Von der wunderbaren Unmöglichkeit, unberührt zu bleiben.
Jahr für Jahr pilgert der Adel in Ordensformation nach Lourdes. Diese spirituelle Reise im Dienste der Bedürftigen ist ein wichtiger Teil der aristokratischen Erziehung - und gleichzeitig ein idealer Heiratsmarkt. Neu dabei ist Kassandra, Ende dreißig und nur bedingt erlösungswillig - doch die Tage im »Heiligen Bezirk« werden sie alles andere als unberührt lassen.
Sophie von Maltzahn schickt ihre Heldin mit herrlich ungläubigem Blick auf das Abenteuer Lourdes. Die Reise wird für Kassandra zu einem Selbstversuch mit offenem Ausgang - sie gibt sich komplett dem abstrusen Kosmos der Wallfahrtstätte hin. Aber was macht ein solcher Overkill an christlicher Mystik, tiefer Gläubigkeit und uralten liturgischen Abläufen mit einem modernen Stadtmenschen? Wie findet man sich zurecht in einer strengen Ordenshierarchie - die von allen Beteiligten beunruhigend ernst genommen wird? Und kann man in einer Umgebung, die sich derart hingebungsvoll in den Dienst der Kranken stellt, skeptisch, distanziert und unberührt bleiben? Natürlich kann man das nicht! Und so lässt der Verlust der »ethnologischen Distanz« nicht lange auf sich warten - und die Liebe bricht sich Bahn.
Sophie von Maltzahn erzählt mit messerscharfer Beobachtungsgabe und großem Humor von einer Expedition in ein unbekanntes Reich. »Liebe in Lourdes« ist eine wunderbare Milieustudie eines sehr speziellen Pilgerkreises, seiner uralten Regeln und Gebräuche und ein fein komponierter Roman über die Frage, wie anfällig wir sind für die Verheißung der Erlösung - egal ob gläubig oder nicht.
Jahr für Jahr pilgert der Adel in Ordensformation nach Lourdes. Diese spirituelle Reise im Dienste der Bedürftigen ist ein wichtiger Teil der aristokratischen Erziehung - und gleichzeitig ein idealer Heiratsmarkt. Neu dabei ist Kassandra, Ende dreißig und nur bedingt erlösungswillig - doch die Tage im »Heiligen Bezirk« werden sie alles andere als unberührt lassen.
Sophie von Maltzahn schickt ihre Heldin mit herrlich ungläubigem Blick auf das Abenteuer Lourdes. Die Reise wird für Kassandra zu einem Selbstversuch mit offenem Ausgang - sie gibt sich komplett dem abstrusen Kosmos der Wallfahrtstätte hin. Aber was macht ein solcher Overkill an christlicher Mystik, tiefer Gläubigkeit und uralten liturgischen Abläufen mit einem modernen Stadtmenschen? Wie findet man sich zurecht in einer strengen Ordenshierarchie - die von allen Beteiligten beunruhigend ernst genommen wird? Und kann man in einer Umgebung, die sich derart hingebungsvoll in den Dienst der Kranken stellt, skeptisch, distanziert und unberührt bleiben? Natürlich kann man das nicht! Und so lässt der Verlust der »ethnologischen Distanz« nicht lange auf sich warten - und die Liebe bricht sich Bahn.
Sophie von Maltzahn erzählt mit messerscharfer Beobachtungsgabe und großem Humor von einer Expedition in ein unbekanntes Reich. »Liebe in Lourdes« ist eine wunderbare Milieustudie eines sehr speziellen Pilgerkreises, seiner uralten Regeln und Gebräuche und ein fein komponierter Roman über die Frage, wie anfällig wir sind für die Verheißung der Erlösung - egal ob gläubig oder nicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2019Antreten zur Barmherzigkeit
Mit Kutte und Geißel: In ihrem Roman "Liebe in Lourdes" ist Sophie von Maltzahn unterwegs mit Pilgern und zeigt sich dabei radikal gegenwärtig.
Massen verzückter Pilger, Devotionalienbuden, eine Basilika mit der Anmutung einer Tiefgarage: Der Overkill an Kitsch und Kult in Lourdes, wo 1858 die heilige Madonna der vierzehnjährigen Bernadette Soubirous erschienen sein soll, kann auch frömmere Gemüter abstoßen. Trotzdem pilgern alljährlich Millionen in die französischen Pyrenäen, unter ihnen auch traditionsbewusste Verbände wie Soldaten oder Adlige mit großem Gepränge an Uniformen und Fahnen. Sophie von Maltzahn, ehemalige Redakteurin dieser Zeitung, heute Journalistin und Bloggerin zu Berlin, ist schon achtmal mit einer Gruppe schwerbehinderter Kinder und überwiegend adligen Betreuern nach Lourdes gefahren. Nach einigen Reportagen hat sie nun auch einen Roman über eine solche Fahrt geschrieben.
Der Kontrast ist ausgesprochen reizvoll: Eine moderne junge Frau (im Roman heißt sie Kassandra und nennt als Lebensinhalt Vernissagen, Konferenzen, Clubs, Festivals und "ausreichend Liebhaber*innen") ist hin und weg von den anachronistischen Regeln und Ritualen der Pilgerfahrt. Lourdes ist für das It-Girl aus der hedonistischen Eventkultur mindestens so prickelnd wie Ibiza. Was für die heilige Elisabeth die Eiterbeulen der Aussätzigen, sind für sie die epileptischen Störungen und Hautkrankheiten "ihrer" Kinder. Das Antreten zur Barmherzigkeit, die Liturgie der Umzüge, Gebete und Bäder, die krassen Dresscodes (Häubchen, Barett, Krawatte, Kittelschürze) und Hierarchien: Das alles ist für eine Frau, die ihren letzten Liebhaber gefesselt hat und die Berliner Hipster sowieso längst gefressen hat, wie eine Offenbarung: "Gibt's das wirklich? Haben Leute Sex in Lourdes? Noch mit der Ordensbinde am Arm? Oder am besten gleich noch mit Kutte und Geißel?" Weihwasser ist cooler als Parfum, Häubchen und Dutt sind besser als Pink-Strähnen und Piercings, Handkuss und Ave Maria rocken mehr als Berghain und Bushido.
Dabei kümmert sich Kassandra durchaus hingebungsvoll um Anke, das ihr anvertraute Kind mit den Julia-Roberts-Lippen und Windelgröße M. Die Neununddreißigjährige hätte selbst gern ein Kind, am liebsten per befleckter Empfängnis, wenn auch nicht unbedingt eines dieser bemitleidenswerten "Geschöpfe, denen die Gene, Gott oder sonst ein Mechanismus das Kreuz eines dysfunktionalen Körpers auferlegt hat". Diese Wortwahl, so haben Betroffene an Sophie von Maltzahns Sprache bemängelt, verrate eine falsche, hochmütige Demut: Kinder wie Anke sind für Kassandra Trophäen heroischer Selbstaufopferung, Objekte der Fürsorge. Sie sucht in Lourdes offensichtlich nicht Gott, sondern weltliche Liebe, Grenzerfahrungen des "mystic overload", Materialien für eine Reportage - Amor statt Caritas, Party statt Nächstenliebe.
Kassandra liebt Anke, ihre Berührungen, ihr Vertrauen, ihr dankbares Lächeln. Aber weil sie permanent unterwegs ist, müde oder im Bett mit Oki, einem feschen Adligen aus Österreich, hat sie nicht immer Zeit für "ihr" Kind. Von ihrem Lourdes-Syndrom kann sie als ungläubige Großstädterin nur im Modus von Ironie und eines neckischen Jungmädchensprechs reden: "Maria, Mutter voll der Gnade - wir kommen!" Kassandra zitiert Bibelverse und fragt in albernen Fußnoten und inneren "mind streaming"-Monologen: "Was mache ich eigentlich hier?". Es macht ihr sichtlich Heidenspaß, katholische Spießer mit liberalen Ansichten über Homosexualität oder den Papst zu schockieren und gleichzeitig anzubaggern.
Für Kassandra ist Lourdes "ganz schön krass", "vollkommen irre" und jedenfalls lächerlich antiquiert: Halbwegs aufgeklärte Zeitgenossen und potentielle Liebhaber, die allen Ernstes Sex vor der Ehe ablehnen, den Zölibat verteidigen und sich widerspruchslos den Kommandos von Zugführern und männlichen Saalschwestern ("Saalschwesterx") unterwerfen. Im Zug macht sich die bekennende Gottesleugnerin damit nicht nur Freunde, aber so richtig böse meint sie es ja auch nicht, wie sich bei der Manöverkritik zum Abschied herausstellt.
Möglicherweise ist das alles nur eine Satire: Lourdes als Heiratsmarkt für den Hochadel, Tinder für Altgläubige. Aber dafür suhlt sich die Autorin dann doch zu sehr im backfischhaften Kichern, Spötteln und Klatschen ihres Alter Egos. Wichtig für Fanni, Stoffi, Leonie und wie die "Pilgermamis" alle heißen ist eh nur, woher man Windeln für die Kinder und cremige Concealer für die Augen bekommt, wer beim Einzug den schönsten Mantel und beim Sex den Erbprinzen abkriegt. Tiefer schürfende Fragen bleiben weitgehend ausgeklammert. Zum Beispiel: Woher kommt, woran rührt diese irrwitzige Sehnsucht nach Transzendenz im Alltag?
Nicht einmal Kassandra kann sich dem Reiz der Veranstaltung entziehen. Die eintönigen Litaneien und Lieder, die paramilitärische Ordnung und das heilige Wasser werden zum "Trigger für ihre Verklärung". Ihre Brüste beginnen Milch abzusondern, ihre Träume heiligmäßig zu werden, und beim Sonnenwunder übermannt sie dann der Schwindel: "Herr im Himmel, kann der gut küssen. Diese Zunge. So fordernd und gleichzeitig weich." Es gibt in "Liebe in Lourdes" auch hübsche komische Stellen und gut beobachtete reportagehafte Passagen, aber insgesamt wird der Schnodderton der Erzählerin dem Phänomen nicht gerecht. Um es in ethnologischer Distanz zu halten, greift sie immer auf den "typisch urbanen Emotalk" zurück: "Bin ich jetzt die Auserwählte oder habe ich nur einen Knall?"
Die Erzählerin redet viel von Wunderheilungen und Ecstasy, aber sie lässt sich selten wirklich auf die Wunder und Ekstasen einer Wallfahrt ein: Prozessionen erinnern sie unweigerlich an Demos und Partys, Glaubenserscheinungen an Drogenerlebnisse und Orgasmen, Beichten an Psychotherapien. So zeigt sich Sophie von Maltzahn als Autorin wie als Ethnologin aristokratischer Barmherzigkeit unverkennbar als ein Kind des 21. Jahrhunderts.
MARTIN HALTER
Sophie von Maltzahn: "Liebe in Lourdes". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Kutte und Geißel: In ihrem Roman "Liebe in Lourdes" ist Sophie von Maltzahn unterwegs mit Pilgern und zeigt sich dabei radikal gegenwärtig.
Massen verzückter Pilger, Devotionalienbuden, eine Basilika mit der Anmutung einer Tiefgarage: Der Overkill an Kitsch und Kult in Lourdes, wo 1858 die heilige Madonna der vierzehnjährigen Bernadette Soubirous erschienen sein soll, kann auch frömmere Gemüter abstoßen. Trotzdem pilgern alljährlich Millionen in die französischen Pyrenäen, unter ihnen auch traditionsbewusste Verbände wie Soldaten oder Adlige mit großem Gepränge an Uniformen und Fahnen. Sophie von Maltzahn, ehemalige Redakteurin dieser Zeitung, heute Journalistin und Bloggerin zu Berlin, ist schon achtmal mit einer Gruppe schwerbehinderter Kinder und überwiegend adligen Betreuern nach Lourdes gefahren. Nach einigen Reportagen hat sie nun auch einen Roman über eine solche Fahrt geschrieben.
Der Kontrast ist ausgesprochen reizvoll: Eine moderne junge Frau (im Roman heißt sie Kassandra und nennt als Lebensinhalt Vernissagen, Konferenzen, Clubs, Festivals und "ausreichend Liebhaber*innen") ist hin und weg von den anachronistischen Regeln und Ritualen der Pilgerfahrt. Lourdes ist für das It-Girl aus der hedonistischen Eventkultur mindestens so prickelnd wie Ibiza. Was für die heilige Elisabeth die Eiterbeulen der Aussätzigen, sind für sie die epileptischen Störungen und Hautkrankheiten "ihrer" Kinder. Das Antreten zur Barmherzigkeit, die Liturgie der Umzüge, Gebete und Bäder, die krassen Dresscodes (Häubchen, Barett, Krawatte, Kittelschürze) und Hierarchien: Das alles ist für eine Frau, die ihren letzten Liebhaber gefesselt hat und die Berliner Hipster sowieso längst gefressen hat, wie eine Offenbarung: "Gibt's das wirklich? Haben Leute Sex in Lourdes? Noch mit der Ordensbinde am Arm? Oder am besten gleich noch mit Kutte und Geißel?" Weihwasser ist cooler als Parfum, Häubchen und Dutt sind besser als Pink-Strähnen und Piercings, Handkuss und Ave Maria rocken mehr als Berghain und Bushido.
Dabei kümmert sich Kassandra durchaus hingebungsvoll um Anke, das ihr anvertraute Kind mit den Julia-Roberts-Lippen und Windelgröße M. Die Neununddreißigjährige hätte selbst gern ein Kind, am liebsten per befleckter Empfängnis, wenn auch nicht unbedingt eines dieser bemitleidenswerten "Geschöpfe, denen die Gene, Gott oder sonst ein Mechanismus das Kreuz eines dysfunktionalen Körpers auferlegt hat". Diese Wortwahl, so haben Betroffene an Sophie von Maltzahns Sprache bemängelt, verrate eine falsche, hochmütige Demut: Kinder wie Anke sind für Kassandra Trophäen heroischer Selbstaufopferung, Objekte der Fürsorge. Sie sucht in Lourdes offensichtlich nicht Gott, sondern weltliche Liebe, Grenzerfahrungen des "mystic overload", Materialien für eine Reportage - Amor statt Caritas, Party statt Nächstenliebe.
Kassandra liebt Anke, ihre Berührungen, ihr Vertrauen, ihr dankbares Lächeln. Aber weil sie permanent unterwegs ist, müde oder im Bett mit Oki, einem feschen Adligen aus Österreich, hat sie nicht immer Zeit für "ihr" Kind. Von ihrem Lourdes-Syndrom kann sie als ungläubige Großstädterin nur im Modus von Ironie und eines neckischen Jungmädchensprechs reden: "Maria, Mutter voll der Gnade - wir kommen!" Kassandra zitiert Bibelverse und fragt in albernen Fußnoten und inneren "mind streaming"-Monologen: "Was mache ich eigentlich hier?". Es macht ihr sichtlich Heidenspaß, katholische Spießer mit liberalen Ansichten über Homosexualität oder den Papst zu schockieren und gleichzeitig anzubaggern.
Für Kassandra ist Lourdes "ganz schön krass", "vollkommen irre" und jedenfalls lächerlich antiquiert: Halbwegs aufgeklärte Zeitgenossen und potentielle Liebhaber, die allen Ernstes Sex vor der Ehe ablehnen, den Zölibat verteidigen und sich widerspruchslos den Kommandos von Zugführern und männlichen Saalschwestern ("Saalschwesterx") unterwerfen. Im Zug macht sich die bekennende Gottesleugnerin damit nicht nur Freunde, aber so richtig böse meint sie es ja auch nicht, wie sich bei der Manöverkritik zum Abschied herausstellt.
Möglicherweise ist das alles nur eine Satire: Lourdes als Heiratsmarkt für den Hochadel, Tinder für Altgläubige. Aber dafür suhlt sich die Autorin dann doch zu sehr im backfischhaften Kichern, Spötteln und Klatschen ihres Alter Egos. Wichtig für Fanni, Stoffi, Leonie und wie die "Pilgermamis" alle heißen ist eh nur, woher man Windeln für die Kinder und cremige Concealer für die Augen bekommt, wer beim Einzug den schönsten Mantel und beim Sex den Erbprinzen abkriegt. Tiefer schürfende Fragen bleiben weitgehend ausgeklammert. Zum Beispiel: Woher kommt, woran rührt diese irrwitzige Sehnsucht nach Transzendenz im Alltag?
Nicht einmal Kassandra kann sich dem Reiz der Veranstaltung entziehen. Die eintönigen Litaneien und Lieder, die paramilitärische Ordnung und das heilige Wasser werden zum "Trigger für ihre Verklärung". Ihre Brüste beginnen Milch abzusondern, ihre Träume heiligmäßig zu werden, und beim Sonnenwunder übermannt sie dann der Schwindel: "Herr im Himmel, kann der gut küssen. Diese Zunge. So fordernd und gleichzeitig weich." Es gibt in "Liebe in Lourdes" auch hübsche komische Stellen und gut beobachtete reportagehafte Passagen, aber insgesamt wird der Schnodderton der Erzählerin dem Phänomen nicht gerecht. Um es in ethnologischer Distanz zu halten, greift sie immer auf den "typisch urbanen Emotalk" zurück: "Bin ich jetzt die Auserwählte oder habe ich nur einen Knall?"
Die Erzählerin redet viel von Wunderheilungen und Ecstasy, aber sie lässt sich selten wirklich auf die Wunder und Ekstasen einer Wallfahrt ein: Prozessionen erinnern sie unweigerlich an Demos und Partys, Glaubenserscheinungen an Drogenerlebnisse und Orgasmen, Beichten an Psychotherapien. So zeigt sich Sophie von Maltzahn als Autorin wie als Ethnologin aristokratischer Barmherzigkeit unverkennbar als ein Kind des 21. Jahrhunderts.
MARTIN HALTER
Sophie von Maltzahn: "Liebe in Lourdes". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.07.2019Unheilige Epiphanien
Wie man eine Pilgerfahrt mit Ironie übersteht, zeigt Sophie von Maltzahns Roman „Liebe in Lourdes“
Kassandra ist dann mal weg. Die 39 Jahre alte Berlinerin hat keine Kinder, aber diverse Männergeschichten, Tinder-Dates und eine Scheidung hinter sich – irgendwie scheint da jetzt der Zeitpunkt für eine Pilgerreise gekommen zu sein. Der Jakobsweg ist Kassandra wahrscheinlich etwas zu öko und peinlich, deshalb schließt sie sich einer Gruppe an, die mit behinderten Kindern nach Lourdes fährt, wo einst eine Marienerscheinung der vierzehnjährigen Bernadette Soubirous den Weg zu einer Quelle wies, deren Wasser Wunderheilungskräfte nachgesagt werden.
Wenn schon pilgern, dann richtig. Ein Abenteuer, aber für einen guten Zweck, wenn man so will, und mit den körperlich und geistig behinderten Kindern gibt es für jeden Gläubigen auch gleich noch eine kleine Prüfung Gottes dazu. Pilgern all inclusive. Denn trotz sinkender Mitgliedszahlen der Kirchen und eines Missbrauchsskandals nach dem anderen sind Pilgerreisen nach wie vor relativ unverdächtig. Vielleicht, weil es da um Selbstfindung unter der Obhut einer größeren Wahrheit geht, und dagegen wird wohl kaum jemand etwas einzuwenden haben. Pilgern als moralisch einwandfreie Selbstoptimierung etwas älterer Millennials, die sonst mit Religion nur an Weihnachten und Ostern in Kontakt kommen?
Das ist ein zentrales Thema in Sophie von Maltzahns zweitem Roman „Liebe in Lourdes“. Worum es sonst noch geht, ist eine Glaubensfrage. Weite Teile des Romans sind so etwas wie eine fiktionalisierte Reportage. Maltzahn ist selbst schon acht Mal nach Lourdes gepilgert und hat manche der von ihr beschriebenen Szenen, besonders die Zusammenarbeit mit den Kindern, selbst erlebt, wie sie in einem Interview verriet: die Organisation des Pilgerzuges, Details der Ordenstracht und wie es ist, 30 Stunden in einem Zug voller pflegebedürftiger Kinder und spirituell bedürftiger Erwachsener durchs hochsommerliche Frankreich zu tuckern. Zivildienst trifft auf Klassenfahrt und Kirchentag.
Kassandra empfindet die Arbeit mit den Kindern als äußerst erbaulich und alle Männer, die ihre Schutzbefohlenen füttern und mit ihnen spielen, findet sie extrem attraktiv. Sie trifft Menschen, die Dinge sagen wie: „Der Prälat sucht den Erbprinzen.“ Unbedingt will sie wissen, was das für Leute sind, die hierherpilgern, wie anziehend diese Schwesterntrachten eigentlich genau auf Männer wirken und, zentrale Frage, ob man in Lourdes eigentlich Sex haben kann. Bei dem ganzen Unterfangen geht es um eine Herausforderung des Heiligen. „Nun reiht sich ein von weißen Neonlampen erhellter Shop neben dem anderen: blinkende Kreuze, Marias in allen Größen, Armbänder, Rosenkränze, versprochene Gnade auf kitschigen Ikonendrucken, Pizza- und Burgerwerbung aus bunten Röhren, ein 24/6 Supermarkt. Der Stimmungsumschwung ins Profane ist schockierend und gleichzeitig ziemlich geil, denkt Kassandra.“
In Lourdes, wie es in dem Roman beschrieben wird, vermischen sich Glaube, Liebe, Sex, Familienwünsche, Fürsorge, Rausch und eine mediterrane Urlaubsatmosphäre. Sehnsüchte werden hier nicht unbedingt ausgelebt, aber vielen der Pilger scheinen sie in dem Wallfahrtsort doch in greifbare Nähe gerückt zu sein.
Weil Heiligenerscheinungen und Flirts auf Pilgerfahrt nicht richtig zusammengehen, driftet auch der Text etwas auseinander, indem er sich mit Fußnoten selbst kommentiert. So findet eine strenge Pilgerin, Benedikta, Sex vor der Ehe ginge nur in wenigen Ausnahmefällen. „Aber nicht, wenn eine jedes Wochenende ’nen anderen Typen abschleppt.“ Fußnote: „Epiphanie der Eva.“ Man muss davon ausgehen, dass Kassandra solche Wochenenden hinter sich hat. Ob die biblische Eva das nicht auch gewollt hätte, statt nur mit dem ollen Adam abzuhängen? Es wirkt, als wolle der Text mit diesen Andeutungen noch einmal deutlich ironische Distanz zu sich selbst aufbauen. Weil der Umschwung ins Profane so geil ist. Nur vollzieht den gerade Kassandra nicht. Für sie ist der ganze Ausflug eine irgendwie bewegende, aber nie spirituelle Veranstaltung. Sie findet eine kleine Erfüllung in der Pflege der Kinder, sagt zu netten Männern nicht Nein, nimmt aber ansonsten an der Veranstaltung so ironisch teil wie Berliner Hipster, die angesoffen ein Trabrennen besuchen.
Kassandra scheint überzeugt zu sein, dass es zu jedem religiösen Erlebnis von der Ekstase bis zur Beichte eine weltliche Entsprechung gibt. Lourdes unterscheidet sich von einem freiwilligen sozialen Jahr und dem Besuch eines Technofestivals auf MDMA eigentlich nur dadurch, dass dort für sie beides zusammenkommt. Wie das sein kann und warum das eine solche Anziehungskraft ausübt, deutet der Roman nur an, indem er die Ironie und die Betonung des Kontrasts zum Profanen mit der Faszination für die Regeln und Rituale der Veranstaltung zusammenstellt. Richtig greift beides aber nicht ineinander. Möglicherweise soll dieser Roman damit subversiv sein. Dann untergräbt er sich aber auch selbst.
NICOLAS FREUND
Sophie von Maltzahn: Liebe in Lourdes. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 224 Seiten, 20 Euro.
Da kommt ein freiwilliges soziales
Jahr mit einem Technofestival
auf MDMA zusammen
Autorin Sophie von Maltzahn.
Foto: C. Saage
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie man eine Pilgerfahrt mit Ironie übersteht, zeigt Sophie von Maltzahns Roman „Liebe in Lourdes“
Kassandra ist dann mal weg. Die 39 Jahre alte Berlinerin hat keine Kinder, aber diverse Männergeschichten, Tinder-Dates und eine Scheidung hinter sich – irgendwie scheint da jetzt der Zeitpunkt für eine Pilgerreise gekommen zu sein. Der Jakobsweg ist Kassandra wahrscheinlich etwas zu öko und peinlich, deshalb schließt sie sich einer Gruppe an, die mit behinderten Kindern nach Lourdes fährt, wo einst eine Marienerscheinung der vierzehnjährigen Bernadette Soubirous den Weg zu einer Quelle wies, deren Wasser Wunderheilungskräfte nachgesagt werden.
Wenn schon pilgern, dann richtig. Ein Abenteuer, aber für einen guten Zweck, wenn man so will, und mit den körperlich und geistig behinderten Kindern gibt es für jeden Gläubigen auch gleich noch eine kleine Prüfung Gottes dazu. Pilgern all inclusive. Denn trotz sinkender Mitgliedszahlen der Kirchen und eines Missbrauchsskandals nach dem anderen sind Pilgerreisen nach wie vor relativ unverdächtig. Vielleicht, weil es da um Selbstfindung unter der Obhut einer größeren Wahrheit geht, und dagegen wird wohl kaum jemand etwas einzuwenden haben. Pilgern als moralisch einwandfreie Selbstoptimierung etwas älterer Millennials, die sonst mit Religion nur an Weihnachten und Ostern in Kontakt kommen?
Das ist ein zentrales Thema in Sophie von Maltzahns zweitem Roman „Liebe in Lourdes“. Worum es sonst noch geht, ist eine Glaubensfrage. Weite Teile des Romans sind so etwas wie eine fiktionalisierte Reportage. Maltzahn ist selbst schon acht Mal nach Lourdes gepilgert und hat manche der von ihr beschriebenen Szenen, besonders die Zusammenarbeit mit den Kindern, selbst erlebt, wie sie in einem Interview verriet: die Organisation des Pilgerzuges, Details der Ordenstracht und wie es ist, 30 Stunden in einem Zug voller pflegebedürftiger Kinder und spirituell bedürftiger Erwachsener durchs hochsommerliche Frankreich zu tuckern. Zivildienst trifft auf Klassenfahrt und Kirchentag.
Kassandra empfindet die Arbeit mit den Kindern als äußerst erbaulich und alle Männer, die ihre Schutzbefohlenen füttern und mit ihnen spielen, findet sie extrem attraktiv. Sie trifft Menschen, die Dinge sagen wie: „Der Prälat sucht den Erbprinzen.“ Unbedingt will sie wissen, was das für Leute sind, die hierherpilgern, wie anziehend diese Schwesterntrachten eigentlich genau auf Männer wirken und, zentrale Frage, ob man in Lourdes eigentlich Sex haben kann. Bei dem ganzen Unterfangen geht es um eine Herausforderung des Heiligen. „Nun reiht sich ein von weißen Neonlampen erhellter Shop neben dem anderen: blinkende Kreuze, Marias in allen Größen, Armbänder, Rosenkränze, versprochene Gnade auf kitschigen Ikonendrucken, Pizza- und Burgerwerbung aus bunten Röhren, ein 24/6 Supermarkt. Der Stimmungsumschwung ins Profane ist schockierend und gleichzeitig ziemlich geil, denkt Kassandra.“
In Lourdes, wie es in dem Roman beschrieben wird, vermischen sich Glaube, Liebe, Sex, Familienwünsche, Fürsorge, Rausch und eine mediterrane Urlaubsatmosphäre. Sehnsüchte werden hier nicht unbedingt ausgelebt, aber vielen der Pilger scheinen sie in dem Wallfahrtsort doch in greifbare Nähe gerückt zu sein.
Weil Heiligenerscheinungen und Flirts auf Pilgerfahrt nicht richtig zusammengehen, driftet auch der Text etwas auseinander, indem er sich mit Fußnoten selbst kommentiert. So findet eine strenge Pilgerin, Benedikta, Sex vor der Ehe ginge nur in wenigen Ausnahmefällen. „Aber nicht, wenn eine jedes Wochenende ’nen anderen Typen abschleppt.“ Fußnote: „Epiphanie der Eva.“ Man muss davon ausgehen, dass Kassandra solche Wochenenden hinter sich hat. Ob die biblische Eva das nicht auch gewollt hätte, statt nur mit dem ollen Adam abzuhängen? Es wirkt, als wolle der Text mit diesen Andeutungen noch einmal deutlich ironische Distanz zu sich selbst aufbauen. Weil der Umschwung ins Profane so geil ist. Nur vollzieht den gerade Kassandra nicht. Für sie ist der ganze Ausflug eine irgendwie bewegende, aber nie spirituelle Veranstaltung. Sie findet eine kleine Erfüllung in der Pflege der Kinder, sagt zu netten Männern nicht Nein, nimmt aber ansonsten an der Veranstaltung so ironisch teil wie Berliner Hipster, die angesoffen ein Trabrennen besuchen.
Kassandra scheint überzeugt zu sein, dass es zu jedem religiösen Erlebnis von der Ekstase bis zur Beichte eine weltliche Entsprechung gibt. Lourdes unterscheidet sich von einem freiwilligen sozialen Jahr und dem Besuch eines Technofestivals auf MDMA eigentlich nur dadurch, dass dort für sie beides zusammenkommt. Wie das sein kann und warum das eine solche Anziehungskraft ausübt, deutet der Roman nur an, indem er die Ironie und die Betonung des Kontrasts zum Profanen mit der Faszination für die Regeln und Rituale der Veranstaltung zusammenstellt. Richtig greift beides aber nicht ineinander. Möglicherweise soll dieser Roman damit subversiv sein. Dann untergräbt er sich aber auch selbst.
NICOLAS FREUND
Sophie von Maltzahn: Liebe in Lourdes. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 224 Seiten, 20 Euro.
Da kommt ein freiwilliges soziales
Jahr mit einem Technofestival
auf MDMA zusammen
Autorin Sophie von Maltzahn.
Foto: C. Saage
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»ein gut erzähltes Stück Lebensgefühl« Michael Hirz Kölner Stadt-Anzeiger 20190802