"Liebe als Roman" untersucht die Evolutionsgeschichte des modernen Romans. Vor allem die frühe Sensationspresse der 'Newen Zeytungen' erweist sich als Selektionsvorteil: ihre müßigen Leser haben auf Texte, die auf Neugier, Unterhaltung, Spannung, Überraschung und Abwechslung setzen, geradezu gewartet.
Die Lektüren der Studie verfolgen die Koevolution der Gattung (von Schnabel bis Schlegel), ihrer Poetologie (von Huet bis Hegel), ihres Motivs (von der galanten zur romantischen Liebe) und seiner Medien (von der Newen Zeytung zum Journal) im europäischen Kontext.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die Lektüren der Studie verfolgen die Koevolution der Gattung (von Schnabel bis Schlegel), ihrer Poetologie (von Huet bis Hegel), ihres Motivs (von der galanten zur romantischen Liebe) und seiner Medien (von der Newen Zeytung zum Journal) im europäischen Kontext.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2003Codewort Liebe
Niels Werbers systemtheoretische Romangeschichte
Wenn laut Systemtheorie die Liebe kein Gefühl ist, sondern ein Kommunikationscode, dann gilt wohl auch für die Wissenschaft, daß sie nichts mit Wissen zu tun hat, sondern nur mit der Performanz von Begriffen. Niklas Luhmann hat dies eindrucksvoll bestätigt, wenigstens soweit nicht die Soziologie, sondern die Literaturgeschichte in den Blick gerät: kein Ergebnis der Systemtheorie, das hier nicht schon längst hermeneutisch oder diskurstheoretisch gewonnen worden wäre. Dies ist ein Einwand aus der Außensicht auf den Kultur- und Kunstbegriff der Systemtheorie. Doch auch deren innere Widersprüche sind mittlerweile vielfältig herausgearbeitet worden.
Solche Einwände hätten gerade in einer Arbeit wie der vorliegenden Habilitationsschrift des Bochumer Germanisten und Medienwissenschaftlers Niels Werber weiterentwickelt und produktiv gemacht werden können. Denn die Entstehung der systemisch differenzierten Gesellschaft aus der stratifikatorischen Ordnung "Alteuropas" vollzieht sich im 18. Jahrhundert: im historischen Kernbereich von Werbers Studie und zugleich jenem prekären Gebiet, das den Geltungsansprüchen der Systemtheorie einen als "alteuropäisch" etikettierten und systemtheoretisch nicht faßbaren geschichtlichen Vorlauf zugestehen muß.
Doch auf die zahlreichen Einwände gegen die Systemtheorie hat sich Werber nicht eingelassen. Statt dessen betreibt er eine innere Dissoziation seines Gegenstandes, des (deutschen und europäischen) Romans der Zeit von 1650 bis 1800. Er spaltet die Geschichte der Gattung in einen "vorläufigen" Teil einerseits und einen "modernen" Teil andererseits auf. Als "moderner" Roman gilt Werber die Texttradition seit etwa 1750, was zwar den Vorgaben der Systemtheorie entspricht, doch zugleich einen literaturgeschichtlichen Bruch konstruiert. Eine solche Zäsur wäre aber gerade am Thema der Liebe, das bereits den mittelalterlichen höfischen Roman strukturiert und in ähnlicher Weise auch die Gattung während der Frühen Neuzeit durchzieht, nicht vorauszusetzen, sondern zu beweisen gewesen.
Der systemtheoretisch geforderte Bruch nötigt Werber, den Roman im siebzehnten Jahrhundert als neue Gattung zu beschreiben. Seine leitende These ist die, "daß der moderne Roman in besonderer Weise auf Rezeptionsbedingungen des Publikums antwortet, die schon vor seiner Entstehung in einer Weise vorhanden sind, als seien sie eigens für die Romanrezeption geschaffen worden. Die alteuropäische Poetik reagierte auf die provozierende neue Gattung des Romans so lange mit Umdefinitionen, bis das Neue am Roman als vertraut galt und die Gattung mit der gewohnten Dogmatik taxiert und beschrieben werden konnte."
Man kann an dieser Stelle mit einiger Berechtigung einwenden, der Roman sei bereits seit dem Mittelalter fester Bestandteil der europäischen Literaturtradition, und das Kriterium der Modernität, das eine Zäsur der Gattungsgeschichte begründen soll, müßte aus ebendieser Gattungsgeschichte entwickelt, nicht aber aus der Systemtheorie heraus postuliert werden. Es läßt sich kaum behaupten und noch weniger beweisen, daß die Gattung des Romans um 1650 "provozierend neu" gewesen sei; es hätte sich indessen die kommunikationstheoretisch gewendete Frage diskutieren lassen, warum die Poetik erst im siebzehnten Jahrhundert den Roman zu reflektieren beginnt.
Doch neu bleibt neu, und modern bleibt modern - und so verfolgt Werber das Thema Liebe als Strukturprinzip des Romans erst ab dem achtzehnten Jahrhundert. Ein großer Teil seiner Untersuchung, der sich dem widmet, was als "Vorlauf" aufgefaßt wird, untersucht vielmehr die Kommunikationsformen der Gattung. Werber stößt dabei auf die "Newe Zeytung", das frühneuzeitliche Nachrichtenwesen, das er zu Recht als produktiven Bestandteil der Gattungsgeschichte versteht.
Die ursprüngliche Hauptfunktion der "Newen Zeytung", die es bereits vor dem Buchdruck als Beilage zu Briefen gibt, ist zwar die faktische Information. Es läßt sich indessen nachweisen, daß seit dem siebzehnten Jahrhundert nicht mehr die Information, sondern die Unterhaltung der freien Zeit das Interesse an den "Newen Zeytungen" dominiert. Belege dafür finden sich in den in deutscher Sprache abgefaßten Briefstellern wie auch in einer neuen Disziplin, der Zeitungswissenschaft, die Werber am Beispiel von Kaspar Stieler beleuchtet. In kommunikationstheoretischer Hinsicht ist damit festgestellt, daß es eine strukturelle Übereinstimmung von Roman und "Newer Zeytung" gibt: Sie werden zum unterhaltenden Zeitvertreib rezipiert.
Eine weitere, gattungsgeschichtlich wichtige Bemerkung, die der germanistischen Frühneuzeitforschung allerdings geläufig ist, kann Werber hier anschließen. In ihrer Erzähldramaturgie entspricht die "Newe Zeytung" jenem Postulat, das Goethe für die Novelle erhoben hatte, nämlich eine "unerhörte, sich ereignete Begebenheit" zu sein. Das macht die Novelle, wie Werber konstatiert, zu einer Erzählform, die nicht erst bei Goethe beginnt. Werbers erhellende Relektüre der "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" mit Kaspar Stielers barocker Zeitungswissenschaft als Folie sei der Goetheforschung ins Stammbuch geschrieben.
Kommt das Wort "Novelle" ins Spiel, dann ist allerdings für eine Wissenschaft als Performanz der Begriffe die nächste Fallgrube eröffnet. Novelle klingt so verführerisch wie das englische Wort für Roman, "novel", daß Werber die "novel" als Erben der "Newen Zeytung" betrachtet, in Opposition zum älteren Begriff der "romance" setzt und in Daniel Defoe den ersten "Autor eines modernen Romans" erblickt. Nun ist "Robinson Crusoe" zwar kaum als ein Liebesroman zu bezeichnen, und als Gattungsbezeichnung hat sich im Deutschen eben doch "romance" durchgesetzt - aber kommunikationstheoretisch tut das nichts zur Sache.
Der anglistische Umweg ist indessen hinfällig, wenn man den Blick auf die deutsche Geschichte der Gattung lenkt. In der Frühen Neuzeit ist es nämlich die "historia", die den Roman, auch als Liebesroman, auf den Begriff bringt. "Historia" meint zunächst Geschichtsschreibung, und diese wiederum soll den theoretischen Forderungen der Zeit entsprechend von Augenzeugen des Vorgefallenen ausgehen. Ein Ereignis, ein Augenzeuge, ein Bericht davon: Man befindet sich erneut im poetologischen - und auch kommunikativen - Horizont der "Newen Zeytung".
Werbers Leitfrage ist die Koevolution der Gattungsgeschichte des Romans und der intimen Kommunikation. Folgt man ihr in etwas weiter zurückliegende Zeiten, dann kann man feststellen, daß die Liebesthematik nicht erst seit dem achtzehnten Jahrhundert ein wesentliches Strukturelement des Romans darstellt, auch und nicht zuletzt, was die Codierung der Kommunikation betrifft. Die immer noch verkannte Tradition der europäischen Schäferdichtung wäre hier ins Feld zu führen. Ob Sannazaro oder Lope de Vega, ob Sidney oder d'Urfé, ob Cervantes oder Opitz - ihre Romane sind die Experimentierfelder des Intimen. Jorge de Montemayors "Diana" von 1559 beispielsweise wurde im siebzehnten Jahrhundert gleich zweimal ins Deutsche übertragen. Der Text besteht aus einer Serie von Affektbiographien, die die Liebe nicht als Vollzug oder Erlebnis zwischen zwei Personen, sondern als kommunikativen Akt Dritten gegenüber inszenieren. Die Liebe findet im Erzählen statt, was deutlich macht, daß sie bereits im sechzehnten Jahrhundert im modernen Sinn als Code zu verstehen ist, der sowohl den Roman als auch die intime Kommunikation reguliert.
Werbers Untersuchung ist gerade dort am stärksten und überzeugendsten, wo er innerhalb des Sinnhorizonts der Systemtheorie argumentieren kann. Seine Relektüren von Gellerts "Schwedischer Gräfin von G***", von Goethes "Werther", von La Roches "Geschichte des Fräuleins von Sternheim", von Lenz' "Zerbin" oder von Schlegels "Lucinde" sind fulminant und eindrucksvoll. Sie belegen, wie die intime Paarbeziehung immer stärker zum Residualbereich des Individuums hochgeschrieben wird, während der Mensch sich ansonsten von seinem gesellschaftlichen Umfeld zunehmend in divergierenden Funktionsansprüchen zerstückt findet: "Die Forderung, Erscheinung und Wesen zur Deckung zu bringen, läßt sich an den Menschen in der funktionsdifferenzierten Gesellschaft nicht stellen ... Aufrichtig zu sein würde die Folgeprobleme der Ausdifferenzierung nicht überwinden."
Und Werber folgert: "Die Liebe bildet das Muster sozialer Entdifferenzierung, und im Roman der Romantik wird diese sozialphilosophische Erwartung zu einer Geschichte verzeitlicht. Liebe und Roman werden von der Romantik noch einmal in einen zweifachen, sehr engen Zusammenhang gebracht: Beide Formen der Kommunikation nutzen einander als Medium, und beide dienen einem großangelegten semantischen Projekt sozialer Entdifferenzierung und persönlicher Retotalisierung."
Das Potential, diesen Sachverhalt zu erklären, besitzt indessen nicht allein die Systemtheorie, sondern auch die zeitgenössische Philosophie und Ästhetik. So zitiert Werber Schillers "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" (1795) und dessen "geniales Wort", daß der moderne Mensch nur noch ein "Formular" sei, das je nach "Geschäft" ausgefüllt wird. "Gleichgültig gegen den Charakter" (Schiller) interessieren sich Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und Religion allein für einen "fragmentarischen Anteil" des Menschen, für das, was, so Werber, "für seine Rolle als Wähler, Käufer, Anwalt, Untertan, Täter, Patient, Steuerzahler oder Kirchgänger wissenswert ist". Die dazu nötigen "einzelnen Fertigkeiten" werden von den Systemen gepflegt und entwickelt, alle übrigen Anlagen dagegen werden "vernachlässigt .. ., um der einzigen, welche ehrt und lohnt, alle Pflege zuzuwenden" (Schiller).
Angesichts solcher bereits historischer Einsichten in die eigene Verfaßtheit macht Werbers Studie auch das Verhältnis von Systemtheorie und Literaturgeschichte zum Thema. Es wäre an der Zeit, die unter Rückgriff auf Luhmann betriebene Soziologisierung der Literaturwissenschaft umzukehren und die Disziplin zu einer historischen Textwissenschaft zu machen. Daß dies ohne Erklärungsverluste im Bereich der Kulturtheorie geschehen kann, hat Werber in den stärksten Passagen seiner wichtigen Arbeit selbst vorgeführt.
WOLFGANG NEUBER.
Niels Werber: "Liebe als Roman". Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. Wilhelm Fink Verlag, München 2003. 493 S., geb., 60,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Niels Werbers systemtheoretische Romangeschichte
Wenn laut Systemtheorie die Liebe kein Gefühl ist, sondern ein Kommunikationscode, dann gilt wohl auch für die Wissenschaft, daß sie nichts mit Wissen zu tun hat, sondern nur mit der Performanz von Begriffen. Niklas Luhmann hat dies eindrucksvoll bestätigt, wenigstens soweit nicht die Soziologie, sondern die Literaturgeschichte in den Blick gerät: kein Ergebnis der Systemtheorie, das hier nicht schon längst hermeneutisch oder diskurstheoretisch gewonnen worden wäre. Dies ist ein Einwand aus der Außensicht auf den Kultur- und Kunstbegriff der Systemtheorie. Doch auch deren innere Widersprüche sind mittlerweile vielfältig herausgearbeitet worden.
Solche Einwände hätten gerade in einer Arbeit wie der vorliegenden Habilitationsschrift des Bochumer Germanisten und Medienwissenschaftlers Niels Werber weiterentwickelt und produktiv gemacht werden können. Denn die Entstehung der systemisch differenzierten Gesellschaft aus der stratifikatorischen Ordnung "Alteuropas" vollzieht sich im 18. Jahrhundert: im historischen Kernbereich von Werbers Studie und zugleich jenem prekären Gebiet, das den Geltungsansprüchen der Systemtheorie einen als "alteuropäisch" etikettierten und systemtheoretisch nicht faßbaren geschichtlichen Vorlauf zugestehen muß.
Doch auf die zahlreichen Einwände gegen die Systemtheorie hat sich Werber nicht eingelassen. Statt dessen betreibt er eine innere Dissoziation seines Gegenstandes, des (deutschen und europäischen) Romans der Zeit von 1650 bis 1800. Er spaltet die Geschichte der Gattung in einen "vorläufigen" Teil einerseits und einen "modernen" Teil andererseits auf. Als "moderner" Roman gilt Werber die Texttradition seit etwa 1750, was zwar den Vorgaben der Systemtheorie entspricht, doch zugleich einen literaturgeschichtlichen Bruch konstruiert. Eine solche Zäsur wäre aber gerade am Thema der Liebe, das bereits den mittelalterlichen höfischen Roman strukturiert und in ähnlicher Weise auch die Gattung während der Frühen Neuzeit durchzieht, nicht vorauszusetzen, sondern zu beweisen gewesen.
Der systemtheoretisch geforderte Bruch nötigt Werber, den Roman im siebzehnten Jahrhundert als neue Gattung zu beschreiben. Seine leitende These ist die, "daß der moderne Roman in besonderer Weise auf Rezeptionsbedingungen des Publikums antwortet, die schon vor seiner Entstehung in einer Weise vorhanden sind, als seien sie eigens für die Romanrezeption geschaffen worden. Die alteuropäische Poetik reagierte auf die provozierende neue Gattung des Romans so lange mit Umdefinitionen, bis das Neue am Roman als vertraut galt und die Gattung mit der gewohnten Dogmatik taxiert und beschrieben werden konnte."
Man kann an dieser Stelle mit einiger Berechtigung einwenden, der Roman sei bereits seit dem Mittelalter fester Bestandteil der europäischen Literaturtradition, und das Kriterium der Modernität, das eine Zäsur der Gattungsgeschichte begründen soll, müßte aus ebendieser Gattungsgeschichte entwickelt, nicht aber aus der Systemtheorie heraus postuliert werden. Es läßt sich kaum behaupten und noch weniger beweisen, daß die Gattung des Romans um 1650 "provozierend neu" gewesen sei; es hätte sich indessen die kommunikationstheoretisch gewendete Frage diskutieren lassen, warum die Poetik erst im siebzehnten Jahrhundert den Roman zu reflektieren beginnt.
Doch neu bleibt neu, und modern bleibt modern - und so verfolgt Werber das Thema Liebe als Strukturprinzip des Romans erst ab dem achtzehnten Jahrhundert. Ein großer Teil seiner Untersuchung, der sich dem widmet, was als "Vorlauf" aufgefaßt wird, untersucht vielmehr die Kommunikationsformen der Gattung. Werber stößt dabei auf die "Newe Zeytung", das frühneuzeitliche Nachrichtenwesen, das er zu Recht als produktiven Bestandteil der Gattungsgeschichte versteht.
Die ursprüngliche Hauptfunktion der "Newen Zeytung", die es bereits vor dem Buchdruck als Beilage zu Briefen gibt, ist zwar die faktische Information. Es läßt sich indessen nachweisen, daß seit dem siebzehnten Jahrhundert nicht mehr die Information, sondern die Unterhaltung der freien Zeit das Interesse an den "Newen Zeytungen" dominiert. Belege dafür finden sich in den in deutscher Sprache abgefaßten Briefstellern wie auch in einer neuen Disziplin, der Zeitungswissenschaft, die Werber am Beispiel von Kaspar Stieler beleuchtet. In kommunikationstheoretischer Hinsicht ist damit festgestellt, daß es eine strukturelle Übereinstimmung von Roman und "Newer Zeytung" gibt: Sie werden zum unterhaltenden Zeitvertreib rezipiert.
Eine weitere, gattungsgeschichtlich wichtige Bemerkung, die der germanistischen Frühneuzeitforschung allerdings geläufig ist, kann Werber hier anschließen. In ihrer Erzähldramaturgie entspricht die "Newe Zeytung" jenem Postulat, das Goethe für die Novelle erhoben hatte, nämlich eine "unerhörte, sich ereignete Begebenheit" zu sein. Das macht die Novelle, wie Werber konstatiert, zu einer Erzählform, die nicht erst bei Goethe beginnt. Werbers erhellende Relektüre der "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" mit Kaspar Stielers barocker Zeitungswissenschaft als Folie sei der Goetheforschung ins Stammbuch geschrieben.
Kommt das Wort "Novelle" ins Spiel, dann ist allerdings für eine Wissenschaft als Performanz der Begriffe die nächste Fallgrube eröffnet. Novelle klingt so verführerisch wie das englische Wort für Roman, "novel", daß Werber die "novel" als Erben der "Newen Zeytung" betrachtet, in Opposition zum älteren Begriff der "romance" setzt und in Daniel Defoe den ersten "Autor eines modernen Romans" erblickt. Nun ist "Robinson Crusoe" zwar kaum als ein Liebesroman zu bezeichnen, und als Gattungsbezeichnung hat sich im Deutschen eben doch "romance" durchgesetzt - aber kommunikationstheoretisch tut das nichts zur Sache.
Der anglistische Umweg ist indessen hinfällig, wenn man den Blick auf die deutsche Geschichte der Gattung lenkt. In der Frühen Neuzeit ist es nämlich die "historia", die den Roman, auch als Liebesroman, auf den Begriff bringt. "Historia" meint zunächst Geschichtsschreibung, und diese wiederum soll den theoretischen Forderungen der Zeit entsprechend von Augenzeugen des Vorgefallenen ausgehen. Ein Ereignis, ein Augenzeuge, ein Bericht davon: Man befindet sich erneut im poetologischen - und auch kommunikativen - Horizont der "Newen Zeytung".
Werbers Leitfrage ist die Koevolution der Gattungsgeschichte des Romans und der intimen Kommunikation. Folgt man ihr in etwas weiter zurückliegende Zeiten, dann kann man feststellen, daß die Liebesthematik nicht erst seit dem achtzehnten Jahrhundert ein wesentliches Strukturelement des Romans darstellt, auch und nicht zuletzt, was die Codierung der Kommunikation betrifft. Die immer noch verkannte Tradition der europäischen Schäferdichtung wäre hier ins Feld zu führen. Ob Sannazaro oder Lope de Vega, ob Sidney oder d'Urfé, ob Cervantes oder Opitz - ihre Romane sind die Experimentierfelder des Intimen. Jorge de Montemayors "Diana" von 1559 beispielsweise wurde im siebzehnten Jahrhundert gleich zweimal ins Deutsche übertragen. Der Text besteht aus einer Serie von Affektbiographien, die die Liebe nicht als Vollzug oder Erlebnis zwischen zwei Personen, sondern als kommunikativen Akt Dritten gegenüber inszenieren. Die Liebe findet im Erzählen statt, was deutlich macht, daß sie bereits im sechzehnten Jahrhundert im modernen Sinn als Code zu verstehen ist, der sowohl den Roman als auch die intime Kommunikation reguliert.
Werbers Untersuchung ist gerade dort am stärksten und überzeugendsten, wo er innerhalb des Sinnhorizonts der Systemtheorie argumentieren kann. Seine Relektüren von Gellerts "Schwedischer Gräfin von G***", von Goethes "Werther", von La Roches "Geschichte des Fräuleins von Sternheim", von Lenz' "Zerbin" oder von Schlegels "Lucinde" sind fulminant und eindrucksvoll. Sie belegen, wie die intime Paarbeziehung immer stärker zum Residualbereich des Individuums hochgeschrieben wird, während der Mensch sich ansonsten von seinem gesellschaftlichen Umfeld zunehmend in divergierenden Funktionsansprüchen zerstückt findet: "Die Forderung, Erscheinung und Wesen zur Deckung zu bringen, läßt sich an den Menschen in der funktionsdifferenzierten Gesellschaft nicht stellen ... Aufrichtig zu sein würde die Folgeprobleme der Ausdifferenzierung nicht überwinden."
Und Werber folgert: "Die Liebe bildet das Muster sozialer Entdifferenzierung, und im Roman der Romantik wird diese sozialphilosophische Erwartung zu einer Geschichte verzeitlicht. Liebe und Roman werden von der Romantik noch einmal in einen zweifachen, sehr engen Zusammenhang gebracht: Beide Formen der Kommunikation nutzen einander als Medium, und beide dienen einem großangelegten semantischen Projekt sozialer Entdifferenzierung und persönlicher Retotalisierung."
Das Potential, diesen Sachverhalt zu erklären, besitzt indessen nicht allein die Systemtheorie, sondern auch die zeitgenössische Philosophie und Ästhetik. So zitiert Werber Schillers "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" (1795) und dessen "geniales Wort", daß der moderne Mensch nur noch ein "Formular" sei, das je nach "Geschäft" ausgefüllt wird. "Gleichgültig gegen den Charakter" (Schiller) interessieren sich Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und Religion allein für einen "fragmentarischen Anteil" des Menschen, für das, was, so Werber, "für seine Rolle als Wähler, Käufer, Anwalt, Untertan, Täter, Patient, Steuerzahler oder Kirchgänger wissenswert ist". Die dazu nötigen "einzelnen Fertigkeiten" werden von den Systemen gepflegt und entwickelt, alle übrigen Anlagen dagegen werden "vernachlässigt .. ., um der einzigen, welche ehrt und lohnt, alle Pflege zuzuwenden" (Schiller).
Angesichts solcher bereits historischer Einsichten in die eigene Verfaßtheit macht Werbers Studie auch das Verhältnis von Systemtheorie und Literaturgeschichte zum Thema. Es wäre an der Zeit, die unter Rückgriff auf Luhmann betriebene Soziologisierung der Literaturwissenschaft umzukehren und die Disziplin zu einer historischen Textwissenschaft zu machen. Daß dies ohne Erklärungsverluste im Bereich der Kulturtheorie geschehen kann, hat Werber in den stärksten Passagen seiner wichtigen Arbeit selbst vorgeführt.
WOLFGANG NEUBER.
Niels Werber: "Liebe als Roman". Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. Wilhelm Fink Verlag, München 2003. 493 S., geb., 60,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Neuber hat einige Einwände gegen Niels Werbers systemtheoretische Romangeschichte, die er, terminologisch hochgerüstet und hochabstrakt, eingehend darlegt. Schon dass Werber die Geschichte der Gattung in einen "vorläufigen" und einen "modernen" Teil unterteilt und somit den Roman im 17. Jahrhundert als neue Gattung versteht, erscheint Neuber fragwürdig - schließlich sei Roman schon seit dem Mittelalter fester Bestandteil der Literaturtradition gewesen. So untersuche Werber im "Vorlauf"-Teil seiner Arbeit die Kommunikationsformen der Gattung am Beispiel der "Newe Zeytung", verfolge das Thema Liebe als Strukturprinzip des Romans aber erst ab dem 18. Jahrhundert. Überzeugend findet Neuber Werbers Arbeit immer dann, wenn er innerhalb des Sinnhorizonts der Systemtheorie argumentieren kann. Seine Interpretationen von Gellerts "Schwedischer Gräfin von G***", von Goethes "Werther", von La Roches "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" u.a. lobt Neuber als "fulminant und eindrucksvoll". Werber belege hier, "wie die intime Paarbeziehung immer stärker zum Residualbereich des Individuums hochgeschrieben wird, während der Mensch sich ansonsten von seinem gesellschaftlichen Umfeld zunehmend in divergierenden Funktionsansprüchen zerstückt findet."
© Perlentaucher Medien GmbH
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