»40 Jahre Sozialismus sind nicht aus der Weltgeschichte wegzuwischen, auch wenn es manchen jetzt so scheint« Erich Honecker, Berlin-Moabit, 22.11.1992
Ein knappes halbes Jahr war Honecker in Berlin-Moabit in Haft. 169 Tage, ehe er Mitte Januar 1993 als freier Mann nach Chile zur Familie ausreiste. In dieser Zeit (und bis zu seinem Tod) korrespondierte er mit einer Lehrerin aus Bad Homburg. Sie traf Honecker erstmals zu dessen 80. Geburtstag in der JVA. Der intensive Briefwechsel offenbart eine Seite an Honecker, die so deutlich in keiner anderen Veröffentlichung von ihm spürbar wurde. »Jetzt bin ich wieder da, wo die Gestapo mich vor 57 Jahren eingeliefert hat. So ist das Eva«, schreibt er im ersten Brief aus Moabit lakonisch. Und nicht minder nüchtern lässt er sie wissen: »Es bereitet mir große Sorge, dass ich an meine Verteidigung, an der Verteidigung der DDR, durch die Krankheit, das heißt durch Schwäche, gehindert werde.« Es sind berührende Zeugnisse eines todkranken Mannes, von dem man bereits alles zu wissen meinte.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Ein knappes halbes Jahr war Honecker in Berlin-Moabit in Haft. 169 Tage, ehe er Mitte Januar 1993 als freier Mann nach Chile zur Familie ausreiste. In dieser Zeit (und bis zu seinem Tod) korrespondierte er mit einer Lehrerin aus Bad Homburg. Sie traf Honecker erstmals zu dessen 80. Geburtstag in der JVA. Der intensive Briefwechsel offenbart eine Seite an Honecker, die so deutlich in keiner anderen Veröffentlichung von ihm spürbar wurde. »Jetzt bin ich wieder da, wo die Gestapo mich vor 57 Jahren eingeliefert hat. So ist das Eva«, schreibt er im ersten Brief aus Moabit lakonisch. Und nicht minder nüchtern lässt er sie wissen: »Es bereitet mir große Sorge, dass ich an meine Verteidigung, an der Verteidigung der DDR, durch die Krankheit, das heißt durch Schwäche, gehindert werde.« Es sind berührende Zeugnisse eines todkranken Mannes, von dem man bereits alles zu wissen meinte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2017Es wartet Eva vor der Höhe
Erich-Honecker-Briefe
Nach Absetzung und Flucht ins Moskauer Exil wurde der ehemalige mächtige Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, im Juli 1992 in die Bundesrepublik ausgeliefert. Dort wurde er umgehend in Haft genommen, doch nach 169 Tagen aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes wieder entlassen. Die Zeit im Berliner Gefängnis Moabit nutzte Honecker auch, um seine Sicht auf den Sozialismus in der DDR und die Ursachen für sein Scheitern in den "Moabiter Notizen" darzulegen. Er führte außerdem Korrespondenzen mit Familie, Freunden, alten Weggefährten und Unterstützern, die sich seit 1990 im "Solidaritätskomitee Erich Honecker", initiiert unter anderen von der westdeutschen DKP, zusammengeschlossen hatten.
Eine dieser Unterstützerinnen war die 1933 geborene Gymnasiallehrerin Dr. Eva Ruppert aus Bad Homburg v. d. H.. Ruppert, Honecker-Verehrerin und DDR-Bewunderin, nutzte die Gunst der Stunde, um ihr Idol persönlich kennenzulernen und eine Bindung zu ihm aufzubauen. Anlässlich seines 80. Geburtstags, am 25. August 1992, besuchte sie Honecker in der Haftanstalt Moabit. Weitere Besuche folgten, und es entspann sich eine lebhafte Korrespondenz zwischen den beiden, die nach Honeckers Tod im Jahr 1994 von dessen Ehefrau Margot fortgeführt wurde. Diese Briefe von Erich und Margot Honecker an Eva Ruppert wurden jetzt von ihr veröffentlicht.
Der Boulevard und nicht nur dieser interpretierte den Briefwechsel zwischen Honecker und Ruppert als Ausdruck einer nicht ausgelebten Liebesgeschichte: "Die letzte Romanze des Erich Honecker" war nur eine von vielen derartigen Schlagzeilen. Wenn man sich bemüht, lassen sich aus manchem dieser Briefe so etwas wie amouröse Sympathien herauslesen. Am 5. Oktober 1992 schrieb Honecker: "Liebe Eva, ich wollte Dir sofort antworten, aber dann habe ich es nicht fertiggebracht, obwohl ich wusste, obwohl ich fühlte, dass ein Brieflein von mir erwartet wurde. Deine Briefe, die hier angekommen sind, sammele ich alle in einem Hefter. Also keiner Deiner Briefe ist verlorengegangen. Deine Briefe bereichern meine Gedanken und Gefühle." Solche Formulierungen sind wohl mehr der Ausdruck eines von der Aufmerksamkeit einer jüngeren Frau geschmeichelten alten, einsamen Mannes als ein Hinweis auf wirkliche Liebesgefühle. Wie dem auch immer sei, es sind nicht diese vermeintlichen amourösen Anspielungen, die die Briefe interessant machen, sondern etwas ganz anderes: Sie zeigen die Gedankenwelt eines abgesetzten Diktators, der die Gründe für das Scheitern seines politischen Lebensprojekts nicht ansatzweise verstanden hat und sich lediglich als Opfer einer bundesdeutschen Siegerjustiz geriert. Honecker zeichnet ein Bild der untergegangenen DDR und des Sozialismus, das in seiner Realitätsferne zuweilen geradezu realsatirische Züge hat. Angesichts einer maroden Wirtschaft und von verfallenden Altbaubeständen in den Innenstädten lesen sich folgende Zeilen vom 8. November 1992 wie Hohn: "Im Grunde haben wir, habe ich ja immer gekämpft, dass es den anderen besser gehen wird. Das, so denke ich, ist doch unsere bleibende Idee. 30 000 neue Wohnungen im Jahr. Allen wird heute das ganze Dilemma klar: 30 000 gegen 3000 jetzt. Ein Glück, dass uns das noch gelungen ist. Ein Jahr später, und die Wohnungsfrage wäre in der Hauptstadt gelöst worden. Der Prenzlauer Berg wäre heute ein einziger Bauplatz." Wahrlich eine groteske Vorstellung: statt des heutigen, hochattraktiven sanierten Altbauviertels eine zweite Plattenbauwüste à la Marzahn-Hellersdorf.
Unter einer umfassenden Realitätsverweigerung litt nicht nur Erich Honecker, sondern die meisten der alten Männer im Politbüro der SED. Sie waren deshalb nicht in der Lage, die Probleme in allen Bereichen der DDR und die wachsende Unzufriedenheit von immer mehr Bürgern quer durch alle Bevölkerungskreise wahrzunehmen. Folgerichtig verneinten sie ihre eigene Schuld am Scheitern der DDR und des real existierenden Sozialismus kategorisch und machten den allein Schuldigen im fernen Moskau aus: Michael Gorbatschow. So schrieb Honecker am 19. September 1992 an Eva Ruppert, dass es Gorbatschow und seine engsten Vertrauten waren, die den "Zerfall der Sowjetunion" und den "Verkauf der DDR" zu verantworten hätten.
Zum Schluss noch ein Wort über die Adressatin dieser Elogen auf den DDR-Sozialismus: Eva Ruppert ist der lebende Beweis, dass auch eine Frau, die zeitlebens die Vorzüge der bundesdeutschen Demokratie und eines Beamtenstatus genoss, in ideologischer Verblendung der gleichen Realitätsverweigerung anheimfallen konnte wie der ehemalige DDR-Staatschef. Das veranlasst fast zur Nachsicht gegenüber Honecker.
DANIELA MÜNKEL
Eva Ruppert: "Liebe Eva". Erich Honeckers Gefängnisbriefe. Verlag edition Ost, Berlin 2017. 160 S., 9,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erich-Honecker-Briefe
Nach Absetzung und Flucht ins Moskauer Exil wurde der ehemalige mächtige Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, im Juli 1992 in die Bundesrepublik ausgeliefert. Dort wurde er umgehend in Haft genommen, doch nach 169 Tagen aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes wieder entlassen. Die Zeit im Berliner Gefängnis Moabit nutzte Honecker auch, um seine Sicht auf den Sozialismus in der DDR und die Ursachen für sein Scheitern in den "Moabiter Notizen" darzulegen. Er führte außerdem Korrespondenzen mit Familie, Freunden, alten Weggefährten und Unterstützern, die sich seit 1990 im "Solidaritätskomitee Erich Honecker", initiiert unter anderen von der westdeutschen DKP, zusammengeschlossen hatten.
Eine dieser Unterstützerinnen war die 1933 geborene Gymnasiallehrerin Dr. Eva Ruppert aus Bad Homburg v. d. H.. Ruppert, Honecker-Verehrerin und DDR-Bewunderin, nutzte die Gunst der Stunde, um ihr Idol persönlich kennenzulernen und eine Bindung zu ihm aufzubauen. Anlässlich seines 80. Geburtstags, am 25. August 1992, besuchte sie Honecker in der Haftanstalt Moabit. Weitere Besuche folgten, und es entspann sich eine lebhafte Korrespondenz zwischen den beiden, die nach Honeckers Tod im Jahr 1994 von dessen Ehefrau Margot fortgeführt wurde. Diese Briefe von Erich und Margot Honecker an Eva Ruppert wurden jetzt von ihr veröffentlicht.
Der Boulevard und nicht nur dieser interpretierte den Briefwechsel zwischen Honecker und Ruppert als Ausdruck einer nicht ausgelebten Liebesgeschichte: "Die letzte Romanze des Erich Honecker" war nur eine von vielen derartigen Schlagzeilen. Wenn man sich bemüht, lassen sich aus manchem dieser Briefe so etwas wie amouröse Sympathien herauslesen. Am 5. Oktober 1992 schrieb Honecker: "Liebe Eva, ich wollte Dir sofort antworten, aber dann habe ich es nicht fertiggebracht, obwohl ich wusste, obwohl ich fühlte, dass ein Brieflein von mir erwartet wurde. Deine Briefe, die hier angekommen sind, sammele ich alle in einem Hefter. Also keiner Deiner Briefe ist verlorengegangen. Deine Briefe bereichern meine Gedanken und Gefühle." Solche Formulierungen sind wohl mehr der Ausdruck eines von der Aufmerksamkeit einer jüngeren Frau geschmeichelten alten, einsamen Mannes als ein Hinweis auf wirkliche Liebesgefühle. Wie dem auch immer sei, es sind nicht diese vermeintlichen amourösen Anspielungen, die die Briefe interessant machen, sondern etwas ganz anderes: Sie zeigen die Gedankenwelt eines abgesetzten Diktators, der die Gründe für das Scheitern seines politischen Lebensprojekts nicht ansatzweise verstanden hat und sich lediglich als Opfer einer bundesdeutschen Siegerjustiz geriert. Honecker zeichnet ein Bild der untergegangenen DDR und des Sozialismus, das in seiner Realitätsferne zuweilen geradezu realsatirische Züge hat. Angesichts einer maroden Wirtschaft und von verfallenden Altbaubeständen in den Innenstädten lesen sich folgende Zeilen vom 8. November 1992 wie Hohn: "Im Grunde haben wir, habe ich ja immer gekämpft, dass es den anderen besser gehen wird. Das, so denke ich, ist doch unsere bleibende Idee. 30 000 neue Wohnungen im Jahr. Allen wird heute das ganze Dilemma klar: 30 000 gegen 3000 jetzt. Ein Glück, dass uns das noch gelungen ist. Ein Jahr später, und die Wohnungsfrage wäre in der Hauptstadt gelöst worden. Der Prenzlauer Berg wäre heute ein einziger Bauplatz." Wahrlich eine groteske Vorstellung: statt des heutigen, hochattraktiven sanierten Altbauviertels eine zweite Plattenbauwüste à la Marzahn-Hellersdorf.
Unter einer umfassenden Realitätsverweigerung litt nicht nur Erich Honecker, sondern die meisten der alten Männer im Politbüro der SED. Sie waren deshalb nicht in der Lage, die Probleme in allen Bereichen der DDR und die wachsende Unzufriedenheit von immer mehr Bürgern quer durch alle Bevölkerungskreise wahrzunehmen. Folgerichtig verneinten sie ihre eigene Schuld am Scheitern der DDR und des real existierenden Sozialismus kategorisch und machten den allein Schuldigen im fernen Moskau aus: Michael Gorbatschow. So schrieb Honecker am 19. September 1992 an Eva Ruppert, dass es Gorbatschow und seine engsten Vertrauten waren, die den "Zerfall der Sowjetunion" und den "Verkauf der DDR" zu verantworten hätten.
Zum Schluss noch ein Wort über die Adressatin dieser Elogen auf den DDR-Sozialismus: Eva Ruppert ist der lebende Beweis, dass auch eine Frau, die zeitlebens die Vorzüge der bundesdeutschen Demokratie und eines Beamtenstatus genoss, in ideologischer Verblendung der gleichen Realitätsverweigerung anheimfallen konnte wie der ehemalige DDR-Staatschef. Das veranlasst fast zur Nachsicht gegenüber Honecker.
DANIELA MÜNKEL
Eva Ruppert: "Liebe Eva". Erich Honeckers Gefängnisbriefe. Verlag edition Ost, Berlin 2017. 160 S., 9,99 [Euro].
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