"Warum trägt man sein Leben lang Geheimnisse mit sich herum? Und nimmt sie dann mit ins Grab." Alleingelassen mit einem Mischlingskind in der Trümmerwüste Berlins 1946 - das Trauma ihres Lebens hat Neles Großmutter nie verkraftet und an die nächste Generation weitergegeben. Als Nele Niebuhr von der Existenz eines Degas-Gemäldes erfährt, das sich am Ende des Zweiten Weltkriegs im Besitz ihrer verstorbenen Großmutter befunden haben soll, geht es für sie mehr als nur um die Frage nach dem Verbleib eines wahrscheinlich millionenschweren Familienerbes. Denn um das Gemälde rankt sich eine bislang sorgsam verschwiegene Familiengeschichte. Ein schwarzer amerikanischer Besatzungssoldat hatte das Bild einst ihrer Großmutter geschenkt, bevor er auf Nimmerwiedersehen nach Amerika verschwand und sie mit dem gemeinsamen Kind in der Trümmerwüste Berlins allein zurückließ. So jedenfalls hatte es ihre Großmutter erzählt. Nach ihrem Tod findet Nele im Nachlass Hinweise, dass diese Geschichte nur ein Teil der Wahrheit gewesen ist. Sie macht sich auf, den verschollenen Großvater in Amerika zu suchen - und mit ihm das Gemälde und den Schlüssel zum Verständnis ihrer eigenen Herkunft.
Mit ihrem Romandebüt ist Larissa Boehning ein großer Wurf gelungen - ein Buch mit einem packenden Stoff, Dramatik, Intelligenz und einer Sprache, biegsam und leuchtend, als sei sie mit Goldfäden durchzogen. Gleichsam nebenbei entfaltet sie über das Private hinaus ein großes Panorama der komplizierten deutsch-amerikanischen Beziehungen vom Weltkrieg bis heute.
Mit ihrem Romandebüt ist Larissa Boehning ein großer Wurf gelungen - ein Buch mit einem packenden Stoff, Dramatik, Intelligenz und einer Sprache, biegsam und leuchtend, als sei sie mit Goldfäden durchzogen. Gleichsam nebenbei entfaltet sie über das Private hinaus ein großes Panorama der komplizierten deutsch-amerikanischen Beziehungen vom Weltkrieg bis heute.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2007Liebe am seidenen Faden
Kriegsfolgen: Larissa Boehnings deutsch-amerikanische Feindschaft
Die Geschichte beginnt in einem Haushalt kurz vor Kriegsende. Und sie beginnt in einem Flugzeug von Amerika nach Deutschland. 1945 wird ein hübsches junges Mädchen von seiner Mutter losgeschickt, um von den Amerikanern Essen zu erbetteln. Etwa sechzig Jahre später ist ihre Enkelin Nele auf dem Heimweg nach Deutschland. Hinter ihr liegen eine gescheiterte Beziehung, eine abgebrochene Karriere und ein misslungenes Treffen mit ihrem Großvater - dem Soldaten, der der jungen Deutschen damals Essen und Zuneigung gab.
Mittels zahlreicher Rückblenden erzählt "Lichte Stoffe" eine Geschichte, die von drei sehr unterschiedlichen Frauen handelt: der inzwischen verstorbenen Großmutter, die allein ein Mischlingskind aufziehen musste; der Tochter Eva, die mit ihrem Mann in die Reihenhaussiedlung gewordene Normalität geflüchtet ist, die ihr als krissellockigem kleinem Mädchen verwehrt geblieben war; und von der Enkelin Nele, die im ehemaligen Feindesland Amerika gemeinsam mit ihrem Freund in einer Modefirma arbeitet. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass so ziemlich alles schiefgeht in den Lebensläufen dieser Frauen. Ein Buch über das Scheitern ist der Roman trotzdem nicht; eher darüber, dass es zwei Arten von Augenblicken gibt: solche zum Gehen und solche zum Bleiben.
Larissa Boehning hat an diesem, ihrem ersten Roman mehrere Jahre lang gearbeitet; das verraten der Verlag und ihre absolut geschliffene Sprache. Besonders auf den ersten paar Seiten überrascht immer wieder, wie präzise jeder der leicht süffisanten Sätze den Kern trifft. Jede Formulierung sitzt, die Sprache lebt von zahlreichen Metaphern und wurde ganz offensichtlich immer wieder genauestens überarbeitet.
Das Ergebnis wirkt nie artifiziell, sondern elegant und leichthändig - wie ein feinziseliertes Schmuckstück, dem man nicht die Arbeit des Goldschmieds ansieht, sondern nur die schimmernde Anmut. Boehnings Perfektionismus ist, ähnlich wie bei Oscar Wilde, einer der zweiten Stufe: Er verrichtet sein Werk, um dann, stets um eine lässige Außenwirkung bemüht, sorgfältig seine eigenen Spuren zu verwischen. Zurück bleiben Sätze wie diese, die Neles in den letzten Zügen liegende Beziehung beschreiben: "Der Faden war so dünn, kaum noch da, von ihm zu ihr. Daran hingen noch ein paar Worte, ein kleines ,Ich will', ein dünngewaschenes ,Bitte', ein lumpiges ,Ich habe dich mal geliebt'. Wirklich, da hing es noch."
Der Faden zerreißt endgültig, weil Nele sich mit den oberflächlichen Werbeleuten, die immer auf dem Sprung in die nächste hippe Stadt sind, nicht mehr identifizieren kann. Den Höhepunkt dieses Dilemmas bildet ein Assessment Center, bei dem firmenintern ein Projektteam zusammengestellt werden soll: Weil der Markt an Marken so übersättigt ist, will der Turnschuhfabrikant eine Marke aufbauen, um sie anschließend wieder verschwinden zu lassen und somit das Begehren der Zielgruppe zu wecken. Zu dieser verquasten Denkweise kommt allerdings noch ein kleines, dekadentes Detail. Denn das Team soll in die ärmsten Regionen der Welt reisen, um dort den Mangel zu studieren und eine fruchtbare PR-Idee aus dem Elend zu zaubern.
Nicht nur solch geradezu menschenverachtende Ideen dienen Boehning zur Formulierung ihrer Amerika-Kritik. Die Autorin zeichnet eine Skizze der deutsch-amerikanischen Beziehungen seit dem Krieg und umschifft dabei die Klischees auf der Gegenwartsebene weiträumig. Die vielen Facetten zeigen kein einheitliches Bild, doch insgesamt bleibt eher ein negativer Eindruck eines Landes haften, das sich in aggressiver Verteidigungsstellung befindet. "Je mehr wir uns als Opfer fühlen, desto unnachgiebiger führen wir Krieg. Je schwächer wir uns fühlen, desto größer wird unser Hunger nach Krieg", erklärt eine Anhalterin Nele.
Der offizielle Grund für Neles Suche nach ihrem Großvater ist ein Degas-Bild - Beutekunst, die er als junger Soldat fand und der Großmutter schenkte. Als diese ihn aus Angepasstheit an die deutsche Gesellschaft in sein Land zurückschickte, gab sie ihm auch das Bild zurück und erzählte kurz vor ihrem Tod auf Kassetten davon. Die Tonbänder begleiten Nele durch die Vereinigten Staaten, und obwohl sie auf den Verbleib des Bildes gespannt ist, scheint eine Aufarbeitung der dritten Generation überflüssig zu sein: Starke Emotionen in Bezug auf den alten Soldaten sucht man bei Nele vergebens. Ihre Mutter Eva hat umso mehr davon, doch sie wagt die Reise nach Amerika nicht und hat ohnehin Mühe, sich an ihrer nicht mehr ganz stabilen Ehe festzuhalten, während ihr Ehemann ihr seine Arbeitslosigkeit seit Monaten verschweigt.
Das Straucheln der Hauptfiguren bei der Suche nach dem richtigen Weg begleitet Boehning mit einem sicheren Gespür für die Situationen, die den Menschen gewissermaßen bis auf den Wesenskern aufbrechen. Dabei versenkt sie sich aber nicht zu tief in einzelne Personen, sondern schaut nach rechts und links, immer im Bewusstsein der dauernden gegenseitigen Belauerung. Das Ergebnis ist ein bezaubernder Roman voller Menschlichkeit. Er handelt von der Heimat, die jeder in sich selbst trägt, und davon, dass man auf andere Menschen trotzdem nicht verzichten kann - weil der einsame Lebenskampf ohne Rückendeckung und Rückzugsmöglichkeit keine Alternative ist.
JULIA BÄHR
Larissa Boehning: "Lichte Stoffe". Roman. Eichborn Berlin Verlag, Frankfurt am Main 2007. 325 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kriegsfolgen: Larissa Boehnings deutsch-amerikanische Feindschaft
Die Geschichte beginnt in einem Haushalt kurz vor Kriegsende. Und sie beginnt in einem Flugzeug von Amerika nach Deutschland. 1945 wird ein hübsches junges Mädchen von seiner Mutter losgeschickt, um von den Amerikanern Essen zu erbetteln. Etwa sechzig Jahre später ist ihre Enkelin Nele auf dem Heimweg nach Deutschland. Hinter ihr liegen eine gescheiterte Beziehung, eine abgebrochene Karriere und ein misslungenes Treffen mit ihrem Großvater - dem Soldaten, der der jungen Deutschen damals Essen und Zuneigung gab.
Mittels zahlreicher Rückblenden erzählt "Lichte Stoffe" eine Geschichte, die von drei sehr unterschiedlichen Frauen handelt: der inzwischen verstorbenen Großmutter, die allein ein Mischlingskind aufziehen musste; der Tochter Eva, die mit ihrem Mann in die Reihenhaussiedlung gewordene Normalität geflüchtet ist, die ihr als krissellockigem kleinem Mädchen verwehrt geblieben war; und von der Enkelin Nele, die im ehemaligen Feindesland Amerika gemeinsam mit ihrem Freund in einer Modefirma arbeitet. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass so ziemlich alles schiefgeht in den Lebensläufen dieser Frauen. Ein Buch über das Scheitern ist der Roman trotzdem nicht; eher darüber, dass es zwei Arten von Augenblicken gibt: solche zum Gehen und solche zum Bleiben.
Larissa Boehning hat an diesem, ihrem ersten Roman mehrere Jahre lang gearbeitet; das verraten der Verlag und ihre absolut geschliffene Sprache. Besonders auf den ersten paar Seiten überrascht immer wieder, wie präzise jeder der leicht süffisanten Sätze den Kern trifft. Jede Formulierung sitzt, die Sprache lebt von zahlreichen Metaphern und wurde ganz offensichtlich immer wieder genauestens überarbeitet.
Das Ergebnis wirkt nie artifiziell, sondern elegant und leichthändig - wie ein feinziseliertes Schmuckstück, dem man nicht die Arbeit des Goldschmieds ansieht, sondern nur die schimmernde Anmut. Boehnings Perfektionismus ist, ähnlich wie bei Oscar Wilde, einer der zweiten Stufe: Er verrichtet sein Werk, um dann, stets um eine lässige Außenwirkung bemüht, sorgfältig seine eigenen Spuren zu verwischen. Zurück bleiben Sätze wie diese, die Neles in den letzten Zügen liegende Beziehung beschreiben: "Der Faden war so dünn, kaum noch da, von ihm zu ihr. Daran hingen noch ein paar Worte, ein kleines ,Ich will', ein dünngewaschenes ,Bitte', ein lumpiges ,Ich habe dich mal geliebt'. Wirklich, da hing es noch."
Der Faden zerreißt endgültig, weil Nele sich mit den oberflächlichen Werbeleuten, die immer auf dem Sprung in die nächste hippe Stadt sind, nicht mehr identifizieren kann. Den Höhepunkt dieses Dilemmas bildet ein Assessment Center, bei dem firmenintern ein Projektteam zusammengestellt werden soll: Weil der Markt an Marken so übersättigt ist, will der Turnschuhfabrikant eine Marke aufbauen, um sie anschließend wieder verschwinden zu lassen und somit das Begehren der Zielgruppe zu wecken. Zu dieser verquasten Denkweise kommt allerdings noch ein kleines, dekadentes Detail. Denn das Team soll in die ärmsten Regionen der Welt reisen, um dort den Mangel zu studieren und eine fruchtbare PR-Idee aus dem Elend zu zaubern.
Nicht nur solch geradezu menschenverachtende Ideen dienen Boehning zur Formulierung ihrer Amerika-Kritik. Die Autorin zeichnet eine Skizze der deutsch-amerikanischen Beziehungen seit dem Krieg und umschifft dabei die Klischees auf der Gegenwartsebene weiträumig. Die vielen Facetten zeigen kein einheitliches Bild, doch insgesamt bleibt eher ein negativer Eindruck eines Landes haften, das sich in aggressiver Verteidigungsstellung befindet. "Je mehr wir uns als Opfer fühlen, desto unnachgiebiger führen wir Krieg. Je schwächer wir uns fühlen, desto größer wird unser Hunger nach Krieg", erklärt eine Anhalterin Nele.
Der offizielle Grund für Neles Suche nach ihrem Großvater ist ein Degas-Bild - Beutekunst, die er als junger Soldat fand und der Großmutter schenkte. Als diese ihn aus Angepasstheit an die deutsche Gesellschaft in sein Land zurückschickte, gab sie ihm auch das Bild zurück und erzählte kurz vor ihrem Tod auf Kassetten davon. Die Tonbänder begleiten Nele durch die Vereinigten Staaten, und obwohl sie auf den Verbleib des Bildes gespannt ist, scheint eine Aufarbeitung der dritten Generation überflüssig zu sein: Starke Emotionen in Bezug auf den alten Soldaten sucht man bei Nele vergebens. Ihre Mutter Eva hat umso mehr davon, doch sie wagt die Reise nach Amerika nicht und hat ohnehin Mühe, sich an ihrer nicht mehr ganz stabilen Ehe festzuhalten, während ihr Ehemann ihr seine Arbeitslosigkeit seit Monaten verschweigt.
Das Straucheln der Hauptfiguren bei der Suche nach dem richtigen Weg begleitet Boehning mit einem sicheren Gespür für die Situationen, die den Menschen gewissermaßen bis auf den Wesenskern aufbrechen. Dabei versenkt sie sich aber nicht zu tief in einzelne Personen, sondern schaut nach rechts und links, immer im Bewusstsein der dauernden gegenseitigen Belauerung. Das Ergebnis ist ein bezaubernder Roman voller Menschlichkeit. Er handelt von der Heimat, die jeder in sich selbst trägt, und davon, dass man auf andere Menschen trotzdem nicht verzichten kann - weil der einsame Lebenskampf ohne Rückendeckung und Rückzugsmöglichkeit keine Alternative ist.
JULIA BÄHR
Larissa Boehning: "Lichte Stoffe". Roman. Eichborn Berlin Verlag, Frankfurt am Main 2007. 325 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ganz hingerissen zeigt sich Rezensentin Julia Bähr von Larissa Boehnings Roman "Lichte Stoffe". Sie bewundert den brillanten Stil der Autorin, der sie in seiner Perfektion an Oscar Wilde erinnert. Gleichwohl wirkt er nie künstlich auf sie, sondern immer "elegant und leichthändig". Sie sieht in dem Roman auch eine Skizze der deutsch-amerikanischen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Lobend hebt sie hervor, dass Boehning hierbei sämtliche Klischees vermeidet. Die Autorin zeichne das überaus facettenreiche Bild eines Landes in permanenter aggressiver Verteidigungshaltung. Im Blick auf die Entwicklung der Hauptfiguren attestiert Bähr der Autorin ein "sicheres Gespür für die Situationen, die den Menschen gewissermaßen bis auf den Wesenskern aufbrechen". Negativ wirkt das Buch auf sie gleichwohl nicht. Ihm Gegenteil: Bähr würdigt es als einen "bezaubernden Roman voller Menschlichkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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