Produktdetails
- Verlag: Diogenes
- ISBN-13: 9783257862102
- Artikelnr.: 33660836
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2011Eine wilde Ära beginnt
Anthony McCarten stellt letzte Gewissheiten in Frage
Ohne Filme wie "Odyssee im Weltraum" oder "E.T." hätte dieser Roman nicht geschrieben werden können. Wie ein Ufo landet, wer da aussteigt, wie "es" ausschaut - alles vertraut. Selbst bis nach Opunake, einer neuseeländischen Kleinstadt, wird sich herumgesprochen haben, dass ein Außerirdischer gemeinhin schwere, silberne Stiefel trägt und einen unproportional großen Kopf hat. Aber wollen sie Sex mit uns Menschen? Hat das irgendwer schon erzählt?
Delia, die wie alle Mädchen ihres Alters in der örtlichen Fleischfabrik täglich das Fließband bestückt, ist da in Opunake jedenfalls eine Ausnahme. Kommt ja auch woanders nicht alle Tage vor, dass ein Mädchen spätabends von Außerirdischen zum Beischlaf eingeladen wird. Als Botschafterin der Menschheit war sie zwar nicht gerade passend gekleidet, mit Gummistiefeln und Kittelschürze. Aber so sind sie eben, die Menschen - werden sich die Besucher gedacht haben.
So harmlos, wie die Menschen aussehen, ist Anthony McCartens Roman "Liebe am Ende der Welt" allerdings nicht. Was aus der Anfangsidee, aus Delias angeblicher genussreicher Begegnung mit den Außerirdischen, erwächst, ist erzählerisch wie soziologisch ein gewaltiger, mehrköpfiger Drache, der bald nicht mehr zu kontrollieren ist. Er zieht uns ins Mark einer auf Stars, Sternchen und schnelle Liebe fixierten Gesellschaft. Er konfrontiert uns mit der Bereitschaft, allzu schnell an absurde Dinge zu glauben: Wäre es denn nicht möglich, dass sich Außerirdische auf der Erde fortpflanzen? Warum glaubt dem armen Mädchen denn niemand?
Anthony McCarten entwickelt sein Drama mit einer provokativen Ruhe. Die Kleinstadt gibt den gemächlichen Takt vor. Hier leben ein Polizist und seine tratschlustige Frau, ein Friseur und ein sehr verdächtiger Priester. Und so macht einerseits Delias Erlebnis schnell die Runde, andererseits schwankt mit der zunehmenden Festigkeit ihrer Geschichte der ganze sichere Kleinstadtboden. Und obwohl man bald ein Indiz für die Wahrhaftigkeit ihrer Geschichte findet - einen runden Abdruck auf einem Feld und darin eine wie von Geisterhand platt gedrückte Kuh -, bröckelt die wahnwitzige Idee einer aus dem All auf die Menschheit hereinbrechenden Fortpflanzungsorgie im Gleichschritt mit den sich anhäufenden Beweisen. Wie Anthony McCarten an das Naheliegende, das wirklich Böse zu glauben mit allen Mitteln verhindert, ist seiner höheren literarischen Suggestionskunst geschuldet.
Das gelingt deshalb so gut, weil McCarten, an Filmsets geschult, einer Figur lange Blenden gönnt, bevor er die nächste unter die Lupe nimmt; weil er uns zunächst unspektakulär im Alltag Bekanntschaft mit ihnen machen lässt. Hier meint man sie sofort zu durchschauen, mit ihrem Eheproblem, ihrem Minderwertigkeitskomplex, ihren Ambitionen. So werden falsche Fährten gelegt. McCarten betreibt beim Porträtieren prickelnde Innenschau, die uns eine gute Strecke blind macht für das, wozu diese Figur tatsächlich fähig sein könnte. Krimihandwerk auf hohem psychologischem Niveau. Mit dem Effekt, dass man allmählich von einem gärenden Misstrauen gegen jeden gepackt wird. Überhaupt beginnt Delias übersinnlicher Flirt ungeahnte Kreise zu ziehen. Ihre Freundinnen, eifersüchtig auf Delia, wollen auch gefragt sein. Zwei weitere Jungfrauen erzählen plötzlich von ähnlichen Beischlaf-Séancen. Mehr noch: Delia ist schwanger von unbekannt.
Doch bevor McCarten seinen Roman endgültig in Arthur-Miller-Gefilde lenkt und, wie in dessen "Hexenjagd", eine Meute hysterischer Mädchen irgendwen anklagen lässt - und seien es in diesem Fall nur extraterrestrische Wesen -, wächst der in Frage kommende Täterkreis. Der begehrende Außerirdische verkommt mehr und mehr zur Wahnidee einer verstörten jungen Frau. An seine Stelle treten als Ursache für Delias Schwangerschaft triebgesteuerte, irdische Männer. Delia selbst ist auch eine sehr unzuverlässige Erzählerin. Sie hat viel Schreckliches erlebt, die Mutter tot, der Vater mit der Erziehung überfordert und ständig bereit zuzuschlagen. Leicht ließe sich ihre Erzählung als eine den großen Liebesmangel kompensierende Erfindung abtun. Allerdings hat sie auch einmal einen sogenannten Flashback, eine Nachhallerinnerung - plötzlich hereinbrechende Bilder von Gewaltszenen im Wald, die sie nicht zuordnen kann. Und trotzdem steht die Version einer Vergewaltigung seltsam lange nur fern am Horizont.
Anthony McCarten entwickelt aus seiner originellen Idee den Zusammenbruch eines geregelten Kleinstadtlebens. Ein ganzer Markt blüht auf mit dem Erscheinen der drei geschwängerten "Hexen". Der Einzelhandel meldet einen vermehrten Taschenlampen-Verkauf. Offenbar zieht es auch andere Jungfrauen auf der Suche nach Sex in die Wälder. Einerseits soll Delia die geifernde Masse mit Details füttern. Andererseits wird sie angehalten, ihre Geschichte zu leugnen, um die Sicherheiten aller aufrechtzuerhalten. Kurzum: "Eine Ära war zu Ende gegangen. Eine wildere hatte begonnen."
"Liebe am Ende der Welt" hat den Charme eines verrückten Dramolettes. Im Kern aber verhandelt der Roman so unaufdringlich wie von McCarten gewohnt wichtige Fragen. Er stellt die teuflische Eigendynamik zur Schau, die aus der Begegnung mit dem Unsicheren erwächst. McCarten zeigt die Menschen als nach oberflächlichen Werten gierende Wesen. Aber er liebt sie auch so, wie sie sind - vor allem Delia, die stets ein Glanz umgibt, weil sie selten die Fassung verliert. Sie scheint aus dem ganzen Chaos das meiste gelernt zu haben. Am Ende ist sie Mutter eines viel zu früh geborenen Kindes, in dessen Antlitz sie durchaus alle Merkmale eines Wesens erkennt, das auf diesem komischen Planeten angekommen scheint. Kein Wunder, dass es so durchsichtig, so zerbrechlich aussieht. Das Wunder der Geburt. Wer der Urheber ist? Delias Begegnung, an der sie festhält, hat immerhin kurz vor Heiligabend stattgefunden.
Anthony McCarten, 1961 in Neuseeland geboren, scheint nach seinem frühen Theatererfolg "Ladies Night" und drei weiteren Romanen auf der Höhe seiner Kunst, das Komische mit dem Absurden auf ebenso vergnügliche wie tiefgründige Weise miteinander zu verquicken. Er mutet auch diesmal nicht nur seinen Figuren, sondern auch den Lesern die Gewissensfrage zu: Was ist man aufzugeben bereit, um wieder an etwas zu glauben? Birgt nicht erst das Ungewisse im Gegensatz zum Starren eine neue Perspektive? Sein neuer Roman hinterfragt die ganze Maschinerie, die gegenwärtige Helden schmiedet. Und zittert mit den Scheiternden.
ANJA HIRSCH.
Anthony McCarten: "Liebe am Ende der Welt". Roman.
Aus dem Englischen von Manfred Allié. Diogenes Verlag, Zürich 2011. 360 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anthony McCarten stellt letzte Gewissheiten in Frage
Ohne Filme wie "Odyssee im Weltraum" oder "E.T." hätte dieser Roman nicht geschrieben werden können. Wie ein Ufo landet, wer da aussteigt, wie "es" ausschaut - alles vertraut. Selbst bis nach Opunake, einer neuseeländischen Kleinstadt, wird sich herumgesprochen haben, dass ein Außerirdischer gemeinhin schwere, silberne Stiefel trägt und einen unproportional großen Kopf hat. Aber wollen sie Sex mit uns Menschen? Hat das irgendwer schon erzählt?
Delia, die wie alle Mädchen ihres Alters in der örtlichen Fleischfabrik täglich das Fließband bestückt, ist da in Opunake jedenfalls eine Ausnahme. Kommt ja auch woanders nicht alle Tage vor, dass ein Mädchen spätabends von Außerirdischen zum Beischlaf eingeladen wird. Als Botschafterin der Menschheit war sie zwar nicht gerade passend gekleidet, mit Gummistiefeln und Kittelschürze. Aber so sind sie eben, die Menschen - werden sich die Besucher gedacht haben.
So harmlos, wie die Menschen aussehen, ist Anthony McCartens Roman "Liebe am Ende der Welt" allerdings nicht. Was aus der Anfangsidee, aus Delias angeblicher genussreicher Begegnung mit den Außerirdischen, erwächst, ist erzählerisch wie soziologisch ein gewaltiger, mehrköpfiger Drache, der bald nicht mehr zu kontrollieren ist. Er zieht uns ins Mark einer auf Stars, Sternchen und schnelle Liebe fixierten Gesellschaft. Er konfrontiert uns mit der Bereitschaft, allzu schnell an absurde Dinge zu glauben: Wäre es denn nicht möglich, dass sich Außerirdische auf der Erde fortpflanzen? Warum glaubt dem armen Mädchen denn niemand?
Anthony McCarten entwickelt sein Drama mit einer provokativen Ruhe. Die Kleinstadt gibt den gemächlichen Takt vor. Hier leben ein Polizist und seine tratschlustige Frau, ein Friseur und ein sehr verdächtiger Priester. Und so macht einerseits Delias Erlebnis schnell die Runde, andererseits schwankt mit der zunehmenden Festigkeit ihrer Geschichte der ganze sichere Kleinstadtboden. Und obwohl man bald ein Indiz für die Wahrhaftigkeit ihrer Geschichte findet - einen runden Abdruck auf einem Feld und darin eine wie von Geisterhand platt gedrückte Kuh -, bröckelt die wahnwitzige Idee einer aus dem All auf die Menschheit hereinbrechenden Fortpflanzungsorgie im Gleichschritt mit den sich anhäufenden Beweisen. Wie Anthony McCarten an das Naheliegende, das wirklich Böse zu glauben mit allen Mitteln verhindert, ist seiner höheren literarischen Suggestionskunst geschuldet.
Das gelingt deshalb so gut, weil McCarten, an Filmsets geschult, einer Figur lange Blenden gönnt, bevor er die nächste unter die Lupe nimmt; weil er uns zunächst unspektakulär im Alltag Bekanntschaft mit ihnen machen lässt. Hier meint man sie sofort zu durchschauen, mit ihrem Eheproblem, ihrem Minderwertigkeitskomplex, ihren Ambitionen. So werden falsche Fährten gelegt. McCarten betreibt beim Porträtieren prickelnde Innenschau, die uns eine gute Strecke blind macht für das, wozu diese Figur tatsächlich fähig sein könnte. Krimihandwerk auf hohem psychologischem Niveau. Mit dem Effekt, dass man allmählich von einem gärenden Misstrauen gegen jeden gepackt wird. Überhaupt beginnt Delias übersinnlicher Flirt ungeahnte Kreise zu ziehen. Ihre Freundinnen, eifersüchtig auf Delia, wollen auch gefragt sein. Zwei weitere Jungfrauen erzählen plötzlich von ähnlichen Beischlaf-Séancen. Mehr noch: Delia ist schwanger von unbekannt.
Doch bevor McCarten seinen Roman endgültig in Arthur-Miller-Gefilde lenkt und, wie in dessen "Hexenjagd", eine Meute hysterischer Mädchen irgendwen anklagen lässt - und seien es in diesem Fall nur extraterrestrische Wesen -, wächst der in Frage kommende Täterkreis. Der begehrende Außerirdische verkommt mehr und mehr zur Wahnidee einer verstörten jungen Frau. An seine Stelle treten als Ursache für Delias Schwangerschaft triebgesteuerte, irdische Männer. Delia selbst ist auch eine sehr unzuverlässige Erzählerin. Sie hat viel Schreckliches erlebt, die Mutter tot, der Vater mit der Erziehung überfordert und ständig bereit zuzuschlagen. Leicht ließe sich ihre Erzählung als eine den großen Liebesmangel kompensierende Erfindung abtun. Allerdings hat sie auch einmal einen sogenannten Flashback, eine Nachhallerinnerung - plötzlich hereinbrechende Bilder von Gewaltszenen im Wald, die sie nicht zuordnen kann. Und trotzdem steht die Version einer Vergewaltigung seltsam lange nur fern am Horizont.
Anthony McCarten entwickelt aus seiner originellen Idee den Zusammenbruch eines geregelten Kleinstadtlebens. Ein ganzer Markt blüht auf mit dem Erscheinen der drei geschwängerten "Hexen". Der Einzelhandel meldet einen vermehrten Taschenlampen-Verkauf. Offenbar zieht es auch andere Jungfrauen auf der Suche nach Sex in die Wälder. Einerseits soll Delia die geifernde Masse mit Details füttern. Andererseits wird sie angehalten, ihre Geschichte zu leugnen, um die Sicherheiten aller aufrechtzuerhalten. Kurzum: "Eine Ära war zu Ende gegangen. Eine wildere hatte begonnen."
"Liebe am Ende der Welt" hat den Charme eines verrückten Dramolettes. Im Kern aber verhandelt der Roman so unaufdringlich wie von McCarten gewohnt wichtige Fragen. Er stellt die teuflische Eigendynamik zur Schau, die aus der Begegnung mit dem Unsicheren erwächst. McCarten zeigt die Menschen als nach oberflächlichen Werten gierende Wesen. Aber er liebt sie auch so, wie sie sind - vor allem Delia, die stets ein Glanz umgibt, weil sie selten die Fassung verliert. Sie scheint aus dem ganzen Chaos das meiste gelernt zu haben. Am Ende ist sie Mutter eines viel zu früh geborenen Kindes, in dessen Antlitz sie durchaus alle Merkmale eines Wesens erkennt, das auf diesem komischen Planeten angekommen scheint. Kein Wunder, dass es so durchsichtig, so zerbrechlich aussieht. Das Wunder der Geburt. Wer der Urheber ist? Delias Begegnung, an der sie festhält, hat immerhin kurz vor Heiligabend stattgefunden.
Anthony McCarten, 1961 in Neuseeland geboren, scheint nach seinem frühen Theatererfolg "Ladies Night" und drei weiteren Romanen auf der Höhe seiner Kunst, das Komische mit dem Absurden auf ebenso vergnügliche wie tiefgründige Weise miteinander zu verquicken. Er mutet auch diesmal nicht nur seinen Figuren, sondern auch den Lesern die Gewissensfrage zu: Was ist man aufzugeben bereit, um wieder an etwas zu glauben? Birgt nicht erst das Ungewisse im Gegensatz zum Starren eine neue Perspektive? Sein neuer Roman hinterfragt die ganze Maschinerie, die gegenwärtige Helden schmiedet. Und zittert mit den Scheiternden.
ANJA HIRSCH.
Anthony McCarten: "Liebe am Ende der Welt". Roman.
Aus dem Englischen von Manfred Allié. Diogenes Verlag, Zürich 2011. 360 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Anthony McCarten hat ein Händchen für tolle Geschichten, kann ernste Themen mit viel Witz behandeln.« Antje Deistler / Westdeutscher Rundfunk Westdeutscher Rundfunk