. Dankbar in einem nun demokratischen Deutschland leben zu dürfen. In Freiheit. Aber vor allem lässt es mich Dankbarkeit und Hoffnung spüren, dass es Menschen wie Sie gibt.“ Eine Einzelmeinung vielleicht. Aber eine ermutigende in Zeiten, in denen Geschichtslehrer, die als Politiker auftreten, über eine „dämliche Bewältigungspolitik“ herziehen und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern.
Wie lässt sich der Übergang
von der „heißen“ zur „kalten“
Erinnerung gestalten?
Einiges gerät gleichnishaft – doch
die Würde des Überlebenden
verleiht den Aussagen Gewicht
Shlomo Graber:
Der Junge, der nicht hassen wollte. Eine wahre Geschichte. Riverfield-Verlag Basel 2016, 224 Seiten, 19,90 Euro.
E-Book: 14,99 Euro.
Robert O. Fisch:
Licht vom Gelben Stern.
Funken der Menschlichkeit in der Zeit des Holocaust. Aus dem Amerikanischen von Anne Weise. Info-3-Verlag Frankfurt, 2016. 72 Seiten, 18 Euro.
Eva Mozes Kor:
Die Macht des Vergebens. Benevento-Verlag, Salzburg, 2016, 240 Seiten, 24 Euro.
E-Book: 18,99 Euro.
„Die Erinnerung darf nicht enden. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns
zu finden, die in die Zukunft wirkt“, sagte Bundespräsident Roman Herzog
zum ersten Holocaust-Gedenktag. Mahnmal in Berlin (oben).
Ungarische Juden auf der Rampe im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, 1944 (unten).
Fotos: Regina Schmeken, epd
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