War es wirklich Liebe bis in den Tod, als der 80jährige Emanuel Forster an jenem strahlenden Herbsttag seine schwerkranke Frau erschoß? War es Mitleid? Oder gar Selbstmitleid? Und warum wählte er selbst nicht auch den Freitod, wie er es seiner Frau versprochen hatte? War es Totschlag oder Tötung auf Verlangen? Mit diesen diffizilen Fragen sieht sich der Richter Anselm Joos in seinem letzten Fall vor der Pensionierung konfrontiert. Als der Angeklagte nicht nur seine Schuld eingesteht, sondern auch über seine fast 60 Jahre währende Ehe berichtet, über die Anfänge im Nachkriegsdeutschland, ein normales Familienleben mit zwei Kindern, bis eines Tages seine Frau von unerträglichen Schmerzen heimgesucht wurde und ein jahrzehntelanges Martyrium begann, als der Richter immer tiefer in ein fremdes Leben eindringt, wird er von einer lange verdrängten Erinnerung heimgesucht, der Erinnerung an seinen Sohn.
Prominente Fälle wie die von Hugo Claus oder André Gorz zeigen, welch zunehmende Bedeutung der Freitod und die Beihilfe dazu in unserer älter werdenden Gesellschaft hat. Liebe bis in den Tod: Ein Buch, das sich nicht scheut, Fragen zu stellen, und nachdenklich stimmt.
Prominente Fälle wie die von Hugo Claus oder André Gorz zeigen, welch zunehmende Bedeutung der Freitod und die Beihilfe dazu in unserer älter werdenden Gesellschaft hat. Liebe bis in den Tod: Ein Buch, das sich nicht scheut, Fragen zu stellen, und nachdenklich stimmt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2008Wer erlöst den Erlöser?
Jenseits von Recht und Unrecht: Barbara Bronnen erzählt davon, wie wenig ein Mann, der Sterbehilfe an seiner Frau geleistet hat, in dieser Welt belangbar ist.
Themen zum Gegenstand eines Romans zu machen, die durch alle Medien gereicht werden, ist nicht unbedenklich. Zu nahe liegt der Verdacht, dass der Autor von der Aktualität einer Diskussion mitprofitieren möchte. Bei Barbara Bronnens Roman "Liebe bis in den Tod", obwohl er sich dem Thema Sterbehilfe wirdmet, verlieren sich aber die Vorbehalte bald. Nicht das Handeln eines Arztes, der an den hippokratischen Eid gebunden ist, sondern das des Ehemannes nämlich steht im Mittelpunkt. Sterbehilfe oder Tod auf Verlangen fällt - Eigennutz als Motiv des Täters ausgeschlossen - unter jenes Dilemma, das Josef Isensee in einer rechtsphilosophischen Abhandlung auf den Punkt gebracht hat: "Das allgemeine Gesetz kann in seiner praktischen Konsequenz zu Härten im Einzelfall führen", es "oktroyiert sein Normalitätskonzept gleichermaßen normalen wie anormalen Sachverhalten".
Vom Rechtsfall, vom Gerichtsfall her bestimmt sich die Form dieses Romans. Der Bautechniker Forster, der vor sechzig Jahren als Flüchtling nach Bayern kam, verspricht seiner unter schwersten körperlichen Behinderungen leidenden, mit mehreren Suizidversuchen gescheiterten Frau, sie zu "erlösen" und mit ihr gemeinsam in den Tod zu gehen. Als er aber seine Frau in einem Waldstück erschossen hat und ihr entstelltes Gesicht sieht, nimmt ihm plötzlich der Schock den Mut, Hand an sich selbst zu legen. Er ist, so beginnt der Roman, nach der Untersuchungshaft und dem Schwurgerichtsprozess, der mit einem Freispruch unter Auflagen endete, in seine Wohnung zurückgekehrt und blickt nun auf die Geschichte seiner Ehe und den Prozess zurück. Seine Perspektive verschränkt sich mit der des Richters; in vierzig Kapiteln wechseln sich beide - von wenigen Ausnahmen abgesehen - regelmäßig als Erzähler ab. In dieser Wechselrede lässt sich das Gegenüber von Angeklagtem und Gerichtsinstitution wiedererkennen.
Barbara Bronnen hält sich fern von prätentiösem Erzählen, sie macht sich weder zur höchstrichterlichen Instanz, noch schiebt sie dem Ganzen eine bestimmte Doktrin unter. Den Richter erstaunt das uneingeschränkte Schuldgeständnis des Angeklagten, weil er Ausflüchte und Beschönigungen zu hören gewohnt ist. Forster erwartet keine Großzügigkeit vom Gericht, aber er wünscht, dass die Tat aus ihren besonderen Voraussetzungen verstanden wird, aus der langen schweren Zeit der Pflege, die er keinem anderen überlassen wollte, die ihn aber an den Rand seiner Kräfte gebracht hat, aus der ungebrochenen wechselseitigen Liebe der Partner, aus der wachsenden Verzweiflung seiner Frau, deren sämtliche Rückenwirbel von Osteoporose zerfressen sind. Kurz, der Bautechniker Forster entrollt ein Bild seiner eigenen seelischen Situation, das jedem Psychologen zur Ehre gereichen würde.
So entwirft Barbara Bronnen nicht nur die Figur einer individuellen, sondern zugleich exemplarischen Figur, die dem Gericht bereits die Grundlage für die Urteilsfindung bereitlegt, so dass die scharfen Einwände des Staatsanwalts überzogen wirken und der offizielle Verteidiger eher in eine Statistenrolle gedrängt ist. Noch einmal: Die Darstellung des schuldbewussten Angeklagten richtet sich nicht im schlauen Kalkül auf die Milde des Gerichts, sondern auf ein mitmenschliches Verstehen seines Handelns. Er verschweigt nicht einen Präzedenzfall seiner Tat. Im Kriegseinsatz hat er einem schwerstverwundeten Kameraden und Freund, dessen eine Gesichtshälfte durch eine Granate zerschossen war, den erflehten Gnadenschuss gegeben.
Der Richter selbst kennt die zerstörerische Macht des Leidens von seiner Frau, einer Anwältin, die den frühen Tod ihres gemeinsamen Sohns seelisch nicht hat bewältigen können, keinen Sinn mehr in der Ehe sah und ihn verlassen hat, in der Zeit der Gerichtsverhandlung aber wieder zur Gesprächspartnerin wird. Zur exemplarischen Figur wird dieser Richter dadurch, dass er das Dilemma der Rechtsprechung in diesem Fall klar erkennt: "Wenn er ihr nicht half, war er ein Unmensch. Wenn er ihr half, ebenso." So wird auch das Motto verständlich, das die Autorin für diesen Roman gewählt hat, ein Vers aus Brechts Parabelstück "Der kaukasische Kreidekreis": "Schrecklich ist die Verführung zur Güte."
Trotz des Freispruchs hält dieser Roman kein glückliches Ende bereit. Die Ehe des Richters lässt sich nicht wieder kitten. Forster begegnet einer Mauer der Abweisung, weil er "ein Tabu verletzt" hat. Nur wenige Freunde sind ihm geblieben. Immerhin redet seine Tochter wieder mit ihm, nimmt ihren Vorwurf, er habe die Mutter mit seinem Mitleid unterdrückt, halbwegs zurück. Unter den Romanen Barbara Bronnens ist dieser der gewichtigste. Er lässt uns ein Problem der Rechtsprechung in einer Zeit steigenden Lebensalters bewusster sehen. Die Dialoge, die Gefechte immer neuer Argumente und Gegenargumente, halten den Leser in Spannung. Literatur sei "ein Medium zur Erweiterung und Vertiefung unserer Wahrnehmung des Lebens", sagt Dieter Wellershoff. Vor solcher Erwartung besteht dieser Roman.
WALTER HINCK
Barbara Bronnen: "Liebe bis in den Tod". Roman. Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2008. 176 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jenseits von Recht und Unrecht: Barbara Bronnen erzählt davon, wie wenig ein Mann, der Sterbehilfe an seiner Frau geleistet hat, in dieser Welt belangbar ist.
Themen zum Gegenstand eines Romans zu machen, die durch alle Medien gereicht werden, ist nicht unbedenklich. Zu nahe liegt der Verdacht, dass der Autor von der Aktualität einer Diskussion mitprofitieren möchte. Bei Barbara Bronnens Roman "Liebe bis in den Tod", obwohl er sich dem Thema Sterbehilfe wirdmet, verlieren sich aber die Vorbehalte bald. Nicht das Handeln eines Arztes, der an den hippokratischen Eid gebunden ist, sondern das des Ehemannes nämlich steht im Mittelpunkt. Sterbehilfe oder Tod auf Verlangen fällt - Eigennutz als Motiv des Täters ausgeschlossen - unter jenes Dilemma, das Josef Isensee in einer rechtsphilosophischen Abhandlung auf den Punkt gebracht hat: "Das allgemeine Gesetz kann in seiner praktischen Konsequenz zu Härten im Einzelfall führen", es "oktroyiert sein Normalitätskonzept gleichermaßen normalen wie anormalen Sachverhalten".
Vom Rechtsfall, vom Gerichtsfall her bestimmt sich die Form dieses Romans. Der Bautechniker Forster, der vor sechzig Jahren als Flüchtling nach Bayern kam, verspricht seiner unter schwersten körperlichen Behinderungen leidenden, mit mehreren Suizidversuchen gescheiterten Frau, sie zu "erlösen" und mit ihr gemeinsam in den Tod zu gehen. Als er aber seine Frau in einem Waldstück erschossen hat und ihr entstelltes Gesicht sieht, nimmt ihm plötzlich der Schock den Mut, Hand an sich selbst zu legen. Er ist, so beginnt der Roman, nach der Untersuchungshaft und dem Schwurgerichtsprozess, der mit einem Freispruch unter Auflagen endete, in seine Wohnung zurückgekehrt und blickt nun auf die Geschichte seiner Ehe und den Prozess zurück. Seine Perspektive verschränkt sich mit der des Richters; in vierzig Kapiteln wechseln sich beide - von wenigen Ausnahmen abgesehen - regelmäßig als Erzähler ab. In dieser Wechselrede lässt sich das Gegenüber von Angeklagtem und Gerichtsinstitution wiedererkennen.
Barbara Bronnen hält sich fern von prätentiösem Erzählen, sie macht sich weder zur höchstrichterlichen Instanz, noch schiebt sie dem Ganzen eine bestimmte Doktrin unter. Den Richter erstaunt das uneingeschränkte Schuldgeständnis des Angeklagten, weil er Ausflüchte und Beschönigungen zu hören gewohnt ist. Forster erwartet keine Großzügigkeit vom Gericht, aber er wünscht, dass die Tat aus ihren besonderen Voraussetzungen verstanden wird, aus der langen schweren Zeit der Pflege, die er keinem anderen überlassen wollte, die ihn aber an den Rand seiner Kräfte gebracht hat, aus der ungebrochenen wechselseitigen Liebe der Partner, aus der wachsenden Verzweiflung seiner Frau, deren sämtliche Rückenwirbel von Osteoporose zerfressen sind. Kurz, der Bautechniker Forster entrollt ein Bild seiner eigenen seelischen Situation, das jedem Psychologen zur Ehre gereichen würde.
So entwirft Barbara Bronnen nicht nur die Figur einer individuellen, sondern zugleich exemplarischen Figur, die dem Gericht bereits die Grundlage für die Urteilsfindung bereitlegt, so dass die scharfen Einwände des Staatsanwalts überzogen wirken und der offizielle Verteidiger eher in eine Statistenrolle gedrängt ist. Noch einmal: Die Darstellung des schuldbewussten Angeklagten richtet sich nicht im schlauen Kalkül auf die Milde des Gerichts, sondern auf ein mitmenschliches Verstehen seines Handelns. Er verschweigt nicht einen Präzedenzfall seiner Tat. Im Kriegseinsatz hat er einem schwerstverwundeten Kameraden und Freund, dessen eine Gesichtshälfte durch eine Granate zerschossen war, den erflehten Gnadenschuss gegeben.
Der Richter selbst kennt die zerstörerische Macht des Leidens von seiner Frau, einer Anwältin, die den frühen Tod ihres gemeinsamen Sohns seelisch nicht hat bewältigen können, keinen Sinn mehr in der Ehe sah und ihn verlassen hat, in der Zeit der Gerichtsverhandlung aber wieder zur Gesprächspartnerin wird. Zur exemplarischen Figur wird dieser Richter dadurch, dass er das Dilemma der Rechtsprechung in diesem Fall klar erkennt: "Wenn er ihr nicht half, war er ein Unmensch. Wenn er ihr half, ebenso." So wird auch das Motto verständlich, das die Autorin für diesen Roman gewählt hat, ein Vers aus Brechts Parabelstück "Der kaukasische Kreidekreis": "Schrecklich ist die Verführung zur Güte."
Trotz des Freispruchs hält dieser Roman kein glückliches Ende bereit. Die Ehe des Richters lässt sich nicht wieder kitten. Forster begegnet einer Mauer der Abweisung, weil er "ein Tabu verletzt" hat. Nur wenige Freunde sind ihm geblieben. Immerhin redet seine Tochter wieder mit ihm, nimmt ihren Vorwurf, er habe die Mutter mit seinem Mitleid unterdrückt, halbwegs zurück. Unter den Romanen Barbara Bronnens ist dieser der gewichtigste. Er lässt uns ein Problem der Rechtsprechung in einer Zeit steigenden Lebensalters bewusster sehen. Die Dialoge, die Gefechte immer neuer Argumente und Gegenargumente, halten den Leser in Spannung. Literatur sei "ein Medium zur Erweiterung und Vertiefung unserer Wahrnehmung des Lebens", sagt Dieter Wellershoff. Vor solcher Erwartung besteht dieser Roman.
WALTER HINCK
Barbara Bronnen: "Liebe bis in den Tod". Roman. Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2008. 176 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Spannend und horizonterweiternd zugleich erscheint Barbara Bronnens Roman dem Rezensenten. Walter Hinck schiebt den Verdacht, die Autorin sei mit ihrem Thema auf einen gegenwärtig durch die Medien tingelnden Waggon aufgesprungen, flink beiseite. Sterbehilfe als Thema ist eines, gibt Hinck zu bedenken. Die Perspektive und Motive nicht eines Arztes, sondern des mitleidenden Ehemannes sind etwas anderes. Hinck folgt der die Form des Romans bestimmenden Wechselrede von Angeklagtem und Richter und stellt beruhigt fest, wie unprätentiös und fern jeder Doktrin Bronnen erzählt. Die seelische Lage des angeklagten Ehemannes, wie sie der Text vermittelt, macht höchsten Eindruck auf den Rezensenten und lässt vor seinen Augen eine so individuelle wie exemplarische Gestalt entstehen, die auf das "mitmenschliche Verstehen seines Handelns" hofft. Gleichfalls exemplarisch erscheint Hinck die Figur des Richters, der das zutage tretende Dilemma der Rechtssprechung deutlich erkennt. Für Hinck erlangt das Buch damit eine herausragende Bedeutung - im Romanwerk Bronnens, als auch in unserer Zeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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