In seinem neuen Roman erzählt Rainer Merkel Szenen einer erlöschenden Liebe. Ein Mann muss zum Flughafen. Er hat es eilig, aber seine Erinnerungen halten ihn auf. Hier in New York hat er seine langjährige Freundin noch einmal getroffen. Ein letztes Mal. In immer neuen Anläufen kreisen seine Gedanken um das Zentrum der Katastrophe. Er erinnert sich an die dramatischen Ereignisse der letzten Monate. Eine Reise durch Kalifornien, die mitten in der Wüste in einem namenlosen Hotel endet. In der Erinnerung erscheint diese Nacht grell und überbelichtet, und die Suche nach der Wahrheit wird zu einem sexuellen Geständnis, einem Geständnis ohne Zuhörer, einem Monolog ohne Publikum. Kurz vor seinem Rückflug erkennt er plötzlich, dass es eine Möglichkeit der Rettung gegeben hätte.
»Was bleibt von den Nächten zurück, die man zusammen verbringt? Ich muss zurückrechnen. Nacht für Nacht. In einer systematischen Erinnerungsarbeit, und wenn man alles noch einmal durchgeht, findet sich vielleicht der entscheidende Moment, der Augenblick, nach dem ich schon die ganze Zeit suche.«
»Was bleibt von den Nächten zurück, die man zusammen verbringt? Ich muss zurückrechnen. Nacht für Nacht. In einer systematischen Erinnerungsarbeit, und wenn man alles noch einmal durchgeht, findet sich vielleicht der entscheidende Moment, der Augenblick, nach dem ich schon die ganze Zeit suche.«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.09.2009Simultandolmetscher der Seele
Auf der Shortlist zum Buchpreis 2009: Rainer Merkels Roman „Lichtjahre entfernt” über einen blassen Psychologen, der sich selbst ein Rätsel ist
Die Angst, sagt Sigmund Freud, sei etwas, das vor dem Schrecken schütze. Er meint das grundsätzlich, er denkt sich die Angst groß, für ihn gehört sie zu den Gründen des Mensch-Seins und Mensch-Werdens. Der Berliner Schriftsteller Rainer Merkel, diplomierter Psychologe und auch als Autor eher den Befindlichkeiten der Seele zugewandt, lässt die Angst hingegen schrumpfen. Sein Held Thomas Kaszinski, schon wieder ein Psychologe, hat jedenfalls vor allem Angst davor, den Flug zu verpassen, der ihn aus New York ins heimatliche München bringen soll.
Dabei hat er die Zeitnot selbst herbeigeführt, aus Geiz, aber auch weil er absichtlich bummelte – ganz so, als hätte er Angst haben wollen. Er hat die kleine Angst gesucht. Schützen, so viel weiß er, kann sie nur, wenn sie den Schrecken, dem sie ausweichen möchte, schon enthält. Und so fährt er hundertfünfzig Seiten lang mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Flughafen (mit einem Taxi wäre er schneller vorangekommen, hätte aber mehr Geld ausgegeben und weniger Angst haben können), während er gleichzeitig an die Tage, Wochen und Jahre denkt, die hinter ihm liegen – und die schon all die Schrecken enthalten, gegen die er sich schützen möchte. Um von den zukünftigen Schrecken gar nicht erst anzufangen. Anders gesagt: der Geiz, die Bummelei, das nervöse Betrachten des Streckenplans, die Schlepperei mit den Taschen, die wachsende Unruhe dienen hier vor allem dem Zweck, dem Helden eine innere Hornhaut wachsen zu lassen.
Und die Hornhaut braucht er. Denn er ist kein angenehmer Mensch, und mit den Menschen, die ihm nahestehen, geht er nicht angenehm um. Seine Freundin betrügt er, seinen besten Freund, einen erfolgreichen dänischen Autor, behandelt er wie einen Idioten, seinen Patienten (es kommt in diesem Buch nur ein Patient vor) hasst er. Und gleichzeitig kann er nicht damit aufhören, eine Exaltation nach der anderen zu provozieren, vor dem Besuch seiner Freundin an einem Schwulenfest teilzunehmen, sich ein Callgirl in die Wohnung einer Verwandten zu bestellen, wo er jederzeit überrascht werden kann.
„Ich brenne darauf, etwas Unvernünftiges und Waghalsiges zu tun”, was sich dann aber, falls es überhaupt zu einem Versuch kommt, ganz schnell als etwas sehr Banales und Schäbiges offenbar. Lange Zeit muss der Held mit seiner Freundin Judith zusammengewesen sein. Am Wochenende vor der Abreise hat sie, die nun in Washington an irgendeiner Forschung arbeitet, ihn in New York besucht, wohin er eines Kongresses wegen geflogen war. Doch das Wochenende war eine Katastrophe. Es gab kein Paar mehr, fall es je eines gegeben hatte. Unter der Hornhaut ist kein lebendes Gewebe mehr, und wenn sich doch noch etwas rühren sollte, so arbeitet Thomas Kaszinski schon an dessen Verhärtung.
„Lichtjahre entfernt”, so der Titel des Romans, besteht aus einer psychologischen Versuchsanordnung: einer Selbstimprägnierung, deren Zweck darin besteht, sich selbst ohne Unterbrechung genau abgemessene Dosen des Schrecklichen zu verabreichen, um gegen alles Schreckliche immun zu werden, sich also gegen sich selbst zu wenden, um sich selbst zu erhalten. Darin liegt, zweifellos, eine psychologische Möglichkeit, und sie mag nicht einmal selten wahrgenommen werden.
Der Versuch, sie literarisch zu schildern, setzt allerdings zweierlei voraus: Der Schrecken selbst muss anschaulich werden, und die Not, aus dem man ihn herbeiruft, um sich von ihm zu befreien, muss eine eigene Sprache finden. Und gewiss, Rainer Merkel ahnt diese Notwendigkeit zumindest, und er gibt sich Mühe mit der Form, treibt stilistischen Aufwand – geschrieben ist das Buch in fünf Kapiteln, die jeweils nur in einem Absatz bestehen. Und während in ihnen die Zeit bis zum (gefährdeten) Abflug verstreicht, schweifen die Gedanken hierhin und dorthin, bleiben an der erzählten Gegenwart hängen, kehren zum Wochenende zuvor, zu einer lange zurückliegenden Reise durch den Westen der Vereinigten Staaten zurück, beschäftigen sich für einen Augenblick mit dieser Prostituierten oder jener Gelegenheitsgeliebten, vergegenwärtigen das Schwulenfest oder einen misslungenen Abend in einem Casino. „Gegen die tyrannische Chronologie meiner Seele gerichtet”, verhalte sich der Held, sagt der Held im Roman über sich selbst und damit auch über den Roman, „pures Simultandolmetschertum von Gefühlen und Bildern. Eine einzige Gleichzeitigkeit von Erinnerungen, die nur angedeutete Erinnerungen sind.”
Wenn sie es denn wären. Leider heißt „andeuten” für Rainer Merkel meist nur „aufrufen”, so dass die Gefühle und Zustände des Protoganisten sich immer wieder zur Neugier des Lesers verhalten, wie der Hudson River zu den touristischen Phantasien gewöhnlicher Reisender – eine Marke, keine Anschauung. So geht es zum Beispiel darum, ob man den anderen nach seinen Vorlieben und Abneigungen fragen darf. Und dann kommt die Antwort, vom Helden zu sich selbst gesprochen? „Judith und ich haben verlernt, wie wir aus unserer symbiotischen Verträumtheit zu einem Moment kommen, in dem eine solche Frage vielleicht angebracht oder notwendig wäre.”
Wie? Es ist, als meine es der Autor mit der schon sehr weit fortgeschrittenen und immer weiter fortschreitenden Abstumpfung seines Protagonisten so ernst, dass er dafür keine andere Sprache mehr kennt als eben die der Abstumpfung. Nicht einmal die Sexualität, die sich als dunkler Dauerton durch das ganze Buch zieht, kann da noch etwas ausrichten: „Ist das am Ende eine unausgesprochene Regel meines Lebens, dass ich den sexuellen Akt nur noch als Kapitulation wahrnehme? Der Sex beendet die quälende und kraftraubende Suche danach.”
Was ist das? Flucht nach vorn, Begehren nach Verstummen und Verdummen? Und so ahnt der Leser schon bald, dass der Held seinen Flug nach München allen Widernissen zum Trotz noch erreichen wird, und der Leser ahnt auch, dass ihm dieser Erfolg nicht gut tun wird. Aber warum er sich für diesen Helden interessieren sollte, das weiß er nach zweihundert Seiten immer noch nicht. THOMAS STEINFELD
RAINER MERKEL: Lichtjahre entfernt. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 204 Seiten, 18,90 Euro.
Rainer Merkel Foto: Jürgen Bauer/S. Fischer Verlag
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Auf der Shortlist zum Buchpreis 2009: Rainer Merkels Roman „Lichtjahre entfernt” über einen blassen Psychologen, der sich selbst ein Rätsel ist
Die Angst, sagt Sigmund Freud, sei etwas, das vor dem Schrecken schütze. Er meint das grundsätzlich, er denkt sich die Angst groß, für ihn gehört sie zu den Gründen des Mensch-Seins und Mensch-Werdens. Der Berliner Schriftsteller Rainer Merkel, diplomierter Psychologe und auch als Autor eher den Befindlichkeiten der Seele zugewandt, lässt die Angst hingegen schrumpfen. Sein Held Thomas Kaszinski, schon wieder ein Psychologe, hat jedenfalls vor allem Angst davor, den Flug zu verpassen, der ihn aus New York ins heimatliche München bringen soll.
Dabei hat er die Zeitnot selbst herbeigeführt, aus Geiz, aber auch weil er absichtlich bummelte – ganz so, als hätte er Angst haben wollen. Er hat die kleine Angst gesucht. Schützen, so viel weiß er, kann sie nur, wenn sie den Schrecken, dem sie ausweichen möchte, schon enthält. Und so fährt er hundertfünfzig Seiten lang mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Flughafen (mit einem Taxi wäre er schneller vorangekommen, hätte aber mehr Geld ausgegeben und weniger Angst haben können), während er gleichzeitig an die Tage, Wochen und Jahre denkt, die hinter ihm liegen – und die schon all die Schrecken enthalten, gegen die er sich schützen möchte. Um von den zukünftigen Schrecken gar nicht erst anzufangen. Anders gesagt: der Geiz, die Bummelei, das nervöse Betrachten des Streckenplans, die Schlepperei mit den Taschen, die wachsende Unruhe dienen hier vor allem dem Zweck, dem Helden eine innere Hornhaut wachsen zu lassen.
Und die Hornhaut braucht er. Denn er ist kein angenehmer Mensch, und mit den Menschen, die ihm nahestehen, geht er nicht angenehm um. Seine Freundin betrügt er, seinen besten Freund, einen erfolgreichen dänischen Autor, behandelt er wie einen Idioten, seinen Patienten (es kommt in diesem Buch nur ein Patient vor) hasst er. Und gleichzeitig kann er nicht damit aufhören, eine Exaltation nach der anderen zu provozieren, vor dem Besuch seiner Freundin an einem Schwulenfest teilzunehmen, sich ein Callgirl in die Wohnung einer Verwandten zu bestellen, wo er jederzeit überrascht werden kann.
„Ich brenne darauf, etwas Unvernünftiges und Waghalsiges zu tun”, was sich dann aber, falls es überhaupt zu einem Versuch kommt, ganz schnell als etwas sehr Banales und Schäbiges offenbar. Lange Zeit muss der Held mit seiner Freundin Judith zusammengewesen sein. Am Wochenende vor der Abreise hat sie, die nun in Washington an irgendeiner Forschung arbeitet, ihn in New York besucht, wohin er eines Kongresses wegen geflogen war. Doch das Wochenende war eine Katastrophe. Es gab kein Paar mehr, fall es je eines gegeben hatte. Unter der Hornhaut ist kein lebendes Gewebe mehr, und wenn sich doch noch etwas rühren sollte, so arbeitet Thomas Kaszinski schon an dessen Verhärtung.
„Lichtjahre entfernt”, so der Titel des Romans, besteht aus einer psychologischen Versuchsanordnung: einer Selbstimprägnierung, deren Zweck darin besteht, sich selbst ohne Unterbrechung genau abgemessene Dosen des Schrecklichen zu verabreichen, um gegen alles Schreckliche immun zu werden, sich also gegen sich selbst zu wenden, um sich selbst zu erhalten. Darin liegt, zweifellos, eine psychologische Möglichkeit, und sie mag nicht einmal selten wahrgenommen werden.
Der Versuch, sie literarisch zu schildern, setzt allerdings zweierlei voraus: Der Schrecken selbst muss anschaulich werden, und die Not, aus dem man ihn herbeiruft, um sich von ihm zu befreien, muss eine eigene Sprache finden. Und gewiss, Rainer Merkel ahnt diese Notwendigkeit zumindest, und er gibt sich Mühe mit der Form, treibt stilistischen Aufwand – geschrieben ist das Buch in fünf Kapiteln, die jeweils nur in einem Absatz bestehen. Und während in ihnen die Zeit bis zum (gefährdeten) Abflug verstreicht, schweifen die Gedanken hierhin und dorthin, bleiben an der erzählten Gegenwart hängen, kehren zum Wochenende zuvor, zu einer lange zurückliegenden Reise durch den Westen der Vereinigten Staaten zurück, beschäftigen sich für einen Augenblick mit dieser Prostituierten oder jener Gelegenheitsgeliebten, vergegenwärtigen das Schwulenfest oder einen misslungenen Abend in einem Casino. „Gegen die tyrannische Chronologie meiner Seele gerichtet”, verhalte sich der Held, sagt der Held im Roman über sich selbst und damit auch über den Roman, „pures Simultandolmetschertum von Gefühlen und Bildern. Eine einzige Gleichzeitigkeit von Erinnerungen, die nur angedeutete Erinnerungen sind.”
Wenn sie es denn wären. Leider heißt „andeuten” für Rainer Merkel meist nur „aufrufen”, so dass die Gefühle und Zustände des Protoganisten sich immer wieder zur Neugier des Lesers verhalten, wie der Hudson River zu den touristischen Phantasien gewöhnlicher Reisender – eine Marke, keine Anschauung. So geht es zum Beispiel darum, ob man den anderen nach seinen Vorlieben und Abneigungen fragen darf. Und dann kommt die Antwort, vom Helden zu sich selbst gesprochen? „Judith und ich haben verlernt, wie wir aus unserer symbiotischen Verträumtheit zu einem Moment kommen, in dem eine solche Frage vielleicht angebracht oder notwendig wäre.”
Wie? Es ist, als meine es der Autor mit der schon sehr weit fortgeschrittenen und immer weiter fortschreitenden Abstumpfung seines Protagonisten so ernst, dass er dafür keine andere Sprache mehr kennt als eben die der Abstumpfung. Nicht einmal die Sexualität, die sich als dunkler Dauerton durch das ganze Buch zieht, kann da noch etwas ausrichten: „Ist das am Ende eine unausgesprochene Regel meines Lebens, dass ich den sexuellen Akt nur noch als Kapitulation wahrnehme? Der Sex beendet die quälende und kraftraubende Suche danach.”
Was ist das? Flucht nach vorn, Begehren nach Verstummen und Verdummen? Und so ahnt der Leser schon bald, dass der Held seinen Flug nach München allen Widernissen zum Trotz noch erreichen wird, und der Leser ahnt auch, dass ihm dieser Erfolg nicht gut tun wird. Aber warum er sich für diesen Helden interessieren sollte, das weiß er nach zweihundert Seiten immer noch nicht. THOMAS STEINFELD
RAINER MERKEL: Lichtjahre entfernt. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 204 Seiten, 18,90 Euro.
Rainer Merkel Foto: Jürgen Bauer/S. Fischer Verlag
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das Dekor in Rainer Merkels neuem Roman kommt Ingeborg Harms "fast folkloristisch" vor. Es ist das New York der kreisenden Ventilatoren und der Lebenssinnsuche, in das Merkel seinen aus München angereisten Helden versetzt. Dass sich das eigentliche Drama im Kopf der Figur abspielt, erkennt Harms allerdings schnell. Ebenso, wie unaufrichtig ihre als Bewusstseinsstrom hervorquellende Lebens- und Partnerbilanz ausfällt. Laut Harms läuft in diesem Buch eh alles auf Sex und Geld hinaus. Und die Erkenntnisse, die der Autor dem Leser am Ende mitgibt, erscheinen in den Worten der Rezensentin eher als von populärpsychologischer Art.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2009Ein Herz aus Geld
Rainer Merkels chaotisch-nüchterne Liebesbilanz
Rainer Merkels neuer Roman spielt im guten alten New York und ist dekoriert mit ein paar Film-Noir-Requisiten, die fast schon folkloristisch sind: Eine drückende Hitze liegt über der Stadt, am Wasserhahn hängt ein nicht fallender Tropfen, es kreisen die Ventilatoren, und ein Münchener Familientherapeut sucht nach dem Lebenssinn. Thomas Kapuszinski ist zu einem neurobiologischen Kongress angereist, doch eigentlich will er seine Langzeitbeziehung treffen und schauen, was an ihr zu retten ist. Judith arbeitet in Washington und hätte ihn lieber dort empfangen, aber Kapuszinski setzt sich durch. Nun ist sie da, bleibt zugeknöpft und weigert sich, mit ihm zu schlafen. Man geht spazieren und redet über Belanglosigkeiten.
Das wirkliche Drama spielt sich im Kopf Kapuszinskis ab. Er erinnert sich an gemeinsame Reisen, an alte und brandneue Liebesabenteuer, die hinter Judiths Rücken vor sich gehen. In einem Bewusstseinsstrom voller Wiederholungen und Sprünge zieht der Erzähler den Leser in eine Lebensbilanz hinein, die so nüchtern wie chaotisch ist. Denn Kapuszinski ist Therapeut und Patient in einer Person. Dabei steht die gleichbleibende Aufmerksamkeit, mit der er alles notiert, in seltsamem Kontrast zur ihn aufwühlenden Krise wie zu seinen geradezu parodistisch hervortretenden Charakterdeformationen.
Kapuszinski ist geizig und sieht gern gönnerhaft auf andere herab. Vor allem in der Frauenwahl bevorzugt er die Unterlegenen und Gehemmten und verdächtigt eine Prostituierte, nur weil sie am Telefon gebrochen Englisch mit ihm spricht, eines Verführungsversuchs, als wäre Hilflosigkeit per se schon sexy. Die Brustwarzen einer Verkäuferin, mit der er sich in München zu Liebesspielen trifft, beschreibt er ihr als "große blühende dunkle Blumen" und lässt den Leser wissen: "Ich benutze bewusst kitschige Metaphern, alles andere würde sie überfordern."
Doch auch durch Kapuszinskis Lebensresümee geistert immer wieder der hohle Atem der parabolischen Phrase, die nach viel klingt und nichts bedeutet: "In diesem Seufzer eines Windzugs, der über Judiths Schläfen gleitet, offenbart sich die ganze Melancholie, die wir in dem Zimmer zurückgelassen haben." Vielleicht ist es in Wahrheit Kapuszinski selbst, den eine weniger geblümte Sprache überfordern würde. Seine Sprachmalerei ist zugleich Gedankenmalerei, ein ausgeschmückter Lebenswall der Unaufrichtigkeit gegen sich selbst. Als ein Mann, der gern die Kontrolle behält, kann er nicht verhindern, dass dieses kontrollierte Leben putzig wird. Er hat es so eingerichtet, dass Menschen und Dinge nie bedrohlich werden, und verachtet sie ein wenig dafür. Doch in New York stößt dieses Arrangement an seine Grenzen.
Der größere Teil des Romans zieht an uns vorbei, während Kapuszinski in der U-Bahn zum Flughafen sitzt. Er ist spät dran, denn er hat beim Reisewecker so sehr gespart, dass der ihn nach ein paar Tagen im Stich ließ. Und weil er nun am Taxi spart, wird er den Flug wahrscheinlich verpassen. Das einzige Risiko, das er sich gönnt, ist die Wette darauf, dass sein Geiz auch diesmal davonkommt. Kein Wunder, dass er genauso beharrlich an Worten und Gefühlen spart. Über eine Liebeserklärung denkt er so lange nach, bis er sie seinlässt: "Es ist kein Satz, den man einfach so sagt." Als er ein Callgirl zu sich bestellt, geht ihm nicht nur die dreistellige Dollarsumme nicht aus dem Kopf, die er für den Hausbesuch investiert, er will in der knappen Zeit auch ein Pornovideo mit der Dame drehen, denn so amortisiert sich das Ganze wieder.
Alles scheint in diesem Buch auf Sex und Geld hinauszulaufen. Als Kapuszinski mit dem Callgirl im Schlafzimmer ankommt, entdeckt er auf dem Bett ein riesiges Herz "aus unzähligen kleinen Münzen". Sehr unbequem, wenn man den Schlafsack unter dem gutgemeinten Kleingeld für nicht ganz so wohlfeile Phantasien braucht. Wir haben verstanden, was uns der Autor sagen will: Judith fehlen die sexuelle Großzügigkeit und Toleranz der käuflichen Prostituierten; sie ist Schuld daran, dass dem Therapeuten der wahre Rausch des Lebens durch die Lappen geht.
Manches deutet darauf hin, dass Kapuszinski ein ungeliebtes Kind gewesen ist und deshalb so buchhalterisch über seine eigenen Ausgaben wacht. Wenn ihn nicht gerade das Herz auf der Decke stört, liebt er Judith für ihre sentimentalen Rituale, und der Beruf des Familientherapeuten hat offenbar damit zu tun, dass ihn ein heiles Familienleben fasziniert. Kapuszinskis Geiz verrät einen tiefsitzenden Mangel, doch seine Fixierung auf Geld und Sex ist nicht die Lösung, sondern nur die Kehrseite des Problems.
Auf einer New Yorker Schwulenparty schaut er gebannt dem lustvollen Treiben im nächtlichen Hintergarten zu: "Der Wind wird stärker, jemand hustet, jemand zieht die Nase hoch, jemand stöhnt aus tiefstem Herzen." Diesmal folgt Kapuszinski "seinen Impulsen" und tut etwas, das ihn "selbst überrascht". Am Nachmittag hatte er einen schwulen Pornostar noch fragen wollen: "Warum tust du dir so etwas an? Geht da nicht alles in die Brüche? Deine Würde? Deine Seele?" Ein paar Stunden später scheint er das Orgienwesen philosophischer zu sehen. Doch wir trauen dem Geizkragen nicht. Für einen wie Kapuszinski ist es einfach jammerschade, bei so viel Bonussex, Mann oder Frau, nur zuzusehen.
INGEBORG HARMS
Rainer Merkel: "Lichtjahre entfernt". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 202 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rainer Merkels chaotisch-nüchterne Liebesbilanz
Rainer Merkels neuer Roman spielt im guten alten New York und ist dekoriert mit ein paar Film-Noir-Requisiten, die fast schon folkloristisch sind: Eine drückende Hitze liegt über der Stadt, am Wasserhahn hängt ein nicht fallender Tropfen, es kreisen die Ventilatoren, und ein Münchener Familientherapeut sucht nach dem Lebenssinn. Thomas Kapuszinski ist zu einem neurobiologischen Kongress angereist, doch eigentlich will er seine Langzeitbeziehung treffen und schauen, was an ihr zu retten ist. Judith arbeitet in Washington und hätte ihn lieber dort empfangen, aber Kapuszinski setzt sich durch. Nun ist sie da, bleibt zugeknöpft und weigert sich, mit ihm zu schlafen. Man geht spazieren und redet über Belanglosigkeiten.
Das wirkliche Drama spielt sich im Kopf Kapuszinskis ab. Er erinnert sich an gemeinsame Reisen, an alte und brandneue Liebesabenteuer, die hinter Judiths Rücken vor sich gehen. In einem Bewusstseinsstrom voller Wiederholungen und Sprünge zieht der Erzähler den Leser in eine Lebensbilanz hinein, die so nüchtern wie chaotisch ist. Denn Kapuszinski ist Therapeut und Patient in einer Person. Dabei steht die gleichbleibende Aufmerksamkeit, mit der er alles notiert, in seltsamem Kontrast zur ihn aufwühlenden Krise wie zu seinen geradezu parodistisch hervortretenden Charakterdeformationen.
Kapuszinski ist geizig und sieht gern gönnerhaft auf andere herab. Vor allem in der Frauenwahl bevorzugt er die Unterlegenen und Gehemmten und verdächtigt eine Prostituierte, nur weil sie am Telefon gebrochen Englisch mit ihm spricht, eines Verführungsversuchs, als wäre Hilflosigkeit per se schon sexy. Die Brustwarzen einer Verkäuferin, mit der er sich in München zu Liebesspielen trifft, beschreibt er ihr als "große blühende dunkle Blumen" und lässt den Leser wissen: "Ich benutze bewusst kitschige Metaphern, alles andere würde sie überfordern."
Doch auch durch Kapuszinskis Lebensresümee geistert immer wieder der hohle Atem der parabolischen Phrase, die nach viel klingt und nichts bedeutet: "In diesem Seufzer eines Windzugs, der über Judiths Schläfen gleitet, offenbart sich die ganze Melancholie, die wir in dem Zimmer zurückgelassen haben." Vielleicht ist es in Wahrheit Kapuszinski selbst, den eine weniger geblümte Sprache überfordern würde. Seine Sprachmalerei ist zugleich Gedankenmalerei, ein ausgeschmückter Lebenswall der Unaufrichtigkeit gegen sich selbst. Als ein Mann, der gern die Kontrolle behält, kann er nicht verhindern, dass dieses kontrollierte Leben putzig wird. Er hat es so eingerichtet, dass Menschen und Dinge nie bedrohlich werden, und verachtet sie ein wenig dafür. Doch in New York stößt dieses Arrangement an seine Grenzen.
Der größere Teil des Romans zieht an uns vorbei, während Kapuszinski in der U-Bahn zum Flughafen sitzt. Er ist spät dran, denn er hat beim Reisewecker so sehr gespart, dass der ihn nach ein paar Tagen im Stich ließ. Und weil er nun am Taxi spart, wird er den Flug wahrscheinlich verpassen. Das einzige Risiko, das er sich gönnt, ist die Wette darauf, dass sein Geiz auch diesmal davonkommt. Kein Wunder, dass er genauso beharrlich an Worten und Gefühlen spart. Über eine Liebeserklärung denkt er so lange nach, bis er sie seinlässt: "Es ist kein Satz, den man einfach so sagt." Als er ein Callgirl zu sich bestellt, geht ihm nicht nur die dreistellige Dollarsumme nicht aus dem Kopf, die er für den Hausbesuch investiert, er will in der knappen Zeit auch ein Pornovideo mit der Dame drehen, denn so amortisiert sich das Ganze wieder.
Alles scheint in diesem Buch auf Sex und Geld hinauszulaufen. Als Kapuszinski mit dem Callgirl im Schlafzimmer ankommt, entdeckt er auf dem Bett ein riesiges Herz "aus unzähligen kleinen Münzen". Sehr unbequem, wenn man den Schlafsack unter dem gutgemeinten Kleingeld für nicht ganz so wohlfeile Phantasien braucht. Wir haben verstanden, was uns der Autor sagen will: Judith fehlen die sexuelle Großzügigkeit und Toleranz der käuflichen Prostituierten; sie ist Schuld daran, dass dem Therapeuten der wahre Rausch des Lebens durch die Lappen geht.
Manches deutet darauf hin, dass Kapuszinski ein ungeliebtes Kind gewesen ist und deshalb so buchhalterisch über seine eigenen Ausgaben wacht. Wenn ihn nicht gerade das Herz auf der Decke stört, liebt er Judith für ihre sentimentalen Rituale, und der Beruf des Familientherapeuten hat offenbar damit zu tun, dass ihn ein heiles Familienleben fasziniert. Kapuszinskis Geiz verrät einen tiefsitzenden Mangel, doch seine Fixierung auf Geld und Sex ist nicht die Lösung, sondern nur die Kehrseite des Problems.
Auf einer New Yorker Schwulenparty schaut er gebannt dem lustvollen Treiben im nächtlichen Hintergarten zu: "Der Wind wird stärker, jemand hustet, jemand zieht die Nase hoch, jemand stöhnt aus tiefstem Herzen." Diesmal folgt Kapuszinski "seinen Impulsen" und tut etwas, das ihn "selbst überrascht". Am Nachmittag hatte er einen schwulen Pornostar noch fragen wollen: "Warum tust du dir so etwas an? Geht da nicht alles in die Brüche? Deine Würde? Deine Seele?" Ein paar Stunden später scheint er das Orgienwesen philosophischer zu sehen. Doch wir trauen dem Geizkragen nicht. Für einen wie Kapuszinski ist es einfach jammerschade, bei so viel Bonussex, Mann oder Frau, nur zuzusehen.
INGEBORG HARMS
Rainer Merkel: "Lichtjahre entfernt". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 202 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Herz aus Geld
Rainer Merkels chaotisch-nüchterne Liebesbilanz
Rainer Merkels neuer Roman spielt im guten alten New York und ist dekoriert mit ein paar Film-Noir-Requisiten, die fast schon folkloristisch sind: Eine drückende Hitze liegt über der Stadt, am Wasserhahn hängt ein nicht fallender Tropfen, es kreisen die Ventilatoren, und ein Münchener Familientherapeut sucht nach dem Lebenssinn. Thomas Kapuszinski ist zu einem neurobiologischen Kongress angereist, doch eigentlich will er seine Langzeitbeziehung treffen und schauen, was an ihr zu retten ist. Judith arbeitet in Washington und hätte ihn lieber dort empfangen, aber Kapuszinski setzt sich durch. Nun ist sie da, bleibt zugeknöpft und weigert sich, mit ihm zu schlafen. Man geht spazieren und redet über Belanglosigkeiten.
Das wirkliche Drama spielt sich im Kopf Kapuszinskis ab. Er erinnert sich an gemeinsame Reisen, an alte und brandneue Liebesabenteuer, die hinter Judiths Rücken vor sich gehen. In einem Bewusstseinsstrom voller Wiederholungen und Sprünge zieht der Erzähler den Leser in eine Lebensbilanz hinein, die so nüchtern wie chaotisch ist. Denn Kapuszinski ist Therapeut und Patient in einer Person. Dabei steht die gleichbleibende Aufmerksamkeit, mit der er alles notiert, in seltsamem Kontrast zur ihn aufwühlenden Krise wie zu seinen geradezu parodistisch hervortretenden Charakterdeformationen.
Kapuszinski ist geizig und sieht gern gönnerhaft auf andere herab. Vor allem in der Frauenwahl bevorzugt er die Unterlegenen und Gehemmten und verdächtigt eine Prostituierte, nur weil sie am Telefon gebrochen Englisch mit ihm spricht, eines Verführungsversuchs, als wäre Hilflosigkeit per se schon sexy. Die Brustwarzen einer Verkäuferin, mit der er sich in München zu Liebesspielen trifft, beschreibt er ihr als "große blühende dunkle Blumen" und lässt den Leser wissen: "Ich benutze bewusst kitschige Metaphern, alles andere würde sie überfordern."
Doch auch durch Kapuszinskis Lebensresümee geistert immer wieder der hohle Atem der parabolischen Phrase, die nach viel klingt und nichts bedeutet: "In diesem Seufzer eines Windzugs, der über Judiths Schläfen gleitet, offenbart sich die ganze Melancholie, die wir in dem Zimmer zurückgelassen haben." Vielleicht ist es in Wahrheit Kapuszinski selbst, den eine weniger geblümte Sprache überfordern würde. Seine Sprachmalerei ist zugleich Gedankenmalerei, ein ausgeschmückter Lebenswall der Unaufrichtigkeit gegen sich selbst. Als ein Mann, der gern die Kontrolle behält, kann er nicht verhindern, dass dieses kontrollierte Leben putzig wird. Er hat es so eingerichtet, dass Menschen und Dinge nie bedrohlich werden, und verachtet sie ein wenig dafür. Doch in New York stößt dieses Arrangement an seine Grenzen.
Der größere Teil des Romans zieht an uns vorbei, während Kapuszinski in der U-Bahn zum Flughafen sitzt. Er ist spät dran, denn er hat beim Reisewecker so sehr gespart, dass der ihn nach ein paar Tagen im Stich ließ. Und weil er nun am Taxi spart, wird er den Flug wahrscheinlich verpassen. Das einzige Risiko, das er sich gönnt, ist die Wette darauf, dass sein Geiz auch diesmal davonkommt. Kein Wunder, dass er genauso beharrlich an Worten und Gefühlen spart. Über eine Liebeserklärung denkt er so lange nach, bis er sie seinlässt: "Es ist kein Satz, den man einfach so sagt." Als er ein Callgirl zu sich bestellt, geht ihm nicht nur die dreistellige Dollarsumme nicht aus dem Kopf, die er für den Hausbesuch investiert, er will in der knappen Zeit auch ein Pornovideo mit der Dame drehen, denn so amortisiert sich das Ganze wieder.
Alles scheint in diesem Buch auf Sex und Geld hinauszulaufen. Als Kapuszinski mit dem Callgirl im Schlafzimmer ankommt, entdeckt er auf dem Bett ein riesiges Herz "aus unzähligen kleinen Münzen". Sehr unbequem, wenn man den Schlafsack unter dem gutgemeinten Kleingeld für nicht ganz so wohlfeile Phantasien braucht. Wir haben verstanden, was uns der Autor sagen will: Judith fehlen die sexuelle Großzügigkeit und Toleranz der käuflichen Prostituierten; sie ist Schuld daran, dass dem Therapeuten der wahre Rausch des Lebens durch die Lappen geht.
Manches deutet darauf hin, dass Kapuszinski ein ungeliebtes Kind gewesen ist und deshalb so buchhalterisch über seine eigenen Ausgaben wacht. Wenn ihn nicht gerade das Herz auf der Decke stört, liebt er Judith für ihre sentimentalen Rituale, und der Beruf des Familientherapeuten hat offenbar damit zu tun, dass ihn ein heiles Familienleben fasziniert. Kapuszinskis Geiz verrät einen tiefsitzenden Mangel, doch seine Fixierung auf Geld und Sex ist nicht die Lösung, sondern nur die Kehrseite des Problems.
Auf einer New Yorker Schwulenparty schaut er gebannt dem lustvollen Treiben im nächtlichen Hintergarten zu: "Der Wind wird stärker, jemand hustet, jemand zieht die Nase hoch, jemand stöhnt aus tiefstem Herzen." Diesmal folgt Kapuszinski "seinen Impulsen" und tut etwas, das ihn "selbst überrascht". Am Nachmittag hatte er einen schwulen Pornostar noch fragen wollen: "Warum tust du dir so etwas an? Geht da nicht alles in die Brüche? Deine Würde? Deine Seele?" Ein paar Stunden später scheint er das Orgienwesen philosophischer zu sehen. Doch wir trauen dem Geizkragen nicht. Für einen wie Kapuszinski ist es einfach jammerschade, bei so viel Bonussex, Mann oder Frau, nur zuzusehen.
INGEBORG HARMS
Rainer Merkel: "Lichtjahre entfernt". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 202 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rainer Merkels chaotisch-nüchterne Liebesbilanz
Rainer Merkels neuer Roman spielt im guten alten New York und ist dekoriert mit ein paar Film-Noir-Requisiten, die fast schon folkloristisch sind: Eine drückende Hitze liegt über der Stadt, am Wasserhahn hängt ein nicht fallender Tropfen, es kreisen die Ventilatoren, und ein Münchener Familientherapeut sucht nach dem Lebenssinn. Thomas Kapuszinski ist zu einem neurobiologischen Kongress angereist, doch eigentlich will er seine Langzeitbeziehung treffen und schauen, was an ihr zu retten ist. Judith arbeitet in Washington und hätte ihn lieber dort empfangen, aber Kapuszinski setzt sich durch. Nun ist sie da, bleibt zugeknöpft und weigert sich, mit ihm zu schlafen. Man geht spazieren und redet über Belanglosigkeiten.
Das wirkliche Drama spielt sich im Kopf Kapuszinskis ab. Er erinnert sich an gemeinsame Reisen, an alte und brandneue Liebesabenteuer, die hinter Judiths Rücken vor sich gehen. In einem Bewusstseinsstrom voller Wiederholungen und Sprünge zieht der Erzähler den Leser in eine Lebensbilanz hinein, die so nüchtern wie chaotisch ist. Denn Kapuszinski ist Therapeut und Patient in einer Person. Dabei steht die gleichbleibende Aufmerksamkeit, mit der er alles notiert, in seltsamem Kontrast zur ihn aufwühlenden Krise wie zu seinen geradezu parodistisch hervortretenden Charakterdeformationen.
Kapuszinski ist geizig und sieht gern gönnerhaft auf andere herab. Vor allem in der Frauenwahl bevorzugt er die Unterlegenen und Gehemmten und verdächtigt eine Prostituierte, nur weil sie am Telefon gebrochen Englisch mit ihm spricht, eines Verführungsversuchs, als wäre Hilflosigkeit per se schon sexy. Die Brustwarzen einer Verkäuferin, mit der er sich in München zu Liebesspielen trifft, beschreibt er ihr als "große blühende dunkle Blumen" und lässt den Leser wissen: "Ich benutze bewusst kitschige Metaphern, alles andere würde sie überfordern."
Doch auch durch Kapuszinskis Lebensresümee geistert immer wieder der hohle Atem der parabolischen Phrase, die nach viel klingt und nichts bedeutet: "In diesem Seufzer eines Windzugs, der über Judiths Schläfen gleitet, offenbart sich die ganze Melancholie, die wir in dem Zimmer zurückgelassen haben." Vielleicht ist es in Wahrheit Kapuszinski selbst, den eine weniger geblümte Sprache überfordern würde. Seine Sprachmalerei ist zugleich Gedankenmalerei, ein ausgeschmückter Lebenswall der Unaufrichtigkeit gegen sich selbst. Als ein Mann, der gern die Kontrolle behält, kann er nicht verhindern, dass dieses kontrollierte Leben putzig wird. Er hat es so eingerichtet, dass Menschen und Dinge nie bedrohlich werden, und verachtet sie ein wenig dafür. Doch in New York stößt dieses Arrangement an seine Grenzen.
Der größere Teil des Romans zieht an uns vorbei, während Kapuszinski in der U-Bahn zum Flughafen sitzt. Er ist spät dran, denn er hat beim Reisewecker so sehr gespart, dass der ihn nach ein paar Tagen im Stich ließ. Und weil er nun am Taxi spart, wird er den Flug wahrscheinlich verpassen. Das einzige Risiko, das er sich gönnt, ist die Wette darauf, dass sein Geiz auch diesmal davonkommt. Kein Wunder, dass er genauso beharrlich an Worten und Gefühlen spart. Über eine Liebeserklärung denkt er so lange nach, bis er sie seinlässt: "Es ist kein Satz, den man einfach so sagt." Als er ein Callgirl zu sich bestellt, geht ihm nicht nur die dreistellige Dollarsumme nicht aus dem Kopf, die er für den Hausbesuch investiert, er will in der knappen Zeit auch ein Pornovideo mit der Dame drehen, denn so amortisiert sich das Ganze wieder.
Alles scheint in diesem Buch auf Sex und Geld hinauszulaufen. Als Kapuszinski mit dem Callgirl im Schlafzimmer ankommt, entdeckt er auf dem Bett ein riesiges Herz "aus unzähligen kleinen Münzen". Sehr unbequem, wenn man den Schlafsack unter dem gutgemeinten Kleingeld für nicht ganz so wohlfeile Phantasien braucht. Wir haben verstanden, was uns der Autor sagen will: Judith fehlen die sexuelle Großzügigkeit und Toleranz der käuflichen Prostituierten; sie ist Schuld daran, dass dem Therapeuten der wahre Rausch des Lebens durch die Lappen geht.
Manches deutet darauf hin, dass Kapuszinski ein ungeliebtes Kind gewesen ist und deshalb so buchhalterisch über seine eigenen Ausgaben wacht. Wenn ihn nicht gerade das Herz auf der Decke stört, liebt er Judith für ihre sentimentalen Rituale, und der Beruf des Familientherapeuten hat offenbar damit zu tun, dass ihn ein heiles Familienleben fasziniert. Kapuszinskis Geiz verrät einen tiefsitzenden Mangel, doch seine Fixierung auf Geld und Sex ist nicht die Lösung, sondern nur die Kehrseite des Problems.
Auf einer New Yorker Schwulenparty schaut er gebannt dem lustvollen Treiben im nächtlichen Hintergarten zu: "Der Wind wird stärker, jemand hustet, jemand zieht die Nase hoch, jemand stöhnt aus tiefstem Herzen." Diesmal folgt Kapuszinski "seinen Impulsen" und tut etwas, das ihn "selbst überrascht". Am Nachmittag hatte er einen schwulen Pornostar noch fragen wollen: "Warum tust du dir so etwas an? Geht da nicht alles in die Brüche? Deine Würde? Deine Seele?" Ein paar Stunden später scheint er das Orgienwesen philosophischer zu sehen. Doch wir trauen dem Geizkragen nicht. Für einen wie Kapuszinski ist es einfach jammerschade, bei so viel Bonussex, Mann oder Frau, nur zuzusehen.
INGEBORG HARMS
Rainer Merkel: "Lichtjahre entfernt". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 202 S., geb., 18,95 [Euro].
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