Produktdetails
- Verlag: Trias
- Seitenzahl: 272
- Abmessung: 235mm
- Gewicht: 602g
- ISBN-13: 9783893733620
- ISBN-10: 3893733620
- Artikelnr.: 24719629
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996Zur Lage der Liebe
Wenn Stefanie sich in Schokosauce wälzt: Kommt jetzt endlich eine neue Prüderie auf die Deutschen zu? / Von Dirk Schümer
Rund neunzig Prozent der Deutschen, so eine aktuelle Umfrage, fordern höhere Strafen bei Sittendelikten, vor allem bei sexuellen Vergehen an Kindern. Jeder siebte Straftäter in den Gefängnissen sitzt dort ohnehin schon wegen Sexualdelikten. Gerade im letzten Jahr ist das Ausmaß verderblicher, ja mörderischer Geschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft ansatzweise an den Tag gekommen. Der Dutroux-Skandal in Belgien; ein Knabenschänderring in Spanien; Kinderpornos im Internet - all das hat den Eindruck, Sexualität bedeute Lebensgefahr für Heranwachsende, wieder wachsen lassen. Kein gutes Jahr für die Liebe fürwahr.
Die Mahner vor sexuellem Mißbrauch jeder Art tragen dabei der Möglichkeit einer kollektiven Panik Rechnung und fordern eine einfühlsame Prüfung der Fakten. Doch am Tatbestand, daß eine große Anzahl von Kindern, vor allem Mädchen, sexuell mißbraucht wird, ist nicht zu rütteln. Die Lektüre des Sammelbandes "Skandal und Alltag", herausgegeben von Gitti Hentschel, bietet, obwohl vorwiegend analytisch verfaßt, eine Fülle von grauenvollen Fallbeispielen, wie kleine Kinder mißbraucht wurden - in der Regel von denjenigen, die sie gezeugt oder auf die Welt gebracht haben.
Das Buch läßt nichts aus: Weder das von Feministinnen tabuisierte Thema weiblicher Täterinnen noch den Mißbrauch bei Schwarzen und Türken, sexuelle Gewalt gegen Behinderte (die viermal so häufig zu Opfern werden wie der Durchschnitt) und vor allem auch nicht die gebräuchlichste Variante: das ganz alltägliche Verbrechen nebenan. Bei der Lektüre der Therapeutenberichte steigert sich das Entsetzen, weil die einzigen Hilfestellungen - mehr Rechte für Kinder und kostspielige Therapiemaßnahmen - nicht in Sicht sind. Zu helfen weiß sich der Staat nur mit Strafen, aber oft nicht einmal das. So muß man von dem Fall eines dreijährigen Mädchens lesen, das ihrem diabolischen Vater von Amts wegen wieder ausgeliefert wurde, weil juristische Verfahrensfragen der Rettung des mißbrauchten Kindes im Wege standen.
Für die Opfer, darin sind sich alle Experten einig, sind schwerste lebenslange Schäden die Folge solcher "Unterwerfungsrituale": Psychosen, Depressionen bis zum Suizid, Eßstörungen, aber auch häufige Krebsleiden im Unterleib bleiben den Opfern; sie und nicht die Täter plagen gewöhnlich obendrein Schuldgefühle. Wer sich diese Bilanz zerstörter Leben vor Augen hält, den überkommt Tristesse: Offenbar hat unsere Gattung ein zu großes Hirn, um soviel Triebkraft folgenlos zu verkraften. Der naheliegende Ruf nach Sittenstrenge ist nun aber gerade die fatalste Folgerung. "Eine rigide Sexualmoral stellt ganz offensichtlich keinen Schutz vor sexueller Gewalt dar", schreiben Corinna Ter Nedden und Silan Ucar, die es nach langer Arbeit mit mißbrauchten Türkenmädchen wissen müssen.
So fügt sich auch Jürgen Starks "No Sex" ins Bild einer öffentlichen Moral, die auf ihrem zuversichtlichen Weg zu immer mehr Lustbefreiung steckengeblieben zu sein scheint. In seinem Buch über "Die neue Prüderie in Deutschland" wettert Stark gegen alle Feinde selbstbestimmter Sexualität. Die katholische Kirche, namentlich Unterabteilungen wie die "autoritären und faschistoiden Sekten-Gruppierungen à la Opus Dei", achtet der Autor nicht ohne Grund für Feinde fleischlicher Lüste. Während hier und von fundamentalistischen Gruppen wie der Mun-Sekte und dem radikalen Islam versucht werde, psychische oder gar körperliche Gewalt über Zöglinge zu bekommen, fröne die kapitalistische Öffentlichkeit einer seelenlosen Pornographie in Fernsehen, Presse, Internet.
Wie wird's enden? "Ich stelle mir zerknitterte und faltige häßliche Wesen mit gelblicher Haut vor, tumbe Kreaturen, die ihre Nervenenden zitternd mit Sensoren verknüpfen, sich nur noch in digitalen Welten austoben und verkümmerte Formen sinnlicher Wahrnehmung vorgegaukelt bekommen." Vielleicht ist Stark da gar zu katastrophil. Doch in die falsche Richtung zielt die Warnung gewiß nicht.
Wie eine fremdartige Botschaft aus ferner Zeit wirkt da der Debattenbeitrag aus dem Pariser Dekonstruktivistenlager "Über das Weibliche", gehalten im verrätselten Ton derer, die Sexualität als Text begreifen wollten und dabei über langwierige Definitionen von Geschlechterdifferenz bis heute nicht hinauskamen. "Die Geschlechterdifferenz", so Jacques Derrida, "liest nicht minder, als sie ihrerseits gelesen wird, es gibt kein geschlechtsloses oder metageschlechtliches Lesen." Ach, wer da mitlesen könnte!
Mit höherem Ertrag hat sich Claudia Schmölders der Liebesliteratur angenommen. Ihre Blütenlese vom Hohelied Salomonis bis Julia Kristeva liest sich flüssig, wenngleich die ganze Chose vom Geist des Idealismus befeuert wird. Wozu ein recht belangloser Brief der Westernheldin Calamity Jane an ihre Tochter, wozu immer neue Definitionen von romantischer All-Liebe, wenn bei diesem Thema die handfesten Texte fehlen. Dabei würden gymnastische Handreichungen von Pietro Aretino über Josephine Mutzenbachers oder Fanny Hills Erinnerungen bis zu Henry Miller den Begriff "Liebe" vom Kopf auf die Füße stellen. Aber gut, Schmölders' kluges Nachwort verrät, daß sie sich für die philosophischen Weiterungen dieses Themas entschieden hat, und die sind eben eher blumig als glutvoll.
Doch gibt es überhaupt noch einen moralischen Gehalt von Liebe, wenn wir wissen, daß sowieso nur die Hormone herrschen? Höchst unromantisch summieren Gaby Miketta und Claudia Tebel-Nagy unser Wissen um die evolutionshistorisch und damit biochemisch gesteuerten Gefühle. Sicher, Zuneigung bis zum Grad der Ekstase entsteht durch Ausschüttung des Hormons Oxytocin, Liebe wächst in den Neuronen des Hirns - doch sind wir damit wieder beim Maschinenmenschen der Aufklärung angekommen, bei der unreligiösen Schicksalspuppe von Holbach oder La Mettrie, nur daß statt der Mechanik jetzt die Biochemie herrscht. Dabei setzt schon ein Argument den reinen Biologismus außer Kraft: Wenn einzig die Fortpflanzung der Gene zählt, warum entscheiden sich dann so viele Leute gegen Kinder und für ausgiebigen Hedonismus, warum tun die Gene nichts dagegen? Der naturwissenschaftliche Ansatz vermag gewiß, zahlreiche falsche Verklärungen des Gefühlslebens zu beheben, doch ob er auch gegen Scheidungen, Beziehungsstreß und Impotenz hilft?
"Wie Männer heute Liebe machen" interessiert gewiß vor allem die Frauen. Leider bietet Frank Früchtels und Christian Stahls Kompendium zu diesem Thema wenig Neues. Außer Fallgeschichten, auf welch narzistische, gewaltverliebte oder sanfte Weise gewisse Stefans oder Torstens mit ihren Tinas und Stefanies umzugehen pflegen, erfahren wir wenig. Am wenigsten von der Meinung der Damen zum vermeintlich neuen Stil männlicher Liebe. Fazit dieses Titels: Wir leben in der Zeit der "Erlebnissexualität", der Typus des "sensiblen Machos" ist deshalb allerorten gern gesehen. Die Autoren, offensichtlich erzogen im Geist der männlichen Zurückhaltung, irritiert dies sehr: "Postmoderne männliche Sexualität ist ein höchst widersprüchliches Phänomen."
Um das Ausmerzen dieser Widersprüche ist es Jennifer Louden zu tun. Ihr "Wohlfühlbuch für Paare" preist wacker die Entspannung zu zweit, ohne Kinderstreß und Ehealltag, unter freiem Himmel und nach ausgiebiger Nackenmassage. Dagegen ist wenig zu sagen, damit verkörpert sie die neue Welle forscher Liebesratgeber, die sich nicht mehr lange mit psychologischer Larmoyanz und Ursachenforschung aufhält, sondern direkt zum kalorienreichen Utilitarismus übergeht: "Wälzt euch in warmer Schokosauce und schleckt euch dann gegenseitig ab. Ihr könnt so viele schöne Dinge tun." Wie wahr.
Wenn es für dergleichen Liebes-Reparaturen schon wieder zu spät ist, greifen Janis Abrahms und Michael Spring ein: Ihr Werk über "Treuebrüche" ist die Frucht einer Unzahl von Geständnissen, selten ist soviel Lug und Trug in ein Buch eingeflossen, was die Lektüre, so aufbauend sie gemeint ist, auch ein wenig traurig macht: "Henry, ein fünfzigjähriger Aufsichtsratsvorsitzender, geriet in eine emotionale Mangel. Er hatte sich bereit erklärt, mit seiner Frau zusammenzubleiben und sich auf ihre gemeinsamen Probleme zu konzentrieren, doch er konnte die Hände nicht von seiner Geliebten Edie lassen." Wie furchtbar, wenn selbst Aufsichtsratsvorsitzende ihre Hände nicht unter Kontrolle haben, wenn selbst glückliche Eheleute fremdgehen. Männer, so lehrt das Werk, vergessen sich am ehesten, wenn sie in ihrer Ehe glücklich und weil sie nicht verliebt sind, Frauen, gerade weil sie in der Ehe unglücklich und in jemand anderes verliebt sind. Fast nie geht es um sexuelle Befriedigung, fast immer um soziale Wirrnis. Nur der zerstörerische Effekt ist beinahe stets derselbe.
Die Autoren raten gegen den Wiederholungsfall: Paartherapie beginnen und sich das Vermögen des untreuen Partners überschreiben lassen. Danach aber beginnt erst der Alltag der Aufarbeitung, im Zuge dessen alle Partner mit dem "Flip-Flop-Faktor" Bekanntschaft machen müssen - das ist die gnadenlose Liste der Vorzüge und Nachteile des Partners - eine Praktik, die stark an eine Einkommensteuerabrechnung erinnert. Ob dadurch der Seitensprung an Attraktivität verliert?
Am souveränsten gehen wie immer die Klassiker mit den heiklen Themen um, in diesem Fall Masters und Johnson mit ihrem Kompendium zur "Heterosexualität". Bei ihnen paßt tatsächlich alles in ein Buch, von der biologischen Schautafel der Genitalien über Potenzstörungen und Verhütungsmethoden bis zum komplexen Fallbericht. Wir hören von der vierunddreißigjährigen, namenlosen Künstlerin, welche es satt hatte, ihrem fitneßgeilen Gatten Vitamingetränke und Sportlerkost zuzubereiten, und sich lieber mit dessen behäbigem Freund am Kamin vergnügte. Oder von der patenten Samantha G., die ihrem Gemahl den Seitensprung heimzahlte, indem sie in rascher Folge dessen Chef, Anwalt und Steuerberater beglückte. Eine moralische Wertung sucht man hier vergebens.
Doch die Autoren lassen uns im Staunen über diese Schicksale nicht allein. Sie sortieren alle Arten des Seitensprungs mit scholastischer Systematik: Es gibt demnach kathartische, hedonistische, reaktive, langfristige, erobernde, bisexuelle und situationsspezifische Affären, letztere vor allem unter Einfluß von Alkohol. Für jeden ist etwas dabei. Meist, folgern die Autoren trocken, lohnt sich all die Liebesmühe nicht, die sexuellen Reize lassen schnell nach, und alles beginnt von vorn. Woher mögen Masters/Johnson nach vierzigjähriger Praxis all die intimen Fälle kennen? Sind sie beiläufig gesammelt, bestellt oder bei Bedarf erfunden? Egal - die Autoren sortieren mit entomologischem Elan erotische Träume und Geschlechtskrankheiten, Aberrationen und Scheidungsgründe. Ihr enzyklopädisches Werk bietet eine Fülle von dramatischen Lebensläufen wie kein Roman von Tolstoi, wie keine Vorabendserie. Hier gelingt Sexualkunde die Symbiose von Sozialwissenschaft und großer Literatur. Diese Sittenlehre läßt hoffen, daß die Liebe unabhängig von Konjunkturen und schlechten Jahrgängen auch weiterhin ihre unerforschlichen Wege zwischen Flip und Flop geht.
Gitti Hentschel (Hrsg.): "Skandal und Alltag". Sexueller Mißbrauch und Gegenstrategien. Orlanda Frauenverlag, Berlin 1996. 335 S., br., 39,80 DM.
Jürgen Stark: "No Sex". Die neue Prüderie in Deutschland. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1996. 238 S., br., 14,90 DM.
Mireille Colle (Hrsg.): "Über das Weibliche". Aus dem Französischen von Eberhard Gruber. Parerga Verlag, Düsseldorf, Bonn 1996. 181 S., br., 29,80 DM.
Claudia Schmölders (Hrsg.):"Die Erfindung der Liebe".Berühmte Zeugnisse aus drei Jahrtausenden. Verlag C. H. Beck, München 1996. 316 S., geb., 38,- DM.
Gaby Miketta / Claudia Tebel-Nagy: "Liebe & Sex". Über die Biochemie leidenschaftlicher Gefühle. Thieme Verlag, Stuttgart 1996. 272 S., Abb., geb., 39,80 DM.
Frank Früchtel / Christian Stahl: "Das starke Geschlecht". Wie Männer heute Liebe machen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996. 223 S., br., 18,90 DM.
Jennifer Louden: "Tut euch gut". Das Wohlfühlbuch für Paare. Aus dem Amerikanischen von Martina Penz-Koch. Hermann Bauer Verlag, Freiburg 1996. 339 S., br., 44,- DM.
Janis Abrahms / Michael Spring: "Treuebrüche". Die kreative Aufarbeitung des Seitensprungs. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Herbst. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main 1996. 343 S., br., 32,- DM.
William H. Masters / Virginia E. Johnson / Robert C. Kolodny: "Heterosexualität". Die Liebe zwischen Mann und Frau. Aus dem Amerikanischen von Jacqueline Csuss und Karin Haag. Ueberreuter Verlag, Wien 1996. 551 S., Abb., geb., 56,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn Stefanie sich in Schokosauce wälzt: Kommt jetzt endlich eine neue Prüderie auf die Deutschen zu? / Von Dirk Schümer
Rund neunzig Prozent der Deutschen, so eine aktuelle Umfrage, fordern höhere Strafen bei Sittendelikten, vor allem bei sexuellen Vergehen an Kindern. Jeder siebte Straftäter in den Gefängnissen sitzt dort ohnehin schon wegen Sexualdelikten. Gerade im letzten Jahr ist das Ausmaß verderblicher, ja mörderischer Geschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft ansatzweise an den Tag gekommen. Der Dutroux-Skandal in Belgien; ein Knabenschänderring in Spanien; Kinderpornos im Internet - all das hat den Eindruck, Sexualität bedeute Lebensgefahr für Heranwachsende, wieder wachsen lassen. Kein gutes Jahr für die Liebe fürwahr.
Die Mahner vor sexuellem Mißbrauch jeder Art tragen dabei der Möglichkeit einer kollektiven Panik Rechnung und fordern eine einfühlsame Prüfung der Fakten. Doch am Tatbestand, daß eine große Anzahl von Kindern, vor allem Mädchen, sexuell mißbraucht wird, ist nicht zu rütteln. Die Lektüre des Sammelbandes "Skandal und Alltag", herausgegeben von Gitti Hentschel, bietet, obwohl vorwiegend analytisch verfaßt, eine Fülle von grauenvollen Fallbeispielen, wie kleine Kinder mißbraucht wurden - in der Regel von denjenigen, die sie gezeugt oder auf die Welt gebracht haben.
Das Buch läßt nichts aus: Weder das von Feministinnen tabuisierte Thema weiblicher Täterinnen noch den Mißbrauch bei Schwarzen und Türken, sexuelle Gewalt gegen Behinderte (die viermal so häufig zu Opfern werden wie der Durchschnitt) und vor allem auch nicht die gebräuchlichste Variante: das ganz alltägliche Verbrechen nebenan. Bei der Lektüre der Therapeutenberichte steigert sich das Entsetzen, weil die einzigen Hilfestellungen - mehr Rechte für Kinder und kostspielige Therapiemaßnahmen - nicht in Sicht sind. Zu helfen weiß sich der Staat nur mit Strafen, aber oft nicht einmal das. So muß man von dem Fall eines dreijährigen Mädchens lesen, das ihrem diabolischen Vater von Amts wegen wieder ausgeliefert wurde, weil juristische Verfahrensfragen der Rettung des mißbrauchten Kindes im Wege standen.
Für die Opfer, darin sind sich alle Experten einig, sind schwerste lebenslange Schäden die Folge solcher "Unterwerfungsrituale": Psychosen, Depressionen bis zum Suizid, Eßstörungen, aber auch häufige Krebsleiden im Unterleib bleiben den Opfern; sie und nicht die Täter plagen gewöhnlich obendrein Schuldgefühle. Wer sich diese Bilanz zerstörter Leben vor Augen hält, den überkommt Tristesse: Offenbar hat unsere Gattung ein zu großes Hirn, um soviel Triebkraft folgenlos zu verkraften. Der naheliegende Ruf nach Sittenstrenge ist nun aber gerade die fatalste Folgerung. "Eine rigide Sexualmoral stellt ganz offensichtlich keinen Schutz vor sexueller Gewalt dar", schreiben Corinna Ter Nedden und Silan Ucar, die es nach langer Arbeit mit mißbrauchten Türkenmädchen wissen müssen.
So fügt sich auch Jürgen Starks "No Sex" ins Bild einer öffentlichen Moral, die auf ihrem zuversichtlichen Weg zu immer mehr Lustbefreiung steckengeblieben zu sein scheint. In seinem Buch über "Die neue Prüderie in Deutschland" wettert Stark gegen alle Feinde selbstbestimmter Sexualität. Die katholische Kirche, namentlich Unterabteilungen wie die "autoritären und faschistoiden Sekten-Gruppierungen à la Opus Dei", achtet der Autor nicht ohne Grund für Feinde fleischlicher Lüste. Während hier und von fundamentalistischen Gruppen wie der Mun-Sekte und dem radikalen Islam versucht werde, psychische oder gar körperliche Gewalt über Zöglinge zu bekommen, fröne die kapitalistische Öffentlichkeit einer seelenlosen Pornographie in Fernsehen, Presse, Internet.
Wie wird's enden? "Ich stelle mir zerknitterte und faltige häßliche Wesen mit gelblicher Haut vor, tumbe Kreaturen, die ihre Nervenenden zitternd mit Sensoren verknüpfen, sich nur noch in digitalen Welten austoben und verkümmerte Formen sinnlicher Wahrnehmung vorgegaukelt bekommen." Vielleicht ist Stark da gar zu katastrophil. Doch in die falsche Richtung zielt die Warnung gewiß nicht.
Wie eine fremdartige Botschaft aus ferner Zeit wirkt da der Debattenbeitrag aus dem Pariser Dekonstruktivistenlager "Über das Weibliche", gehalten im verrätselten Ton derer, die Sexualität als Text begreifen wollten und dabei über langwierige Definitionen von Geschlechterdifferenz bis heute nicht hinauskamen. "Die Geschlechterdifferenz", so Jacques Derrida, "liest nicht minder, als sie ihrerseits gelesen wird, es gibt kein geschlechtsloses oder metageschlechtliches Lesen." Ach, wer da mitlesen könnte!
Mit höherem Ertrag hat sich Claudia Schmölders der Liebesliteratur angenommen. Ihre Blütenlese vom Hohelied Salomonis bis Julia Kristeva liest sich flüssig, wenngleich die ganze Chose vom Geist des Idealismus befeuert wird. Wozu ein recht belangloser Brief der Westernheldin Calamity Jane an ihre Tochter, wozu immer neue Definitionen von romantischer All-Liebe, wenn bei diesem Thema die handfesten Texte fehlen. Dabei würden gymnastische Handreichungen von Pietro Aretino über Josephine Mutzenbachers oder Fanny Hills Erinnerungen bis zu Henry Miller den Begriff "Liebe" vom Kopf auf die Füße stellen. Aber gut, Schmölders' kluges Nachwort verrät, daß sie sich für die philosophischen Weiterungen dieses Themas entschieden hat, und die sind eben eher blumig als glutvoll.
Doch gibt es überhaupt noch einen moralischen Gehalt von Liebe, wenn wir wissen, daß sowieso nur die Hormone herrschen? Höchst unromantisch summieren Gaby Miketta und Claudia Tebel-Nagy unser Wissen um die evolutionshistorisch und damit biochemisch gesteuerten Gefühle. Sicher, Zuneigung bis zum Grad der Ekstase entsteht durch Ausschüttung des Hormons Oxytocin, Liebe wächst in den Neuronen des Hirns - doch sind wir damit wieder beim Maschinenmenschen der Aufklärung angekommen, bei der unreligiösen Schicksalspuppe von Holbach oder La Mettrie, nur daß statt der Mechanik jetzt die Biochemie herrscht. Dabei setzt schon ein Argument den reinen Biologismus außer Kraft: Wenn einzig die Fortpflanzung der Gene zählt, warum entscheiden sich dann so viele Leute gegen Kinder und für ausgiebigen Hedonismus, warum tun die Gene nichts dagegen? Der naturwissenschaftliche Ansatz vermag gewiß, zahlreiche falsche Verklärungen des Gefühlslebens zu beheben, doch ob er auch gegen Scheidungen, Beziehungsstreß und Impotenz hilft?
"Wie Männer heute Liebe machen" interessiert gewiß vor allem die Frauen. Leider bietet Frank Früchtels und Christian Stahls Kompendium zu diesem Thema wenig Neues. Außer Fallgeschichten, auf welch narzistische, gewaltverliebte oder sanfte Weise gewisse Stefans oder Torstens mit ihren Tinas und Stefanies umzugehen pflegen, erfahren wir wenig. Am wenigsten von der Meinung der Damen zum vermeintlich neuen Stil männlicher Liebe. Fazit dieses Titels: Wir leben in der Zeit der "Erlebnissexualität", der Typus des "sensiblen Machos" ist deshalb allerorten gern gesehen. Die Autoren, offensichtlich erzogen im Geist der männlichen Zurückhaltung, irritiert dies sehr: "Postmoderne männliche Sexualität ist ein höchst widersprüchliches Phänomen."
Um das Ausmerzen dieser Widersprüche ist es Jennifer Louden zu tun. Ihr "Wohlfühlbuch für Paare" preist wacker die Entspannung zu zweit, ohne Kinderstreß und Ehealltag, unter freiem Himmel und nach ausgiebiger Nackenmassage. Dagegen ist wenig zu sagen, damit verkörpert sie die neue Welle forscher Liebesratgeber, die sich nicht mehr lange mit psychologischer Larmoyanz und Ursachenforschung aufhält, sondern direkt zum kalorienreichen Utilitarismus übergeht: "Wälzt euch in warmer Schokosauce und schleckt euch dann gegenseitig ab. Ihr könnt so viele schöne Dinge tun." Wie wahr.
Wenn es für dergleichen Liebes-Reparaturen schon wieder zu spät ist, greifen Janis Abrahms und Michael Spring ein: Ihr Werk über "Treuebrüche" ist die Frucht einer Unzahl von Geständnissen, selten ist soviel Lug und Trug in ein Buch eingeflossen, was die Lektüre, so aufbauend sie gemeint ist, auch ein wenig traurig macht: "Henry, ein fünfzigjähriger Aufsichtsratsvorsitzender, geriet in eine emotionale Mangel. Er hatte sich bereit erklärt, mit seiner Frau zusammenzubleiben und sich auf ihre gemeinsamen Probleme zu konzentrieren, doch er konnte die Hände nicht von seiner Geliebten Edie lassen." Wie furchtbar, wenn selbst Aufsichtsratsvorsitzende ihre Hände nicht unter Kontrolle haben, wenn selbst glückliche Eheleute fremdgehen. Männer, so lehrt das Werk, vergessen sich am ehesten, wenn sie in ihrer Ehe glücklich und weil sie nicht verliebt sind, Frauen, gerade weil sie in der Ehe unglücklich und in jemand anderes verliebt sind. Fast nie geht es um sexuelle Befriedigung, fast immer um soziale Wirrnis. Nur der zerstörerische Effekt ist beinahe stets derselbe.
Die Autoren raten gegen den Wiederholungsfall: Paartherapie beginnen und sich das Vermögen des untreuen Partners überschreiben lassen. Danach aber beginnt erst der Alltag der Aufarbeitung, im Zuge dessen alle Partner mit dem "Flip-Flop-Faktor" Bekanntschaft machen müssen - das ist die gnadenlose Liste der Vorzüge und Nachteile des Partners - eine Praktik, die stark an eine Einkommensteuerabrechnung erinnert. Ob dadurch der Seitensprung an Attraktivität verliert?
Am souveränsten gehen wie immer die Klassiker mit den heiklen Themen um, in diesem Fall Masters und Johnson mit ihrem Kompendium zur "Heterosexualität". Bei ihnen paßt tatsächlich alles in ein Buch, von der biologischen Schautafel der Genitalien über Potenzstörungen und Verhütungsmethoden bis zum komplexen Fallbericht. Wir hören von der vierunddreißigjährigen, namenlosen Künstlerin, welche es satt hatte, ihrem fitneßgeilen Gatten Vitamingetränke und Sportlerkost zuzubereiten, und sich lieber mit dessen behäbigem Freund am Kamin vergnügte. Oder von der patenten Samantha G., die ihrem Gemahl den Seitensprung heimzahlte, indem sie in rascher Folge dessen Chef, Anwalt und Steuerberater beglückte. Eine moralische Wertung sucht man hier vergebens.
Doch die Autoren lassen uns im Staunen über diese Schicksale nicht allein. Sie sortieren alle Arten des Seitensprungs mit scholastischer Systematik: Es gibt demnach kathartische, hedonistische, reaktive, langfristige, erobernde, bisexuelle und situationsspezifische Affären, letztere vor allem unter Einfluß von Alkohol. Für jeden ist etwas dabei. Meist, folgern die Autoren trocken, lohnt sich all die Liebesmühe nicht, die sexuellen Reize lassen schnell nach, und alles beginnt von vorn. Woher mögen Masters/Johnson nach vierzigjähriger Praxis all die intimen Fälle kennen? Sind sie beiläufig gesammelt, bestellt oder bei Bedarf erfunden? Egal - die Autoren sortieren mit entomologischem Elan erotische Träume und Geschlechtskrankheiten, Aberrationen und Scheidungsgründe. Ihr enzyklopädisches Werk bietet eine Fülle von dramatischen Lebensläufen wie kein Roman von Tolstoi, wie keine Vorabendserie. Hier gelingt Sexualkunde die Symbiose von Sozialwissenschaft und großer Literatur. Diese Sittenlehre läßt hoffen, daß die Liebe unabhängig von Konjunkturen und schlechten Jahrgängen auch weiterhin ihre unerforschlichen Wege zwischen Flip und Flop geht.
Gitti Hentschel (Hrsg.): "Skandal und Alltag". Sexueller Mißbrauch und Gegenstrategien. Orlanda Frauenverlag, Berlin 1996. 335 S., br., 39,80 DM.
Jürgen Stark: "No Sex". Die neue Prüderie in Deutschland. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1996. 238 S., br., 14,90 DM.
Mireille Colle (Hrsg.): "Über das Weibliche". Aus dem Französischen von Eberhard Gruber. Parerga Verlag, Düsseldorf, Bonn 1996. 181 S., br., 29,80 DM.
Claudia Schmölders (Hrsg.):"Die Erfindung der Liebe".Berühmte Zeugnisse aus drei Jahrtausenden. Verlag C. H. Beck, München 1996. 316 S., geb., 38,- DM.
Gaby Miketta / Claudia Tebel-Nagy: "Liebe & Sex". Über die Biochemie leidenschaftlicher Gefühle. Thieme Verlag, Stuttgart 1996. 272 S., Abb., geb., 39,80 DM.
Frank Früchtel / Christian Stahl: "Das starke Geschlecht". Wie Männer heute Liebe machen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996. 223 S., br., 18,90 DM.
Jennifer Louden: "Tut euch gut". Das Wohlfühlbuch für Paare. Aus dem Amerikanischen von Martina Penz-Koch. Hermann Bauer Verlag, Freiburg 1996. 339 S., br., 44,- DM.
Janis Abrahms / Michael Spring: "Treuebrüche". Die kreative Aufarbeitung des Seitensprungs. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Herbst. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main 1996. 343 S., br., 32,- DM.
William H. Masters / Virginia E. Johnson / Robert C. Kolodny: "Heterosexualität". Die Liebe zwischen Mann und Frau. Aus dem Amerikanischen von Jacqueline Csuss und Karin Haag. Ueberreuter Verlag, Wien 1996. 551 S., Abb., geb., 56,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main