Gedichte werden nicht aus Ideen gemacht, sondern aus Worten, aus den Bausteinen, die die 26 Lettern des Alphabets bilden. Doch Buchstaben sind Nomaden. Sie entfalten - wie im Anagramm - ihr Eigenleben und suchen nach neuen Konstellationen. Seit jeher verspüren die Lettern eine starke Affinität zum Reich der Zahlen. Hier regieren Codes und Chiffren. Mit Textverschlüsselungen arbeitet nicht nur der Geheimdienst, sondern auch die Zahlenpoetik. Dabei entstehen Ponderabilien, gewichtete Worte. Das spezifische Gewicht eines Wortes errechnet sich aus der Summe seines Buchstabenwerts. Dabei gilt das Schema A=1, B=2, C=3 usw. bis Z=26. So kommt das Wort »Zahl« auf das spezifische Gewicht von 47 (Z=26, A=1, H=8, L=12). Aus der Allianz von Buchstabe und Zahl ergeben sich eine Vielzahl experimenteller Anordnungen, die für alphanumerische Textkompositionen fruchtbar gemacht werden können. Bei der Arbeit an den »Gewichteten Gedichten« dient dem Autor ein von ihm selbst entwickeltes Wörterbuch - der alphanumerische Thesaurus -, in dem er den eigenen Wortschatz nach Zahlenwerten rubriziert hat. Der Thesaurus umfasst derzeit etwa 12.000 Begriffe und wird ständig weitergeführt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2005Im Urgrund der Schriftzeichen
Auf der Wortwaage: Stephan Krass betreibt Zahlenpoesie
Ein Wort, so nimmt man gemeinhin an, hat den Charakter eines Zeichens, es verweist auf etwas, was es zu bezeichnen gilt. Fährt man nun mit einem Lichtbesen auf die Worte los, so geraten sie in helle Bewegung und zerstieben. Stephan Krass hat sich vorgenommen, einen solchen von ihm erdachten Besen zu schwingen, um die Bedeutung der Worte hinwegzufegen. Der Gedichtband des Baden-Badener Literaturredakteurs verschreibt sich der "Materialseite" der Sprache und möchte in der Tradition der französischen Gruppe "Oulipo" mit den Lettern experimentieren und die Sprache durch formale Zwänge erweitern: "Du fegst diese Nacht. Kind, / Du fängst den Kies. Dicht / Fugt das Denken die Sicht." Er nimmt an, daß auf diese Weise in bisher verschlossenen Räumen der Poesie gekehrt werden kann und nur durch gründliche Reinigung gegenläufige, subversive, widerständige Texte entstehen.
Wie sind die Experimente des Stephan Krass beschaffen? Kapitel eins des Gedichtbuches enthält eine altbekannte Form der sprachlichen Einschränkung: Anagramme. Schon der vor zwei Jahren erschienene Band "Tropen im Tau" vertauschte den Buchstabenbestand eines Wortes oder einer Zeile zur Bildung neuer Begriffe und hoffte auf die Wirkung einer sich selbst überantworteten Sprache. Die Variation des begrenzten Buchstabenmaterials führt auch in dem nun vorliegenden "Lichtbesen aus Blei" zu singenden Klangeindrücken. Die Wiederholung, nicht nur der Laute, ist das Mittel, mit dem Krass seine Gedichte verfugt. "Blaue Silbenstiche / sieben lichtes Laub // Lichte Salbeibusen / lieben Sichelstaub // Licht aus Nebelsieb / bucht in Säbel Seil // Beichte las uns Leib / Sieches Blut an Beil." Die vielen Wortneuschöpfungen sind notwendig, um all die Buchstaben unterzubringen.
In den folgenden Kapiteln verbindet Krass die Sprache mit dem Reich der Zahlen. Er arbeitet nicht nur mit dem Besen, sondern auch mit einer von ihm sorgsam geeichten "Wortwaage". Auch hier hat er von der "Ouvroir de Littérature Potentielle" gelernt, deren Mitglieder nicht nur wie Georges Perec einen Roman lang auf den Buchstaben "e" verzichteten, sondern sich auch mathematische Vorgaben auferlegten. Bei Stephan Krass erhält jeder Buchstabe nach seiner Stellung im Alphabet einen Zahlenwert von eins bis sechsundzwanzig. Und schon läßt sich durch Addition das Gewicht eines jeden Wortes bestimmen. Ausdrücke mit dem gleichen Wert treten nun zueinander in Beziehung, denn ihr Metrologe glaubt, daß diese Übereinstimmung sie füreinander prädestiniert.
Die Wortwaage kann ins Heiter-Absurde pendeln, so wenn der Autor die berühmten Stilübungen des französischen Oulipoten Raymond Queneau wieder auflegt. Jener variierte eine Autobusszene durch verschiedene Sprach- und Stilebenen, Gattungen und Perspektiven neunundneunzigmal. Jetzt stehen an der Bushaltestelle Substantive, und es dürfen nur diejenigen zusteigen, die den Zahlenwert der Linie aufweisen. "Eines SAECULUMs gegen SPITZE erblickte ich in dem GERÜST des GEDÄCHTNISses auf dem hinteren GESCHOSS einer fast besetzten TRILOGIE des VERFEHLENs eine GEMEINHEIT mit sehr langer IMMANENZ." Es bleibt aber nicht beim reinen Spiel mit dem Material und der Permutation zur Belebung und Erweiterung der Sprache.
Der erwünschten Konfusion, dem "Nicht-Intentionalen", ist Sinn beigemischt. Er wird allerdings, so erklärt uns der Autor, durch das regelgeleitete poetische Verfahren aus der Sprache selbst hervorgelockt und durch Gesetze objektiviert. Das könnte man freilich von jeder Formung der Sprache behaupten, denn auch Reim und Metrum geben einem Gedicht einen überpersönlichen Rahmen. Allerdings erschließen sich die angewendeten Gesetzmäßigkeiten hier auch sinnlich, während Stephan Krass jedem Kapitel seines Buches eine Legende beigeben muß, in der er sein zahlenpoetisches Vorgehen erklärt.
Die Waagschale mit der Bedeutung neigt sich schwer, wenn in den sechsundzwanzig Gedichten, die alle die Quersumme des Alphabets enthalten, zahlreiche, oft mit Fremdwörtern aufgesperrte Komposita den enthemmten Kapitalismus und die Erinnerungskultur kritisieren. Hier wurde wohl der Besen nicht gründlich genug geschwungen, und verbreitete Meinungen sind einfach auf dem Gedichtboden liegengeblieben. Worauf es Krass aber eigentlich ankommt, ist die Tiefe jenseits des gründlich bearbeiteten logisch-semantischen Sinngefüges. "Das archaische Spiegelbild der Erinnerung / fabelt im Urgrund der Schriftzeichen." Schon die hochfahrende Wortwahl deutet auf weitreichende Ahnungen und signalisiert Tiefsinn: "Im Augenlid der Unendlichkeit leuchtet / die Achse des Universums opakgrün."
Den verborgenen Sinn meint Krass mit seiner Zahlenpoesie besser zu erfassen als andere. Denn er klagt die alte Klage, die Bezeichnungen stünden in keinem Verhältnis zum Wesen der Dinge. Seit der Antike ahnte man, die Sprache könne auch reine Konvention, eine soziale Übereinkunft, in ihrem Bedeutungsgehalt ganz beliebig sein. Und seitdem gab es Leute, die sich gegen diesen Gedanken zur Wehr setzten: Die Kabbalisten glaubten an eine Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten. Die Romantiker versuchten, die vermeintliche ursprachliche Einheit von Zeichen und Dingen literarisch wiederherzustellen. Und nun hofft Stephan Krass, mit dem Zahlenwert von Worten etwas verbindlich Verbindendes gefunden zu haben, er ist bereit, "das Geheimnis der Schrift zu empfangen". Da leuchtet der Besen.
SANDRA KERSCHBAUMER.
Stephan Krass: "Lichtbesen aus Blei". Gewichtete Gedichte. Elfenbein Verlag, Berlin 2004. 155 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Wortwaage: Stephan Krass betreibt Zahlenpoesie
Ein Wort, so nimmt man gemeinhin an, hat den Charakter eines Zeichens, es verweist auf etwas, was es zu bezeichnen gilt. Fährt man nun mit einem Lichtbesen auf die Worte los, so geraten sie in helle Bewegung und zerstieben. Stephan Krass hat sich vorgenommen, einen solchen von ihm erdachten Besen zu schwingen, um die Bedeutung der Worte hinwegzufegen. Der Gedichtband des Baden-Badener Literaturredakteurs verschreibt sich der "Materialseite" der Sprache und möchte in der Tradition der französischen Gruppe "Oulipo" mit den Lettern experimentieren und die Sprache durch formale Zwänge erweitern: "Du fegst diese Nacht. Kind, / Du fängst den Kies. Dicht / Fugt das Denken die Sicht." Er nimmt an, daß auf diese Weise in bisher verschlossenen Räumen der Poesie gekehrt werden kann und nur durch gründliche Reinigung gegenläufige, subversive, widerständige Texte entstehen.
Wie sind die Experimente des Stephan Krass beschaffen? Kapitel eins des Gedichtbuches enthält eine altbekannte Form der sprachlichen Einschränkung: Anagramme. Schon der vor zwei Jahren erschienene Band "Tropen im Tau" vertauschte den Buchstabenbestand eines Wortes oder einer Zeile zur Bildung neuer Begriffe und hoffte auf die Wirkung einer sich selbst überantworteten Sprache. Die Variation des begrenzten Buchstabenmaterials führt auch in dem nun vorliegenden "Lichtbesen aus Blei" zu singenden Klangeindrücken. Die Wiederholung, nicht nur der Laute, ist das Mittel, mit dem Krass seine Gedichte verfugt. "Blaue Silbenstiche / sieben lichtes Laub // Lichte Salbeibusen / lieben Sichelstaub // Licht aus Nebelsieb / bucht in Säbel Seil // Beichte las uns Leib / Sieches Blut an Beil." Die vielen Wortneuschöpfungen sind notwendig, um all die Buchstaben unterzubringen.
In den folgenden Kapiteln verbindet Krass die Sprache mit dem Reich der Zahlen. Er arbeitet nicht nur mit dem Besen, sondern auch mit einer von ihm sorgsam geeichten "Wortwaage". Auch hier hat er von der "Ouvroir de Littérature Potentielle" gelernt, deren Mitglieder nicht nur wie Georges Perec einen Roman lang auf den Buchstaben "e" verzichteten, sondern sich auch mathematische Vorgaben auferlegten. Bei Stephan Krass erhält jeder Buchstabe nach seiner Stellung im Alphabet einen Zahlenwert von eins bis sechsundzwanzig. Und schon läßt sich durch Addition das Gewicht eines jeden Wortes bestimmen. Ausdrücke mit dem gleichen Wert treten nun zueinander in Beziehung, denn ihr Metrologe glaubt, daß diese Übereinstimmung sie füreinander prädestiniert.
Die Wortwaage kann ins Heiter-Absurde pendeln, so wenn der Autor die berühmten Stilübungen des französischen Oulipoten Raymond Queneau wieder auflegt. Jener variierte eine Autobusszene durch verschiedene Sprach- und Stilebenen, Gattungen und Perspektiven neunundneunzigmal. Jetzt stehen an der Bushaltestelle Substantive, und es dürfen nur diejenigen zusteigen, die den Zahlenwert der Linie aufweisen. "Eines SAECULUMs gegen SPITZE erblickte ich in dem GERÜST des GEDÄCHTNISses auf dem hinteren GESCHOSS einer fast besetzten TRILOGIE des VERFEHLENs eine GEMEINHEIT mit sehr langer IMMANENZ." Es bleibt aber nicht beim reinen Spiel mit dem Material und der Permutation zur Belebung und Erweiterung der Sprache.
Der erwünschten Konfusion, dem "Nicht-Intentionalen", ist Sinn beigemischt. Er wird allerdings, so erklärt uns der Autor, durch das regelgeleitete poetische Verfahren aus der Sprache selbst hervorgelockt und durch Gesetze objektiviert. Das könnte man freilich von jeder Formung der Sprache behaupten, denn auch Reim und Metrum geben einem Gedicht einen überpersönlichen Rahmen. Allerdings erschließen sich die angewendeten Gesetzmäßigkeiten hier auch sinnlich, während Stephan Krass jedem Kapitel seines Buches eine Legende beigeben muß, in der er sein zahlenpoetisches Vorgehen erklärt.
Die Waagschale mit der Bedeutung neigt sich schwer, wenn in den sechsundzwanzig Gedichten, die alle die Quersumme des Alphabets enthalten, zahlreiche, oft mit Fremdwörtern aufgesperrte Komposita den enthemmten Kapitalismus und die Erinnerungskultur kritisieren. Hier wurde wohl der Besen nicht gründlich genug geschwungen, und verbreitete Meinungen sind einfach auf dem Gedichtboden liegengeblieben. Worauf es Krass aber eigentlich ankommt, ist die Tiefe jenseits des gründlich bearbeiteten logisch-semantischen Sinngefüges. "Das archaische Spiegelbild der Erinnerung / fabelt im Urgrund der Schriftzeichen." Schon die hochfahrende Wortwahl deutet auf weitreichende Ahnungen und signalisiert Tiefsinn: "Im Augenlid der Unendlichkeit leuchtet / die Achse des Universums opakgrün."
Den verborgenen Sinn meint Krass mit seiner Zahlenpoesie besser zu erfassen als andere. Denn er klagt die alte Klage, die Bezeichnungen stünden in keinem Verhältnis zum Wesen der Dinge. Seit der Antike ahnte man, die Sprache könne auch reine Konvention, eine soziale Übereinkunft, in ihrem Bedeutungsgehalt ganz beliebig sein. Und seitdem gab es Leute, die sich gegen diesen Gedanken zur Wehr setzten: Die Kabbalisten glaubten an eine Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten. Die Romantiker versuchten, die vermeintliche ursprachliche Einheit von Zeichen und Dingen literarisch wiederherzustellen. Und nun hofft Stephan Krass, mit dem Zahlenwert von Worten etwas verbindlich Verbindendes gefunden zu haben, er ist bereit, "das Geheimnis der Schrift zu empfangen". Da leuchtet der Besen.
SANDRA KERSCHBAUMER.
Stephan Krass: "Lichtbesen aus Blei". Gewichtete Gedichte. Elfenbein Verlag, Berlin 2004. 155 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der Dichter Stephan Krass, den Karl-Heinz Ott lieber als Buchstaben-Experimentator bezeichnet, steht in der Tradition der Oulipo-Poeten, die ihr Schreiben technischen Zwängen unterwerfen und ihre Texte aus der Reibung von Sprache und Regel gewinnen. Krass, der bereits einen Anagrammband vorgelegt hat, hat für sein neues Buch eigens ein alphanumerisches Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe er Gedichte von Goethe, Eichendorff, Benn und Heine umdeuten, kommentieren, neu formulieren kann. Das Erstaunliche an diesem eher mechanischen Vorgehen ist, meint Ott, dass die Resultate alles andere als mechanistisch seien. Krass' Transkription eines Emily Dickinson-Gedichts sei die mathematische Operation in keiner Weise anzumerken, sie sei von geradezu anrührendem Gestus, bemerkt Ott, ein weiterer Beleg für ihn, dass Krass nicht bloß ein Wortmechaniker und Anagrammatiker ist, sondern außerdem ein "dadaistischer Aphoristiker" und "subtiler Spracharchitekt", ohne dessen Fähigkeiten alle Rechenkünste ins Leere liefen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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