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Slavoj Zizek, Grenzgänger zwischen Philosophie und Psychoanalyse, analysiert unsere Zeit auf höchstem Niveau, geschult an Kant, Marx und Lacan, und denkt zugleich in Paradoxien und Anekdoten. Sein Augenmerk gilt einer scharfen Analyse und Kritik der Entwicklung eines neuen Demokratiebegriffs im Zeitalter der Globalisierung. Er demonstriert, welche Widersprüche gelöst werden müssen und warum sie gelöst werden müssen.

Produktbeschreibung
Slavoj Zizek, Grenzgänger zwischen Philosophie und Psychoanalyse, analysiert unsere Zeit auf höchstem Niveau, geschult an Kant, Marx und Lacan, und denkt zugleich in Paradoxien und Anekdoten. Sein Augenmerk gilt einer scharfen Analyse und Kritik der Entwicklung eines neuen Demokratiebegriffs im Zeitalter der Globalisierung. Er demonstriert, welche Widersprüche gelöst werden müssen und warum sie gelöst werden müssen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.1999

Der Balkan im Auge des Anderen
Vor allem aber achtet scharf, daß man hier alles dürfen darf: Slavoj Zizek macht sich Gedanken über Multikulti und Rassismus

Was aber bleibt? fragt sich Slavoj Zizek am Ende des Jahrhunderts. Die Dichtung nicht, denn: "Entsprechend der üblichen Definition, der Krieg sei ,eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln', ist die Tatsache, daß Radovan Karadzic, der Führer der bosnischen Serben, ein Dichter ist, mehr als ein Zufall: In gewisser Hinsicht waren die ethnischen Säuberungen in Bosnien eine Fortsetzung (einer bestimmten Art) von Dichtung mit anderen Mitteln." Das ist böse, aber zutreffend gesagt, und von dem Kaliber ist manches in der neuesten Veröffentlichung des slowenischen Denkers, so daß der irritierte Leser nicht immer weiß, ob er es mit purem Zynismus zu tun hat, mit selbstauflöslichem Denken oder einfach nur mit der Lust an der Provokation, die Zizek zu Umkehrfiguren gängiger Topoi greifen läßt.

Schon der Titel seines Buches, "Liebe deinen Nächsten? Nein, danke!" ist ja die Umkehrung eines der gängigsten christlich-jüdischen Gebote und läßt - abgesehen davon, daß er zu reißerisch ist - den Entwurf einer Ethik erwarten. Um eine ethica more geometrico demonstrata handelt es sich zwar nicht, aber um das allmähliche Verfertigen ethischer Gedanken beim Reden geht es Zizek auf alle Fälle. Beim "Reden" muß es heißen, weil Zizek im altmodischen Sinn des Wortes eigentlich nicht schreibt, die Gedanken sprudeln aus ihm heraus, werden immer neu montiert und verwendet. Leider hat der Autor seine Texte nicht redigiert. Anderenfalls hätte er die zahlreichen Wiederholungen streichen müssen und seine spekulativen Versuchsanordnungen dadurch verbindlicher machen können. Der slowenische Blickwinkel erlaubt ihm, mit Beteiligung und dabei noch aus kritischem Abstand auf eine Großprojektion namens "Balkan" zu blicken, der "immer der Andere ist, er liegt irgendwo anders . . . Weil der Balkan ein Teil Europas bleibt und von einer weißen Bevölkerung bewohnt wird, können rassistische Klischees, die man heutzutage, in unseren politisch korrekten Zeiten, nicht auf irgendwelche afrikanischen oder asiatischen Länder anzuwenden wagen würde, freimütig auf den Balkan übertragen werden. Deshalb werden politische Streitigkeiten im Balkan mit Operettenhandlungen verglichen."

Den ganzen Multikulti-Kram mit Ethno-Küchen und Afro-Zöpfen diagnostiziert Zizek ungerührt als "politisch korrekten" Rassismus. Die Gewalt der Neonazi-Skinheads sieht er nicht als die "Wiederkehr des Verdrängten" der liberal multikulturistischen Toleranz, sondern als eine "von dieser direkt hervorgebrachte Gewalt, das verborgene Antlitz der Toleranz selbst". Die radikalste These, gleich in der Einleitung formuliert, dirigiert die à la Adorno in vier musikalischen Sätzen komponierte Abhandlung: Die Menschenrechte, meint der Autor, kämen dem Außerkraftsetzen der zehn Gebote gleich, sie lägen schon an dem breiten Weg, der in die postmoderne Hölle des kategorischen Genuß-Imperativs "Du darfst" führt; freilich werden sie unter vielen Kautelen "sozialverträglich" gemacht. Derzeit ist die Sozialverträglichkeit in Frage gestellt. Der große Schock ist, daß die Menschenrechte das Töten gerade ermöglichen.

Wie wichtig Zizek die Ethik nimmt, merkt man an seinem erleichterten Aufatmen, als er Kant mit Hilfe Lacanscher Mittel vom Vorwurf des Totalitarismus freisprechen darf. Wären wir nur auf die Adorno-Horkheimer-Analyse von "Kant mit de Sade" angewiesen, glaubt er, so wäre Kant zum Totalitaristen verkommen. Zizek ist immer gut, wo er direkt beobachtet (Filme ansieht, Reklame-Slogans ihre unterschwellige Botschaft abliest), wo er sich jedoch auf die Lacanschen Vokabeln als Umwege einläßt, kreißen Begriffsberge und am Ende kommen wirklich nur Mäuschen heraus. Die Kernfrage, ob die Abstraktionskraft der europäischen Aufklärung auf ethikfreien Totalitarismus hinausläuft, haben schon viele gesehen. Adorno und Horkheimer genauso wie schon Kant selbst. Schade ist, daß Zizek sich bei all seiner Radikalität, seinem Witz und seiner Beobachtungsschärfe nicht auf einen Ausgang der Geschichte festlegen will. Wahrscheinlich möchte er Möglichkeiten offenlassen und will nicht als kulturkritische Unke auftreten.

Sein ethisches nein zu dem großen, vermeintlich ethischen ja des "Du darfst" ist scharfsinnig vorgetragen. Freilich hätte schon Brecht es widerlegen können: Vor allem aber achtet scharf, daß man hier alles dürfen darf, ist die zentrale Botschaft der neuen Gesetze der Stadt Mahagonny. Das neue, "perverse" Gesetz ist nicht die Abschaffung des Gesetzes, die gelingt niemals. Sondern auch die Freigaben, auch die "jouissance", das Genießen bekommen wieder Gesetzescharakter. An die Stelle der christlichen Nächstenliebe setzt sich das Getue der Nächstenhilfen. Nähe aber, die nicht durch eine symbolische Ordnung gefiltert ist, bedeutet - so Zizek - Grauen. An die Stelle von "Gesellschaft" tritt Cyberspace, der uns von der Unerträglichkeit der alten ödipalen Ordnungen befreien will, sie aber nur fortsetzt, und zwar auf unheimlichere Weise. Obschon nämlich Cyberspace die große Freiheit und mütterliche Geborgenheit zugleich verspricht, gibt es doch so etwas wie Ödipus on-line, eine weder prä- noch postödipale, sondern tatsächlich "ödipale" Ordnung, die allerdings noch schwerer aufzulösen ist als die "normale" ödipale, weil man den digitalen Gesetzeszwängen dafür erst wieder ein Stück paternaler Personalität einhauchen müßte.

Wir können heute nicht beurteilen, ob die Lesekultur wirklich durch "Cyberspace" oder dergleichen ersetzt wird. Wahrscheinlicher ist wohl, daß die "digitale Perversion" wieder vergeht, wie viele Wahnvorstellungen vor ihr. Bestimmte Sphären werden mutmaßlich durch die Digitalisierung unendlich verfeinert werden, es wird jedoch wieder Realitätsschübe geben, die die "Realität" nicht nur als Ersatzbefriedigung erscheinen lassen. Zizek für seinen Teil ist mit Prognosen vorsichtig. Wir können nur beurteilen, was er tut, ein Tun, von dem er sich doch offenbar erhofft, daß etwas davon "bleibt". Seine durch die Lacansche Psycho-Ontologie gefilterte Ideologiekritik ist der Versuch, durch eine unendliche Narration Identität nicht nur für sich, sondern für unsere gesellschaftliche Wirklichkeit zu gewinnen.

CAROLINE NEUBAUR.

Slavoj Zizek: "Liebe deinen Nächsten? Nein, danke". Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne. Aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider. Verlag Volk & Welt, Berlin 1999. 286 S., geb., 42,- DM.

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